Band 1: Was ist Theosophie?
Charles J. Ryan
Reinkarnation
Die Reinkarnation ist eine sehr alte, über die ganze Welt verbreitete Lehre. Sie stellt im Rahmen des allgemeinen Gesetzes der Wiederverkörperung einen besonderen Fall dar. Dieses Gesetz betrifft nicht nur die menschlichen Wesen, sondern auch die Planeten, Sonnen und Universen.
Es ist noch nicht so lange her, daß Reinkarnation für die westliche Welt eine neue und fremdartige Vorstellung war, wenn sie auch in der östlichen Welt allgemein bekannt war. In der öffentlichen Presse wurde der Gedanke lächerlich gemacht und mit der irrigen Vorstellung der Transmigration ins Tierreich vermischt, was die Theosophie ablehnt. Die Theosophische Lehre besagt: „Einmal ein Mensch, immer ein Mensch“, bis ein noch höherer Zustand erreicht ist. Die Arbeit von H. P. Blavatsky hat das westliche Denken so stark verändert, daß die Reinkarnation bereits von unzähligen Menschen angenommen wurde, die erkannten, daß sie die einzige vernünftige Erklärung für die Rätsel des Lebens darstellt, insbesondere für die Ungleichheiten der Geburt und der Erziehung. Die Reinkarnation wird jetzt in der Literatur von allen fortgeschrittenen Denkern ernsthaft dargestellt; sie wurde zu einem beliebten Thema und kommt auch in Radio- und Fernsehsendungen zur Sprache.
Als H. P. Blavatsky dem Westen die Reinkarnationslehre brachte, gab sie uns eine neue Einstellung zum Leben, einen neuen Schlüssel zur göttlichen Natur des Menschen, eine verständliche Erklärung der Evolution. Die Reinkarnationslehre kann mit wenigen Worten so umrissen werden, daß der Mensch viele Male als ein menschliches Wesen auf Erden zu leben hat. Die Bedingungen jeder Inkarnation sind das natürliche Resultat der Ursachen, die in früheren Leben gelegt wurden. Zwischen den Verkörperungen erfreut sich die höhere Natur in einem subjektiven Zustand eines glückseligen Intervalls der Ruhe und des Friedens. Wenn die Evolution des Menschen auf diesem Globus bis zu ihren höchsten Grenzen fortgeschritten ist, wird er zu höheren Sphären weitergehen.
Diese konzentrierte Erklärung könnte ohne die klare Bezeichnung dessen, was mit „Mensch“ gemeint ist, irreführen. Es wurde bereits gesagt, daß der Mensch ein zusammengesetztes Wesen ist, in seinen höheren Elementen beständig, doch in seinen niedrigeren sterblich. Der höhere spirituelle Teil erschafft, wenn er inkarniert ist, sozusagen eine vorgetäuschte, zeitgebundene Persönlichkeit mit dem Empfinden „Ich bin ich“.
In dieser ‘Persönlichkeit’ leben wir gewöhnlich, obgleich Funken des höheren unsterblichen Bewußtseins, welche unsere hohe Abstammung bezeugen, den Schleier durchdringen, je nachdem, wie wir geistig fortschreiten.
Es ist nicht ganz richtig zu sagen, daß die gegenwärtige Persönlichkeit, das Alltagsbewußtsein des Selbst, früher gelebt hat oder wieder leben wird. Die Natur ist zu weise, zu barmherzig, um uns zu gestatten, diese Persönlichkeit mit ihren Begrenzungen, ihren Schwächen und vor allem mit den unglücklichen Erinnerungen, für immer mit uns herumzuschleppen. Glücklicherweise verändern wir uns ständig, wir wachsen und lernen. Das Wort „Persönlichkeit“ (von persona, Maske) beschreibt das vorübergehende Instrument gut, welches vom Höheren Selbst hervorgebracht wurde, um Erfahrungen in dieser Welt zu sammeln. Aber die Persönlichkeit wird nicht unbedingt vernichtet. Während sie kämpft und leidet und sich reinigt, bekommt sie immer mehr Licht von oben und nähert sich dem Bild des ‘Vaters’ an. Selbst wenn die Persönlichkeit irgendeines Lebens weit davon entfernt ist, rein zu sein, sind ihre edleren Eigenschaften und Erinnerungen nie verloren, sondern sie werden beim Tod in das Innere des wahren Menschen eingezogen. Was stirbt, ist das, was nicht wert ist, erhalten zu werden.
Viele akzeptieren den Gedanken an ein zukünftiges Weiterbestehen der Seele, wenn jedoch im Menschen wirklich ein unsterblicher Teil existiert, kann man sich fragen, ob diese Unsterblichkeit (oder Unendlichkeit – was dem entspricht) sich nur in eine Richtung erstreckt. Kann Unsterblichkeit einen Anfang haben? Diese Frage kann nur auf der Grundlage einer Präexistenz beantwortet werden, und das führt zu dem Gedanken, daß wenn die Seele von einem mehr ätherischen Zustand in dieses physische Leben herabstieg, sie dies auch zu einem früheren Zeitpunkt getan haben kann, dem universalen Wissen der Periodizität oder der zyklischen Evolution Gehör schenkend.
Das menschliche Leben ist ein kontinuierlicher Prozeß, und die Periode zwischen den Inkarnationen, wenn die Seele in weniger stoffliche Verhältnisse zurückkehrt, kann mit der uns so vertrauten Unterbrechung des Schlafes verglichen werden. Die Reinkarnation in einer körperlichen Form ist nur ein besonderes Beispiel des universellen, kosmischen Prinzips der Periodizität oder des zyklischen Wissens, welches überall wirksam ist und worauf der früher erwähnte zweite Grundsatz der Alten Weisheitslehre hinweist.
Uns allen sind die Kreisläufe von Tag und Nacht, von Wachen und Schlafen, vom Wechsel der Jahreszeiten und ihrer Wirkungen vertraut; der Aufstieg und Fall von Nationen; die Schwankungen des Marktes; die Mondphasen; die größeren astronomischen Zyklen und viele andere im Menschen-, Tier- und Pflanzenleben. Der Mensch als Seele ist keine Ausnahme von dem großen Gesetz, und sein Voranschreiten durch Inkarnationen auf Erden, das mit den Ruhepausen auf spirituellen Ebenen abwechselt, ist nur ein Teil der größeren und erhabeneren Kreisläufe.
Wenn der physische Körper abgenutzt ist, wenn seine Partikel eine Zeitlang zerstreut sind und der höhere Teil der gereinigten Persönlichkeit in das Wahre Selbst zurückgezogen ist, dann ist die Verbindung des menschlichen Ego zur Erde keineswegs gelöst. Es ist für die Vergangenheit verantwortlich, es hat viele unvollendete Aufgaben zurückgelassen, und es hat noch nicht einmal einen Bruchteil der in einer verkörperten geistigen Wesenheit schlummernden göttlichen Möglichkeiten verwirklicht. Die Menschheit als eine Rasse befindet sich noch – mit sehr wenigen Ausnahmen – in ihrer Kindheit und wird in diesem Zustand bleiben, bis ihre wirkliche Göttlichkeit in ihrer Fülle offenbart wird. Die menschliche Persönlichkeit, wie wir sie heute kennen – die Maske des eigentlichen Menschen –, ist nur ein dürftiges Abbild des herrlichen Wesens, das er einst sein wird. Reinkarnation ist die einzig mögliche Methode für eine solche Evolution.
Aber nach dem „unsteten Fieber des Lebens“ sind Ruhe und Erholung notwendig; und das reinkarnierende Ego wird in Kāma-Loka, der Welt des Verlangens, gereinigt, indem alle niederen Elemente abgeworfen werden. Befreit von allem, was es durch Anziehung an die Erde bindet, durchschreitet es den ‘zweiten Tod’ und geht in die Ruhe und Glückseligkeit von Devachan ein. Die Leidenschaften, Fehler und die leidvollen Erinnerungen vergehen mit dem Körper. In diesem Zustand des hohen spirituellen Bewußtseins bleibt es annähernd hundertmal so lange, wie die letzte Verkörperung dauerte, in Abhängigkeit vom Charakter des Individuums. Dann beginnt in Übereinstimmung mit dem zyklischen Gesetz eine neue Inkarnation. Wir bekommen eine „neue Gelegenheit“, um die Vergangenheit auszugleichen, bis wir unsere Lektion der spirituellen Erkenntnis gelernt haben.
Wir können vor den Verantwortlichkeiten dieses Lebens nicht in einen ewigen Himmel der Glückseligkeit entfliehen, sondern müssen unsere Aufgabe in einer erneuten Existenz auf der Erde zu Ende führen. Jedesmal bekommen wir erneut die Gelegenheit, für das Wohl der großen menschlichen Familie zu arbeiten, zu welcher auch wir gehören. Sobald ein gewisses hohes Stadium spiritueller Entwicklung erreicht ist, erübrigt sich die Inkarnation auf der Erde; dann erwartet uns der unaussprechliche Segen Nirvānas (nir aus, vāna geblasen); die Seele wird frei, und Inkarnation wird dann zu einer Frage der freiwilligen Entscheidung. Man kann sich nichts Edleres vorstellen, als freiwillig auf Nirvāna zu verzichten, um zurückzukehren und der Menschheit auf ihrem mühevollen Weg zu helfen. Das ist das Ideal der vollkommenen Liebe, welches einzelne der würdigsten, erhabensten Seelen, welche die Erde kannte, erreichten.