Die sechs glorreichen Tugenden – II

Frage – Könnten wir mit der vierten Pāramitā beginnen, die Sie als ‘Gleichmut gegenüber Freude und Schmerz’ bezeichneten? Ich habe viel darüber nachgedacht, aber ich kann darin, gleichmütig zu werden, keine Logik sehen. Gewiss, wenn wir alle Einsiedler sein wollen, dann ist das ein Gesichtspunkt, ich habe jedoch immer empfunden, dass wir allen Dingen aufgeschlossen gegenüberstehen sollten, wenn wir die Probleme unserer Mitmenschen verstehen wollen. Warum sollte man der Freude oder dem Schmerz entfliehen?

Stellungnahme – Wir wollen unseren Verpflichtungen bestimmt nicht entfliehen, indem wir Einsiedler werden und für uns selbst nach einer schnellen Erlösung suchen. Das liegt weit ab vom Ziel des echten Aspiranten. Tatsächlich sollten wir vor nichts zu fliehen suchen, am wenigsten vor den Problemen, die Freude und Schmerz bereiten. Das wäre schlicht und einfach eine Wirklichkeitsflucht – und zwar höchst selbstsüchtiger Art. Selbst wenn uns das eine Zeit lang gelingen würde, könnten wir dennoch nicht für sehr lange entfliehen, denn die ‘Gegensatzpaare’ – Hitze und Kälte, Tag und Nacht, Freude und Schmerz oder Norden und Süden – sind der Natur eigen.

Ich möchte die ganze Definition dieser vierten Tugend vorlesen: Leidenschaftslosigkeit – „Gleichmut gegenüber Freude und Schmerz, besiegte Illusion, nur noch Wahrheit wird wahrgenommen“ (Die Stimme der Stille, S. 67). Wenn wir die Dinge sehen, wie sie wirklich sind, nicht wie sie uns erscheinen, kann die Realität einer Situation erkannt werden.

Frage – Können Sie das Wort Leidenschaftslosigkeit definieren? Es erscheint hier wichtig, die grundlegende Bedeutung zu erfassen.

Stellungnahme – Lassen Sie uns im Wörterbuch nachsehen: „Leidenschaftslosigkeit – Freisein von Leidenschaft; leidenschaftslos – frei von Leidenschaft, nicht unbeherrscht; gelassen; unparteiisch; Synonyme: kühl, gefasst, klar, unbewegt.“ Nach meiner Ansicht eine ausgezeichnete Definition. Wir können also sagen, dass Leidenschaftslosigkeit die Eigenschaft ist, jede Situation oder Lebenslage unparteiisch und deshalb mit klarem Blick zu erfassen, weil die aus Hochstimmung oder aus Niedergeschlagenheit stammenden Wolken der Leidenschaft oder der Illusion zerstreut werden.

Daher befürwortet diese vierte Tugend nicht die Flucht vor den Gegensatzpaaren, sondern vielmehr die Ausübung ruhigen Gleichmuts gegen die Wirkungen, die uns aus Freude oder aus Schmerz stammend treffen, so dass wir allen Extremen, die das Leben für uns bereithält, mit Gleichmut begegnen können.

Frage – Wäre das Dasein nicht ziemlich langweilig, wenn wir die Extreme nie kennenlernen? Wie ergeht es einem höchst empfindsamen Menschen? Heute schwebt er in Wolken der Begeisterung, morgen ist er zu Tode betrübt. Dafür lebt er aber und führt nicht nur ein langweiliges, freud- und schmerzloses Leben.

Stellungnahme – Ich kann Ihnen versichern, dass an dem Versuch, diese besondere Tugend in die Praxis umzusetzen, nichts Langweiliges ist. Ein kluger Kopf sagte dazu: Es sieht vielleicht wie ein Kinderspiel aus, doch erfordert es einen starken Menschen, um es auszuführen. Versuchen Sie mal nur eine Woche lang von morgens bis abends jedem Geschehnis mit Gleichmut zu begegnen und sehen Sie zu, ob es nicht großer moralischer Stärke bedarf, die Anstrengung durchzuhalten. Sicherlich gibt es auf allen Lebenswegen Menschen, die so unempfindlich sind, dass sie gar nichts empfinden, und, was noch schlimmer ist, dass sie sich keinen Deut um das Leid anderer scheren. Zum Glück bilden sie eine Minderheit. Natürlich ist es nicht unsere Aufgabe, die innere Empfindsamkeit eines anderen zu beurteilen, wie roh oder anscheinend unsensibel seine Persönlichkeit auch erscheinen mag.

Andererseits gibt es jene Individuen und auch Genies, die alles mit intensiver Heftigkeit empfinden. Ich befürworte zwar nicht die von vielen Genies geübte ungeregelte Lebensweise, aber die Welt würde viel verlieren, hätten nicht einige jene Augenblicke reinen Schauens erlebt und auf ihre Weise eine Erinnerung an die ‘klar geschaute Wahrheit’ zurückgebracht. Das Genie ist jedoch eine Kategorie für sich und es ist sehr fraglich, ob dieser Weg für die Mehrzahl der Menschen geeignet und natürlich wäre. Die meisten sind Durchschnittsmenschen – weder verworfen noch genial – sie suchen in ihren besseren Augenblicken nach der ‘goldenen Mitte’ oder wie Buddha sagte den ‘mittleren Weg’, auf dem das spirituelle Wachstum mit der materiellen Entwicklung einhergeht, wenn es nicht sogar vorauseilt. Leidenschaftslos sein heißt also frei sein von der Vorherrschaft einer besonderen Begierde. Offensichtlich muss eine solche Gleichmütigkeit oder Leidenschaftslosigkeit zuerst und vor allem uns selbst betreffen, denn es widerspräche dem mitfühlenden Gesetz des Seins, wenn wir für den Schmerz anderer gefühllose Gleichgültigkeit empfänden.

Frage – Diese besondere Tugend macht mir wohl am meisten zu schaffen, denn ich hielte mich für tot, wenn ich keine vorherrschenden Wünsche hätte.

Stellungnahme – Das Streben nach „Gleichmut gegenüber Freude und Schmerz“ bedeutet doch nicht, dass man keine Wünsche haben soll! Es heißt einfach, dass wir versuchen müssen, im Mittelpunkt jeder Erfahrung zu leben, statt am Pendel des Lebens so weit auszuschwingen, dass wir unseren Kopf (und auch das Herz) erst auf der einen Seite anschlagen und dann heftig auf die andere zurückprallen. Wir werden hier zu einer Lebensführung und Arbeitsweise aufgefordert, bei der wir versuchen sollen, den Wirkungen von Freude und Schmerz, von Schönheit oder Hässlichkeit oder einem anderen Gegensatzpaar nicht zu erliegen. Nach meiner Ansicht ist das der Schlüssel des Ganzen. Sicher müssen wir Wünsche haben – sie sind das Kraftwerk der Evolution. Es steht ein alter Ausspruch in den Veden: „Zuerst entstand im ES der Wunsch – und die Welt trat ins Dasein“, der göttliche Same einer künftigen Welt musste zuerst die pulsierende Flamme des Verlangens nach Manifestation fühlen, ehe er materielle Gestalt annehmen konnte. So ist es bei jedem einzelnen von uns: Wir müssen den Wunsch nach Wachstum, nach Evolution verspüren, sonst sind wir träge. Die Götter wissen nur zu gut, dass träge Menschen in spirituellen Dingen (und selbst in materiellen) nie etwas Besonderes leisten werden.

Frage – Spricht nicht die Bibel von dem Herrn, der die Lauen aus seinem Mund ausspeit?

Stellungnahme – Ich glaube in der Offenbarung (3, 16). Nein in der Ausübung dieser Pāramitā liegt nichts Kraftloses oder Lauwarmes.

Frage – Ich erhielt kürzlich einen Brief von einer Freundin, die sich als private Krankenpflegerin betätigt. Sie schrieb: „Wie traurig ist das Leben“ – sie hat ihr Äußerstes getan und doch ist ihr Patient, den sie sehr lieb gewonnen habe, gestorben. Und so ginge es weiter; sie schrieb: „Ein Patient nach dem anderen, manche erholen sich gut, andere schleppen sich elend durchs Leben, und wieder andere ‘schaffen es nicht’ und sterben.“ Die Erfassung der Prinzipien erscheint leicht, wenn wir hier darüber sprechen, wenn man sie aber tagaus, tagein unter ziemlich belastenden Umständen anwenden soll, kommt eine andere Reihe von Werten ins Spiel.

Stellungnahme – Das zeigt den feinen Unterschied zwischen bloßer Theorie und wirklicher Praxis. Es wäre der Gipfel der Heuchelei, wenn wir den Schmerz und das Glück anderer nicht mitempfinden würden. Wir müssen im gleichen Verhältnis für die Freude und den Schmerz anderer immer empfindsamer werden, wie wir gegen unsere eigenen unempfindlich werden. Das ist die erste Voraussetzung.

Doch wir wollen zu der Krankenpflegerin oder besser noch zu dem Arzt oder Chirurgen zurückkehren. Er behandelt einen Patienten nach dem anderen. Durch Selbstzucht und unpersönliche Hingabe an seinen Beruf übt er tatsächlich mehr oder weniger diese vierte Tugend: Wenn er nicht ein gewisses Maß von Gleichmut, von ‘göttlicher Sorglosigkeit’ hätte sowie die Zuversicht, dass er nicht mehr tun kann als das ihm Mögliche – würde er zusammenbrechen. Er könnte die schreckliche Anspannung nicht ertragen. Bei aller gebührenden Achtung vor seinem Talent, seinem Wissen und seiner Geschicklichkeit ist da ‘die Hand Gottes’, oder wenn Sie wollen, Karma – und der Patient schafft es oder er schafft es nicht.

Jeder Arzt legt einen Eid ab und verpflichtet sich, das Leben zu erhalten und die Gesundheit wiederherzustellen, wo Krankheit herrscht, soweit es seine Fähigkeiten und seine Kenntnisse erlauben. Es besteht meiner Ansicht nach kein Zweifel daran, dass es dem operierenden Chirurgen viel Kummer bereitet, wenn etwas Unvorhergesehenes eintritt und der Patient stirbt statt zu genesen. Was macht er dann? Er mag schmerzlich berührt sein – aber er muss weitermachen. Andere Leben sind zu retten, andere Männer und Frauen, deren Glück und Zukunft von seiner Geschicklichkeit, seiner Hingabe, seiner unpersönlichen Hilfe abhängen. So widmet er sich mit einem göttlichen ‘Gleichmut’ gegen die Wirkungen von Freude und Schmerz ganz dem nächsten Patienten – ohne zu sehr an dem Erfolg oder Fehlschlag seiner Bemühungen zu hängen.

Frage – Sie sprechen von dem idealen Arzt, denn nicht alle sind so unpersönlich oder so hingebungsvoll, wie der von Ihnen Beschriebene.

Stellungnahme – Selbstverständlich gibt es in jedem Beruf, in jeder religiösen Organisation, in jedem menschlichen Wirkungsbereich edle Repräsentanten, wie auch selbstsüchtige, gefühllose oder sogar grausame Vertreter. Aber das beeinflusst nicht das Prinzip. Wir können, ganz gleich auf welchem Gebiet wir tätig sind, positiv, unpersönlich und für die inneren Werte aufgeschlossen handeln, soweit wir sie empfinden. Wenn wir das tun, entdecken wir den Segen, der sich aus der Übertragung dieser Pāramitās in die Praxis ergibt.

Frage – Es sieht alles sehr schön aus, aber ist die Bewältigung der komplizierten Probleme des Alltagsdaseins mit Gleichmut nicht eine schier unlösbare Aufgabe?

Stellungnahme – Es ist nicht leicht, keineswegs. Aber es wird nicht verlangt, dass wir über Nacht ‘gleichmütig wie der Weise’ werden. Die Pāramitās werden als ein Ideal gesehen, als etwas, das wir im Herzen bewahren, das wir anstreben sollen. Ich möchte jedoch hinzufügen, dass es bestimmte grundlegende Schlüssel gibt, deren Kenntnis nicht nur einen Überblick, sondern auch ein größeres Selbstvertrauen vermitteln. Wir haben hier immer und immer wieder von dem göttlichen Wesen gesprochen, das im Herzen aller irdischen Geschöpfe wohnt. Wir vergessen gar zu leicht, dass auch der Mensch dazu zählt. Sobald wir mit dieser Idee arbeiten, erkennen wir sehr bald, dass ein endloser Horizont der Erfahrung vor uns liegen muss, wie auch ein unendlicher Raum der Lebenserfahrung hinter uns liegt. Die alte Anschauung, dass der Mensch ein ewiger Pilger ist, der in einer Reihe von Lebenszeiten Gelegenheit zur Entwicklung und zum Lernen hat, öffnet weit die Grenzen unseres Bewusstseins. Und es kommt die Erkenntnis, dass uns in jeder Stunde des Tages die beste Vorbereitung der Welt geboten wird, denn nur das begegnet uns, was wir selbst verdient haben. Wenn wir die tägliche Lektion, die uns das Leben bringt, zu lesen lernen, werden wir uns vor Gelegenheiten gestellt finden, die uns alle Tugenden preisen lässt – nicht nur die vierte.

Die fünfte Pāramitā nun wird Unerschrockenheit genannt – jene „unerschrockene Energie, die sich ihren Weg aus dem Schlamm der irdischen Lügen zur überirdischen WAHRHEIT erkämpft“ (Die Stimme der Stille, S. 67). Das deutet auf den ewigen Kampf zwischen Licht und Finsternis, zwischen Wahrheit und Unwahrheit hin. Die Wahrheit existiert, um sie aber zu finden, bedarf die Seele aller Kräfte, die sie aufbringen kann, um sich aus dem Dschungel der falschen Begriffe zu befreien, der sich im Lauf der Zeitalter gebildet hat. Wenn sie den feinen Masken der Täuschung und dem zersetzenden Einfluss des Zweifels auf jeder Erfahrungsebene widerstehen kann, wird sie die Wahrheit wissen – nicht im Ganzen, aber mit immer größerer Klarheit.

Die sechste Tugend heißt Kontemplation – Tor zur Wahrheit – so von ihrer Atmosphäre durchdrungen werden, dass das Bewusstsein mehr über die ewigen Werte nachdenkt als über unbedeutende Einzelheiten. Zwischen der echten Kontemplation und den sogenannten ‘Meditationspraktiken’, von denen viele eine reale Gefahr für die Seele sind, liegt eine Welt von Unterschieden. Wenn ich gefragt werde: „Wie soll ich meditieren?“, lautet meine Antwort stets: „An Ihrer Stelle würde ich alle planmäßigen Meditationen unterlassen.“ Die spirituelle Entwicklung wird durch alles unnatürlich Erzwungene eher behindert als gefördert. Ich stelle mir unter Kontemplation mehr ein innerliches, fast unbewusstes Nachdenken vor, wobei unsere Seelenkomponente auf den Vater im Innern gerichtet ist, so dass unser Bewusstsein von echten statt von falschen Werten geleitet wird.

Das sind in Kürze die ‘sechs glorreichen Tugenden’ oder die ‘Pāramitās der Vollkommenheit’ – ihre Ausübung führt zwar nicht zur Vollkommenheit, denn die gibt es nicht. Aber die Tugenden können uns, wenn wir ihren Geist zu einem Teil unseres Lebens machen, zu einem breiteren und universaleren Verständnis verhelfen.

Frage – Sie sagten, manchmal würden zehn aufgeführt. Ich kann nicht einsehen, warum so viele notwendig sind oder warum eine weitere Aufschlüsselung nötig ist. Ich glaube, jeder könnte eine Liste mit sechs, zehn oder auch dreißig Tugenden aufstellen. Wenn man aber die Kerngedanken erfasst hat, haben wir doch ein genügend großes Betätigungsfeld. Erzeugt der Wunsch nach Information nicht gewöhnlich das Verlangen nach immer mehr und mehr Fakten, so dass er immer größer wird? Man fragt sich manchmal, ob man je zufrieden sein wird, ehe man nicht der letzten Antwort direkt gegenübersteht? Ist das nicht in sich eine Art Selbstsucht?

Stellungnahme – Der Wunsch nach immer größerem Wissen, das in keiner Beziehung zur Ethik steht, erzeugt tatsächlich eine Art Selbstsucht. Es ist jedoch eine natürliche Entwicklungsstufe, dass wir, sobald wir ein bestimmtes Maß intellektueller Fähigkeit erreicht haben, immer mehr und mehr Beweise in exakter und wohlgeordneter Form vorgelegt haben wollen. Wie schon gesagt werden uns jedoch diese Beweise keineswegs helfen, ehe wir nicht die zugrunde liegenden spirituellen Werte erfassen und diesen gestatten unser Verlangen nach intellektueller Macht unter strenger Kontrolle zu halten.

In Beantwortung der Frage, wie echte Barmherzigkeit ausgeübt werden sollte, möchte ich mit folgenden Gedanken schließen, die einer buddhistischen Schrift entstammen:

Wenn sie [die Schüler oder Jünger] barmherzige Handlungen ausführen, sollen sie keinen Wunsch nach Belohnung, Dankbarkeit, Verdienst oder Vorteil oder nach einem sonstigen irdischen Lohn hegen. Sie sollten trachten, das Denkvermögen auf universelle Wohltaten und Segnungen zu richten, die für alle gleich sind, und indem sie das tun, verwirklichen sie in sich die höchste, vollkommene Weisheit.

Ich glaube, dass diese wenigen Worte die Frage nach dem echten Wert jeglichen ethischen Kodex beantworten – ganz gleich welchen wir zur Befolgung wählen.