III - Der Raum und die Lehre von Māyā 

Die Leere und die Fülle

„Was ist das, das immer ist?“ „Raum, das ewige Aupapaduka (Elternlose).“ „Was ist das, das immer war?“ „Der Keim in der Wurzel.“ „Was ist das, das immer kommt und geht?“ „Der Große Atem.“ „Dann gibt es drei Ewige?“ – „Nein, die drei sind eins. Das, das immer ist, ist eins; das, das immer war, ist eins; das, das immer seiend und werdend ist, ist auch eins: Und dieses ist der Raum.“

Die Geheimlehre, Bd. I, S. 11

Von all den wahrhaft wunderbaren Lehren der alten Weisheit, auch esoterische Philosophie oder Theosophie genannt, ist vielleicht keine so überreich an anregenden Gedanken wie die Lehre vom Raum. In einem seiner Aspekte wird der Raum Śūnyatā genannt, ein tiefgründiges Wort aus den mystischeren Lehren von Gautama, dem Buddha. Es bedeutet Leerheit oder die Leere. In einem anderen Aspekt ist der Raum Pleroma, ein Begriff aus dem Griechischen, der von den Gnostikern häufig verwendet wurde und Fülle bedeutet.

Die heutigen Astronomen sprechen oft vom leeren Raum, und obgleich das auf den ersten Blick mit Śūnyatā identisch zu sein scheint, sind wir nicht dieser Meinung, wenn mit leerem Raum absolutes Vakuum gemeint ist – etwas, was es nicht gibt. Das Bemerkenswerte daran ist, dass selbst die Wissenschaftler, wenn sie durch eindringliche Fragen in die Enge getrieben werden, zugestehen, dass diese Formulierung lediglich die Teile des Raumes oder der kosmischen Regionen umfasst, die keine „Materie“ enthalten, d. h. keine physische Materie, die sie mit ihren Instrumenten erkennen oder sehen können.

Untersuchen wir den sich grenzenlos ausdehnenden, uns umgebenden Raum, so gut es unsere Sicht und unsere Vorstellungskraft gestatten, dann sehen wir Gebiete von anscheinend kosmischer Leere, durchsetzt mit funkelnden Sternen und mit Abermillionen schwach leuchtenden Nebel­flecken, die unter dem Auflösungsvermögen des Teleskops als Universen mit weiteren Sternen und Sternhaufen zu sehen sind – oder auch wieder als riesige Körper kosmischen Gases zu erkennen sind. Jene Körper bestehen jedoch in keinem einzigen Fall wirklich aus Gas, was uns im Moment aber nicht zu stören braucht. Es soll nur erwähnt werden, dass viele, wenn nicht alle dieser unauflösbaren Nebel den ultra-physischen Ebenen der Materie an­gehören, die bislang aber noch in keinem Laboratorium untersucht worden sind. Anders ausgedrückt: Sie setzen sich aus etherischer Materie einer höheren Ebene als unsere physische Ebene zusammen.

Wohin wir auch blicken, erkennen wir, dass das Universum von einer ungeheuren Fülle ist. Fügen wir dem noch unser Wissen hinzu von der Struktur der Materie, die aus Molekülen und Atomen besteht (und diese wiederum aus Elektronen, Protonen und weiteren Teilchen), dann erkennen wir, dass das, was uns als leerer Raum erscheint, in Wirklichkeit weite Bereiche kosmischen Äthers sein müssen, die wegen ihrer Feinheit weder mit dem Seh- oder Tastsinn noch mit unseren empfindlichsten Instrumenten experimentell festgestellt werden können. Diese weiten Gebiete mit den funkelnden Himmelskörpern sind jedoch alle in der unteren kosmischen Ebene, die wir als physisches oder materielles Universum kennen, enthalten. Darüber hinaus erkennen wir, dass die physische Sphäre lediglich das äußere Gewand bildet, das unermesslich riesige, innere oder unsichtbare Welten verhüllt. Diese erstrecken sich vom Physischen aufwärts in sich uns immer wieder entziehende Perspektiven des kosmischen Geistes, den wir, weil er für uns keine Form besitzt, die spirituelle Leere, Śūnyatā, nennen. Nicht nur Śūnyatā bedeutet so viel wie die höchsten und universalen Bereiche der grenzenlosen Unendlichkeit, Pleroma bedeutet es ebenfalls. Alles hängt von unserem Blickwinkel ab.

Die Lehre von der Leere ist daher als Grundvorstellung mit der Lehre von der Fülle identisch. Ein Unterschied liegt nur darin, dass die Lehre von der Leere die spirituellere von beiden ist, da sie in erster Linie von den höheren Elementprinzipien des Kosmos1, den inneren und noch weiter innen liegenden Räumen des Raumes handelt. Die Lehre von der Fülle handelt dagegen von den manifestierten Kosmen oder Welten. Die Fülle der Dinge begreifen wir leichter als den tiefen mystischen Gedanken, dass die zahllosen Manifestationen des kosmischen Seins aus der grenzenlosen Leere hervor­gehen und dass sie wieder dorthin zurückkehren und verschwinden, wenn ihr Lebenszyklus vorüber ist.

Mit anderen Worten, die Leere steht mit dem göttlich-spirituellen Aspekt des Seins in Zusammenhang, während die Fülle, das Pleroma2, sich auf Prakṛiti oder auf die materielle Seite, auf die Seite der Manifestation bezieht, die wie ein Traum verschwindet, wenn das große Manvantara, die Periode der Aktivität, für die Welt endet.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass kein einziges manifestiertes Wesen oder Ding ewig ist, gerade deshalb, weil es als Phänomen zeitlich existiert. Es ist demzufolge Māyā oder Illusion; und deshalb wäre es töricht, in der­artigen Phänomenen die kosmische Realität zu suchen. Was auch immer in den Räumen des Grenzenlosen erscheint, sei es eine Ansammlung von Galaxien oder ein Atom, oder was sonst noch zum Objekt oder zur Form wird, das ist ungeachtet seiner Lebensdauer dennoch eine Erscheinung, ein Phänomen, und ist deshalb de facto leer im Sinne von nicht real; es ist somit das genaue Gegenteil der vorher beschriebenen Leere. Dieser entgegengesetzte Sinn ist jedoch in der metaphysischen Philosophie vollkommen berechtigt. Daraus ist ersichtlich, warum der esoterische Buddhismus vom gesamten manifestierten Universum immer als Śūnyatā spricht: weil es nicht real, nicht dauerhaft und deshalb zeitlich und vergänglich ist. In dem Śūrangama Sūtra3 (IV, 65) finden wir diese Stelle:

Deshalb musst du bei dieser Frage klar verstehen, dass alle weltlichen Formen, die in die aus Phänomenen zusammengesetzte Welt eintreten, vergänglich und auflösbar sind. Ananda! Welche dieser tönernen Formen, die du siehst, ist denn nicht zerstörbar? Alle sind dazu bestimmt, in Flammen aufzugehen. Doch nach ihrer Zerstörung gibt es etwas, was nicht zugrunde gehen kann, und das ist die Leere des Raumes.

Trotzdem sind es diese riesigen Ansammlungen von Welten, die das Pleroma oder die Fülle des manifestierten Raumes ausmachen. Die Schwierigkeit liegt in der zweifachen Verwendung dieser beiden Begriffe Śūnyatā und Pleroma. Doch ist dies leicht zu verstehen, wenn man den Grundgedanken erfasst hat, den H. P. Blavatsky folgendermaßen ausdrückt:

Raum ist weder eine „grenzenlose Leere“ noch eine „bedingte Fülle“, sondern beides: Auf der Ebene der absoluten Abstraktion ist er die ewig-unerkennbare Gottheit, leer nur für das endliche Gemüt, und auf der Ebene mayavischer Wahrnehmung der angefüllte Raum, der absolute Behälter all dessen, was ist, ob manifestiert oder unmanifestiert: Er ist daher dieses absolute All.

Die Geheimlehre, Bd. I, S. 8

Das Wort Śūnyatā kann deshalb in zwei verschiedenen, aber verwandten Bedeutungen verwendet werden. Im positiven Sinne bezeichnet es das grenzenlose All, den Raum in seinem höchsten und abstraktesten Sinn, und schließt sowohl endlose, grenzenlose Unendlichkeit ohne irgendwelche Einschränkung als auch allumfassende, endlose Fülle des Alls ein. Śūnyatā ist aus der Sicht der göttlich-spirituellen Ebenen das Universum mit allem, was es enthält. Den Intelligenzen der unteren Ebenen erscheint es als die große Leere, die Mahā-Śūnya.4

Im negativen Sinn bezeichnet Śūnyatā die Idee der kosmischen Illusion, der Mahā-Māyā. Aus der Sicht des göttlich-spirituellen Bewusstseins ist das gesamte objektive, sichtbare oder unsichtbare Universum unwirklich und illusionär, weil es so unbeständig ist. Es ist leer im Sinne von flüchtig. Nicht, dass das manifestierte Universum nicht existieren würde; es existiert, sonst könnte es keine Illusion hervorrufen, aber es ist nicht das, was es zu sein scheint. In diesem Sinne basieren sowohl die positive als auch die negative Form der Śūnyatā auf der gleichen Grundvorstellung, nämlich: der Wirklichkeit des Göttlich-Spirituellen und der relativen Unwirklichkeit von allem Objektiven. Der manifestierte Kosmos ist relativ irreführend, täuschend und hat keine wesentliche Bedeutung, verglichen mit dem Wirklichen, das er wie mit einem Schleier verdeckt. Er besitzt lediglich eine relative Realität, die sich aus der noumenalen [nur mit dem Geist erkennbaren] Wurzel herleitet, von der dieses objektive Universum den phänomenalen Aspekt bildet.

Um nochmals das Śūrangama Sūtra (V, 8) zu zitieren:

Die reine Natur ist, was ihr substanzielles Sein anbetrifft, leer; deshalb gleichen die Einflüsse, die die Geburt hervorrufen, einer magischen Täuschung. Das Nichtvorhandensein von Aktion und das Nichtvorhandensein von Anfang und Ende – das sind ebenfalls falsche Vorstellungen wie eine Fata Morgana. Das Wort „falsch“ erzeugt (offenbar) nur das, was echt ist. Falsch und echt sind beide in gleicher Weise falsch. … Sind nicht alle uns um­gebenden Dinge nur Blasen?

Das Grenzenlose, die Unendlichkeit des umschließenden Raumes, liegt offensichtlich jenseits jeglicher menschlichen Vorstellung, da der Raum sowohl formlos als auch ohne beschränkende Grenzen ist; und doch ist er der kos­mische Schoß aller Universen, die aus ihm wie „Funken der Ewigkeit“ erscheinen. Daher haben ihn die Mystiker der verschiedenen Epochen und aller Länder die Leere genannt.

Das war tatsächlich die ursprüngliche und wirklich erhabene Vorstellung, die von den frühen christlichen theologischen Denkern aufgegriffen und „Nichts“ genannt wurde, wodurch sie dieses Konzept in seiner ursprünglichen Herrlichkeit nicht nur entstellten, sondern definitiv zerstörten. Seit jener Zeit bis auf den heutigen Tag lässt die orthodoxe Theologie Gott den Allmächtigen die Welt aus dem Nichts erschaffen, was absurd ist. Hätten sie diese präkosmische Vollständigkeit als etwas Nichtstoffliches verstanden, so hätten sie auch die korrekte Idee bewahrt. Doch sie reduzierten sie auf ein Nichts, sie bewahrten die verbale Form und verloren den Geist.

Im Laufe der Zeitalter hat der Mensch mit seinem unerleuchteten Verstand die Intuitionen seines Geistes abgeschwächt und das Objektive und Illusionäre mit dem Realen verwechselt – und was seinem moralischen und spirituellen Wohl noch abträglicher ist: Er hat den strebenden Intellekt von seiner Wurzel im Grenzenlosen getrennt.

Wir sollten nicht vergessen, dass wir Sprösslinge des Grenzenlosen sind und, von der treibenden Kraft unseres Geistes gedrängt, durch innere Kämpfe und Prüfungen vorwärtsschreiten – und dass wir uns immer auf die höchste Vollendung unseres spirituellen Selbst durch jenes grenzenlose Wunder, das unser Innerstes ist, hinbewegen. Doch, erstaunlichstes aller Paradoxa, dieses Wunder ist auf ewig unerreichbar, denn es ist der grenzenlose Raum und die nie endende Dauer.

Das Grenzenlose in den alten Kosmogonien

Nirgends und bei keinem Volk wurde der Spekulation erlaubt, über diese geoffenbarten Götter hinaus zu gehen. Die schrankenlose und unendliche Einheit blieb für alle Nationen ein jungfräulicher, verbotener Boden, von den Gedanken des Menschen nicht betreten, von fruchtloser Spekulation unberührt. Die einzige Bezugnahme auf sie lag in der kurzgefassten Vorstellung von ihrer diastolischen und systolischen Eigenschaft, von ihrer periodi­schen Ausdehnung oder Erweiterung und Zusammenziehung. In dem Universum mit allen seinen unzähligen Myriaden von Systemen und Welten, die in Ewigkeit verschwinden und wieder erscheinen, mussten die anthropomorphisierten Kräfte oder Götter, ihre Seelen zusammen mit ihren Körpern, aus dem Blickfeld verschwinden. „Der Atem, der zurückkehrt in den ewigen Schoß, der sie ausatmet und einatmet“, sagt unser Katechismus. …

In jeder Kosmogonie steht hinter der schöpferischen Gottheit und über ihr eine höhere Gottheit, ein Planer, ein Baumeister, dessen Schöpfer lediglich ein ausführender Agent ist. Und noch höher, darüber und rundherum, innen und außen, ist das Unerkennbare und das Unbekannte, die Quelle und Ursache all dieser Emanationen.

Die Geheimlehre, Bd. II, S. 46–7

In den Schriften der Antike sind dem Schoß des Seins viele Namen verliehen worden, dem Schoß, aus dem alles entspringt, in dem für immer alles enthalten ist und in dessen spirituelle und göttliche Reiche schließlich alles, sei es eine unendlich kleine Wesenheit oder eine makrokosmische Raumeinheit, zurückkehren wird.

Die Tibeter nannten dieses unbeschreibliche Geheimnis Tong-pa-ñid, die unergründliche Unendlichkeit der spirituellen Gefilde. Die Buddhisten der Mahāyāna-Schule beschreiben es als Śūnyatā oder die Leere, einfach deshalb, weil keine menschliche Vorstellungskraft sich ein Bild von dieser unbegreif­lichen Fülle zu machen vermag. In der Edda des alten Skandinavien wurde dem Grenzenlosen der vielsagende Ausdruck Ginnungagap verliehen – ein Wort, das Abgrund oder unbegrenzte Leere bedeutet. Die Bibel der Hebräer sagt, dass die Erde ohne Form und leer war und Dunkelheit auf dem Antlitz von Tehōm lag, über der Tiefe, über dem abgrundtiefen Wasser; daher die große Tiefe des kosmischen Raumes. Sie hat die gleiche Bedeutung wie für andere Völker der Schoß des Raumes. In der chaldäisch-jüdischen Kabbala wird dieselbe Vorstellung als ’Eyn (oder Ain) Sōph, ohne Grenzen, ausgedrückt. In der babylonischen Genesis ist es Mummu Tiamatu, der große See oder die große Tiefe. Die frühzeitliche chaldäische Kosmologie spricht von der Unendlichkeit unter dem Namen Ab Soo, Vater oder Quelle des Wissens, und in der primitiven Magie war es Zervan Akarana, was ursprünglich „grenzenloser Geist“ bedeutete und erst später zu „grenzenlose Zeit“ wurde.

In der chinesischen Kosmogonie ist Tsi-tsai, das Selbst-Existierende, die unbekannte Dunkelheit, die Wurzel von Wuliang-sheu, der grenzenlosen Ewigkeit. Das Wu Wei von Laotse, das oft fälschlicherweise mit Passivität und Nichthandeln übersetzt wird, verkörpert eine ähnliche Vorstellung. In den heiligen Schriften der Quichés in Guatemala, dem Popol Vuh oder „Buch des azurblauen Schleiers“, wird auf die „Leere, die die ungeheure Weite der Himmel war“, und auf das „große Meer des Raumes“ hingewiesen. Die alten Ägypter sprachen von der endlosen Tiefe; die gleiche Idee ist auch in dem Celi-Cēd des frühzeitlichen Druidentums zu finden, wobei von Cēd als der „schwarzen Jungfrau“ gesprochen wird, die das „Chaos“ verkörpert, einen Zustand der Materie vor der manvantarischen Differenzierung.

Die orphischen Mysterien lehrten von der „dreimal unbekannten Dunkelheit“ oder vom Kronos, worüber nichts ausgesagt werden konnte, außer dass es zeitlos daure. In den gnostischen Schulen, wie z. B. in der von Valentinus, war es Bythos, die Tiefe. In Griechenland lehrte die Schule von Demokrit und Epikur das To Kenon, die Leere; es ist die gleiche Vorstellung, die später von Leukipp und Diagoras in Worte gefasst wurde. Die beiden in der griechischen Philosophie am häufigsten verwendeten Ausdrücke für das Grenzenlose waren aber das Apeiron von Platon, Anaximander und Anaximenes und die Apeiria von Anaxagoras und Aristoteles. Beide Wörter bedeuteten grenzenlose Ausdehnung, das, was keine einschränkenden Grenzen besitzt.

In alten griechischen Schriften war Chaos5 ein weiteres Wort für Raum und bedeutete die Leere, so wie es ursprünglich, z. B. von Hesiod in seiner Theogonie (116), verwendet wurde: „Wahrlich, Chaos war zuerst.“ Sogar der eher strenggläubige Poet Milton fasste diese Idee in die Worte „Leere und formlose Unendlichkeit“ (Das verlorene Paradies, III). Im Verlauf der Zeit bekam für die meisten gebildeten griechischen Denker das Chaos die Bedeutung eines späteren Zustandes der Evolution jedes Kosmos. Das würde einer weiteren Formulierung Miltons entsprechen: „formlose und leere Materie“ (VII), denn hier existiert die Materie bereits aufgrund der ausströmenden Entfaltung in ihren uranfänglichen oder elementalen Zuständen. Sie entspricht somit dem zweiten kosmischen Logos der theosophischen Philosophie.

Die früheste Vorstellung vom Chaos war jedoch jener fast unvorstellbare Zustand des kosmischen Raumes oder der kosmischen Expansion, die für den menschlichen Verstand die unendliche und freie Ausbreitung des ursprüng­lichen Äthers darstellt, ein Zustand vor der Bildung der manifestierten Welten, aus dem alles Spätere geboren wurde, einschließlich der Götter, der Menschen und der himmlischen Heerscharen. Hierin erkennen wir eine getreue Wiedergabe der archaischen esoterischen Philosophie, denn unter den Griechen war Chaos die kosmische Mutter von Erebos und Nyx, Dunkelheit und Nacht – zwei Aspekte desselben kosmischen Urzustandes. Erebos war die spirituelle oder aktive Seite, die in der Hindu-Philosophie Brahman gleichkommt, während Nyx den passiven Aspekt bildete, der Pradhāna oder Mūla-Prakṛiti entspricht, die beide Wurzelnatur bedeuten. Aus der Duade Erebos und Nyx wurden Äther und Hemera, Geist und Tag geboren. Geist ist in diesem folgenden Stadium wieder die aktive Seite und Tag der passive Aspekt, die substanzielle oder tragende Seite. Die Idee war, dass so, wie am Tag von Brahmā (in der hinduistischen Kosmogonie) die Dinge plötzlich aktiv in Erscheinung traten, auch am kosmischen Tag der Griechen die Dinge aufgrund des innewohnenden Dranges des kosmischen Geistes aus der elementalen Substanz heraus plötzlich in das manifestierte Licht und in die Aktivität treten.

Die frühen Philosophen-Eingeweihten waren durch ihren Eid zur Geheimhaltung äußerst zurückhaltend, wenn sie von den kosmischen Anfängen sprachen. Aus diesem Grunde sind die Texte über die ursprünglichen kosmischen Anfänge in eine sorgsam gehütete und fein ausgewogene Sprache gekleidet, obwohl die frühzeitlichen griechischen Schriften und die Literatur aller anderen Völker voll davon sind. Man befürchtete immer, dass derartig abstrakte und schwer verständliche Lehren, wenn sie zu offen bekannt gegeben werden, entstellt und entweiht würden und dass sie zum Allgemeingut derer werden könnten, die in der Disziplin und in den Lehren der Mysterien ungeschult waren. Das allgemeine Missverständnis, wonach Chaos nur ein Durcheinander oder eine ungesteuerte riesige Ansammlung von Atomen im kosmischen Raum sei, ist nichts anderes als eine eindeutige Herabwürdigung der ursprünglichen philosophischen Bedeutung.

Wir haben also erstens Chaos in seiner ursprünglichen Bedeutung des Grenzenlosen und zweitens, als Weiterentwicklung, die Vorstellung vom Chaos als dem mächtigen Schoß der Natur, der aus sich selbst heraus die Keime und Samen entwickelt, um manifestierte Welten aufzubauen und ins Leben zu rufen. Diese Samen waren die schlafenden Monaden mit spirituellen und göttlichen Eigenschaften, die aus der vorausgegangenen kosmischen Periode der manvantarischen Manifestation herüberkamen und sich in ihrem Nirvāṇa oder Para-Nirvāṇa befanden.

Daher kann man Chaos als Ausbreitung von Geist-Substanz betrachten, von der jeder Punkt ein Bewusstseinszentrum oder eine Monade ist. Diese Ausbreitung ist in die para-nirvāṇische Ruhe und Seligkeit eingebettet und wartet auf die Zeit des Erwachens in einer Periode des manifestierten kos­mischen Lebens. Die in ihrer devachanischen Glückseligkeit ruhende mensch­liche Monade ist auf ihrer eigenen niedrigeren Entwicklungsstufe eine exakte Analogie dazu.

Aus dem eben Gesagten ersehen wir, dass Chaos in seinem Zustand des kosmischen Pralaya dasselbe war wie Brahman-Pradhāna und daher mit dem Raum in seinem Urzustand abstrakter Geist-Substanz identisch ist.

So kam es, dass viele Völker das Göttliche nicht nur als äußerste Fülle, sondern gleichermaßen auch als den unendlichen Abgrund, die grenzenlose Leere, die endlose Tiefe oder den Ozean der kosmischen Wasser des Lebens ansahen. Wasser war wegen seines vielsagenden Wesens ein beliebtes Symbol für Raum; es ist gleichzeitig durchscheinend und doch fest; es ist kristallklar und doch dicht, wodurch es ein ausgezeichnetes Symbol für den kosmischen Äther ist. Diese erhabene Vorstellung war überall anzutreffen, seit es bewusst denkende Menschen auf dieser Erde und in dieser Runde gab. Mag der Adept Lemurier, Atlantier, Turanier oder Arier gewesen sein – die gleiche intuitive Vorstellung leitete die Gedanken aller.

Die Räume des Raumes

In ihrer Unwissenheit und bilderstürmerischen Neigung zur Zerstörung jeder philosophischen Idee des Altertums proklamierten die modernen Besserwisser den Raum als „eine abstrakte Idee“ und als eine Leere, tatsächlich ist er jedoch der Enthalter und der Körper des Universums mit seinen sieben Prinzipien. Er ist ein Körper von grenzenloser Ausdehnung, dessen Prinzipien, in okkulter Ausdrucksweise – jedes seinerseits eine Siebenheit – in unserer Erscheinungswelt lediglich das gröbste Gewebe ihrer Unterabteilungen manifestieren.

Die Geheimlehre, Bd. I, S. 354

Aus der Sicht der alten Weisheit ist Raum weit mehr als nur ein Behälter, denn er ist die grundlegende Essenz, die überall existiert, und nicht nur der Bereich von unbegrenztem Leben und grenzenlosem Geist, sondern in Wirklichkeit der wahre Stoff von Geist, Bewusstsein und Leben.

Darüber hinaus ist der Raum, je nachdem wie man ihn betrachtet, sieben-, zehn- oder zwölffach; und gerade weil der Raum das große Gewebe aus unzähligen Hierarchien ist, ist er diese Hierarchien selbst, vom Übergött­lichen bis hinab zu dem, was sich unter dem Materiellen6 befindet. Der Raum ist daher vielfältig, weshalb wir von den Räumen im Raum sprechen können. Es sind nicht nur die grenzenlosen Gebiete des physischen Raumes, es sind auch die grenzenlosen Bereiche des inneren Raumes, die von unvergleichlich größerer Bedeutung sind – der Raum im Inneren, der immer noch weiter nach innen geht. Kurz gesagt, Raum ist alles, wenn man es abstrakt betrachtet; und gerade weil er alles ist, was ist, enthält er alle kleineren Wesen, Wesenheiten und Dinge innerhalb seiner eigenen alles umfassenden Unermesslichkeit, und in diesem Sinne ist er tatsächlich ein Behälter.

Zur Illustration: Unsere Milchstraße mit allen ihren Bereichen ist nicht nur in ihrem eigenen Raum enthalten, sie ist vielmehr dieser Raum selbst; und da sie eine zusammengesetzte Wesenheit ist, hat sie ihren eigenen Svabhāva oder ihre essenzielle Charakteristik oder Individualität oder das, was die kosmische Seele genannt werden könnte. Unsere Milchstraße ist eingeschlossen in einer kosmischen Einheit, die noch umfassender und größer ist und die ihrerseits ihren eigenen Svabhāva hat. In anderer Hinsicht enthält jede Galaxis viele Sonnensysteme, von denen jedes Sonnensystem eine räumliche Einheit innerhalb seiner eigenen räumlichen Grenzen ist, d. h. es ist tatsächlich der Raum, den es innerhalb des größeren Raumes der Galaxis einnimmt. So ähnlich ist es mit einem Planeten, etwa mit unserer Erde. Sie nimmt den Raum ein, der innerhalb des größeren Raumes ihres Sonnensystems liegt. Sie ist aber selbst der Raum, den sie so innerhalb dieses Sonnensystems ausmacht oder bildet.

Vom menschlichen Standpunkt aus kann der Raum als das höhere Grund­element eines Kosmos im Grenzenlosen betrachtet werden. Hier sehen wir eine weitere Ursache dafür, warum der Raum viel mehr ist als nur ein Behälter. Es stimmt: Allgemein wird er nur als Abstand zwischen den Objekten betrachtet; aber viel bedeutsamer ist, dass der Raum die innere und nach oben gerichtete Distanz oder Ausdehnung zum Spirituellen hin ist und darüber hinaus in die unergründlichen Tiefen des Göttlichen reicht. H. P. Blavatsky schrieb: „… weil im Raum die intelligenten Mächte wohnen, die unsichtbar das Universum leiten.“7

Jedes Universum oder jede beliebig kleinere Wesenheit in ihm, wie z. B. eine Sonne, ein Planet oder ein Mensch, ist ein verkörperter Gott. Man betrachte nur den Menschen: In seinem niedrigsten Teil ist er ein physischer Körper und in seinem höchsten Teil ist er eine göttliche Monade, ein Gott; und dazwischen liegen alle die verbindenden und unsichtbaren Bereiche seiner Konstitution. Genauso ist es mit jedem Universum oder mit einer Sonne oder mit einem Planeten. Geht man einen Schritt weiter, dann kann man sehen, dass der Raum jedes Universums der sichtbar-unsichtbare „Körper“ eines solchen Universums ist. Seine Essenz ist göttlich, so wie der Mensch in seiner Essenz göttlich ist, obgleich er ein physisches menschliches Wesen ist, wenn er auf Erden inkarniert ist oder in einer vergleichbaren Verkörperung auf einem anderen Globus unserer Planetenkette lebt.

Weil der Raum, d. h. jede Raumeinheit, sowohl bewusst als auch substanziell ist, können wir den Raum jedes Universums als eine Wesenheit – einen Gott – ansehen. In der Essenz ist er eine göttliche Wesenheit, von der wir nur den materiellen und energetischen Aspekt sehen, hinter dem das ursächliche Leben und die Intelligenz stehen. Es gibt in den unbegrenzten Bereichen des Grenzenlosen unzählige solcher „Räume“ und eine jede solche Einheit ist ein größeres oder kleineres Ei von Brahmā oder ein Kosmos, in dem sie existieren und einen Teil der Struktur eines unfassbar größeren Raumes bilden, der alles umschließt.

Jede räumliche Einheit oder jede himmlische Wesenheit, wie unser Sonnen­system oder wie unsere Milchstraße oder wie eine noch größere kosmische Einheit, ist ein lebendes Wesen, das mit Bewusstsein erfüllt ist, seine eigene karmische Bestimmung hat und auf diese Weise in großem Maßstab die Wiederholung dessen ist, was wir und alle anderen kleineren Einheiten in unseren eigenen mikrokosmischen Sphären darstellen.

Daher ist der Raum zugleich durch und durch Bewusstsein und durch und durch Substanz. Er ist tatsächlich Bewusstsein-Denkvermögen-Substanz. Denn aller Raum ist voller Leben, 8 von unaufhörlicher Tätigkeit quirlend; und tatsächlich kann jeder Punkt des unendlichen Raumes wahrhaftig als ein Bewusstseinszentrum oder eine Monade angesehen werden, ganz gleich, ob diese Monaden aktiv an manvantarischen Vorgängen und Erlebnissen beteiligt sind oder ob sie, in bewegungsloser Passivität erstarrt, die magische Berührung des inneren Geistes abwarten. Außerdem unterscheidet sich jeder organische Teil des Raumes, d. h. jede Raumeinheit oder jede kosmische Wesenheit als eine Gesamtheit durch ihren innewohnenden Svabhāva oder ihre charakteristische Individualität von allen anderen.

Von der Zeit an, als H. P. Blavatsky begann, mehr oder weniger offen über den esoterischen Aspekt der theosophischen Lehren zu schreiben, wurden gewisse Ausdrücke benutzt, die meist der Sanskrit-Sprache entnommen wurden, um Raum, Äther, Ether, Pleroma u.s.w. zu beschreiben. Davon wurde Ākāśa – von der Zeitwortwurzel ākāś, die leuchten, hell sein, wie Licht bedeutet – am häufigsten verwendet.9

 Es ist hauptsächlich der spirituelle und etherische „Körper“ des manifestierten kosmischen Raumes, das zarte und etherische kosmische „Fluid“, das jedes manifestierte Universum durchdringt. Es ist der unsichtbare kosmische Bereich, in dem und aus dem alle Himmelskörper geboren werden. In ihm existieren sie während ihrer entsprechenden Manvantaras und in ihn werden sie an ihrem manvantarischen Ende erneut eingesammelt.

Da der Ākāśa aber so äußerst fein oder immateriell ist, wird von ihm oft etwas ungenau gesprochen, als sei er die Leere des Raumes, d. h. frei von Materie. In Wirklichkeit ist Ākāśa jedoch der räumliche Körper des Universums und folglich der manifestierte Raum selbst. Ebenso wie die vereinigten Bereiche des Raumes eines beliebigen Eies von Brahmā, ob eine Galaxis oder ein Sonnensystem, ist Ākāśa das Tätigkeitsfeld des kosmischen Fohat – der vitalen Kraft des Universums –, der immer durch das kosmische Bewusstsein gelenkt wird. Wie alle anderen Dinge in der Natur ist Ākāśa in verschiedene Ebenen oder Grade teilbar, die an Etherhaftigkeit zunehmen, bis er in reinen kosmischen Geist aufgeht. Seine höheren Teile werden Anima Mundi, die Seele unseres Universums, genannt, während seine niedrigsten Bereiche das Astrallicht umfassen. Wie das lateinische Wort Spatium enthält Ākāśa den Gedanken der Ausdehnung oder der Tiefe des Raumes. Aber von einem etwas anderen Gesichtspunkt aus wird dieser Ausdruck sowohl für Äther als auch für Ether benutzt. In der Aufzählung der sieben kosmischen Prinzipien oder Tattva wird Ākāśa als das fünfthöchste angesehen, das im mystischen Denken Europas im Mittelalter die quinta Essentia – die „fünfte Essenz“ genannt wurde, unser Wort Quintessenz.

Ich habe diesen Ausdruck „Räume im Raum“ in der Hoffnung angewandt, anderen damit eventuell zu helfen, von der Natur eine weitere großartige Auffassung zu erhalten: um zu zeigen, dass es sowohl im konkreten als auch im abstrakten Raume nicht eine Nadelspitze ohne Leben, ohne Substanz und ohne Bewusstsein gibt. Anders gesagt: Innerhalb unseres physischen Raumes gibt es einen etherischeren Raum mit seinen Welten, seinen Sonnen und Planeten, seinen Kometen und Nebelflecken; Himmelsgloben mit ihren Bergen und Seen, ihren Wäldern und Feldern und ihren Bewohnern. Innerhalb dieses zweiten Raumes gibt es einen noch feineren, etherischeren und spirituelleren Raum, die Ursache der beiden vorhergehenden, wobei jeder innere Raum eine Mutter oder ein Erzeuger des äußeren Raumes ist; und so geht die Reihe dieser Räume innerhalb des Raumes unendlich weiter, vorwärts, aufwärts und nach innen. Das ist es, was ich mit dem Ausdruck „Räume im Raum“ meine.

Wir sehen nun, warum jeder Raum – unendlicher Raum, komplexer Raum, Räume innerhalb des Raumes – Fülle ist und dass es keinen Punkt innen oder außen gibt, der leer ist. Leerer Raum ist nur eine Erfindung der Unwissenheit; er existiert nicht. Diese höheren oder inneren Räume existieren sehr wohl. Wir dürfen nicht vergessen, dass sie die kosmischen Wurzeln der Dinge sind. Wir sagen, sie seien leer, weil wir sie nicht wahrnehmen können. Doch in Wirklichkeit hören, sehen, riechen und berühren wir sie fortwährend, denn der Raum um uns herum ist mit diesen inneren Räumen angefüllt, mit Substanz, Leben, Vitalität und Tod versorgt, alles vermittels dieser inneren Räume. Sie sind die Ursachen, die Noumena; die äußeren Räume sind die Phänomene, die Wirkungen.

In gewissem Sinne sind die Räume des Raumes tatsächlich seine sieben, zehn oder zwölf Prinzipien. Das ist ein Grund, warum H. P. Blavatsky vom Raum als der höchsten Gottheit spricht, und dennoch ist Raum alles, was ist. Das bedeutet nicht, dass die Gottheit ein Baumstamm oder ein Stein ist, und dennoch ist dieser Baumstamm oder Stein nicht außerhalb der Gottheit. Wir sehen, dass es Räume innerhalb von Räumen gibt und dass der Baum oder der Stein sich selbst auf inneren und höheren Ebenen wiederholt. Aber es ist nicht die Gottheit, weil es nicht das All ist. Es ist ein Teil, ein Anteil, und diese Dinge sind Illusionen. Schneidet man einen solchen Teil oder Anteil in immer feinere oder noch feinere Teile, kommt man zum Molekül, zum Atom, zum Elektron und in der Theorie zu noch feineren Körpern. Doch irgendwann werden wir in diesem Prozess das erreichen, was für uns Homogenität ist, und das ist der Geist jenes Raumes.

Wir können für diese kosmischen Räume die Bezeichnung kosmische Ebenen anwenden. Der kosmische Raum, in dem wir leben, ist die kosmische Ebene Pṛithivī. Es ist eine Ebene; es ist ein Raum. Auf der nächsten Ebene über uns sind die Himmelskörper und unsere Erde unsichtbar, d. h. wo sie existieren, werden die dortigen Wesen das sehen, was für sie unausgefüllter Raum, leerer Raum ist. Die Bewohner jeden Raumes oder jeder Ebene sehen das, wozu ihr Sinnesapparat entwickelt wurde, um es zu begreifen und in ihr wahrnehmendes Bewusstsein aufzunehmen.

Das ist es, was wir mit den Räumen des Raumes, der Fülle des Raumes oder der Leere des Raumes meinen; alle sind verschiedene Arten, um das gleiche Wunder auszudrücken. Das erinnert uns an die Lehre von Buddha, dem Herrn, die zum Inhalt hat, dass die Essenz des Seins Śūnyatā ist, ein Wort, das Leere bedeutet, leerer Raum, aber nie vorgab, absolutes Nichts im physischen Sinne zu bedeuten. In Wirklichkeit ist sie die vollständigste Fülle. Weil jedoch unser Sinnesapparat völlig unfähig ist, sie wahrzunehmen, verneint er die Existenz eines kosmischen Alls. Aber dann wird unser Verstand, der von viel spirituellerer Art ist als die grobe Materie unserer physischen Sinne, auf verschiedenen Ebenen aktiv, die höher sind als die physische Ebene, und er beginnt zu verstehen. Wenn wir dann noch einen Schritt weitergehen können und uns vom Verstand zu unserer Intuition erheben, wird uns unsere Intuition klar offenbaren, dass diese sogenannte Śūnyatā nur Leere für die Sinne ist, aber Fülle für den Geist – denn Śūnyatā ist tatsächlich kosmischer Geist.

Raum, Zeit und Dauer

… aber nebenbei ist es die Mühe wert, die wirkliche Bedeutung der korrekten, aber unvollständigen Intuition hervorzuheben, welche den Gebrauch des modernen Begriffs der „vierten Dimension des Raumes“ unterstützt … Die gebräuchliche Ausdrucksweise kann nur eine Abkürzung der vollständigeren Form sein – die „vierte Dimension der Materie im Raum“. Wenn­gleich es vollkommen wahr sein mag, dass der Fortschritt der Evolution dazu be­stimmt ist, uns mit neuen Merkmalen der Materie vertraut zu machen, ist die Formulierung aber selbst in dieser Erweiterung unglücklich, denn die uns bereits bekannten Charakteristika übersteigen die drei Dimensionen bei weitem. Die Eigenschaften, oder was vielleicht der bestmögliche Ausdruck ist, die Charakteristika der Materie, müssen ganz klar eine unmittelbare Beziehung zu den Sinnen des Menschen besitzen. Materie hat Ausdehnung, Farbe, Bewegung (Molekularbewegung), Geschmack und Geruch, entsprechend den bestehenden Sinnen des Menschen, und wenn die Zeit kommt, dass sie die nächste Eigenschaft voll entwickelt – nennen wir es für den Augenblick Permeabilität – wird dieses Charakteristikum dem nächsten Sinn des Menschen entsprechen, den wir „normales Hellsehen“ nennen wollen; wenn also einige kühne Denker nach einer vierten Dimension dürsteten, um den Durchgang von Materie durch Materie zu erklären und die Frage, wie eine endlose Schnur geknotet werden kann, war es ein sechstes Charakteris­tikum der Materie, das ihnen tatsächlich fehlte. Die drei Dimensionen gehören tatsächlich nur einem einzigen Attribut oder Charakteristikum der Materie an – der Ausdehnung; der gewöhnliche gesunde Menschenverstand sträubt sich mit Recht gegen die Vorstellung, dass irgend­ein beliebiger Zustand der Dinge mehr als drei derartige Dimensionen wie Länge, Breite und Tiefe aufweisen könnte. Diese Begriffe sowie der Ausdruck „Dimension“ selbst gehören alle einer einzigen Gedankenebene an, einem Evolutionszustand, einem Charakteristikum der Materie. Solange Zollstöcke zu den Hilfs­mitteln zur Vermessung der kosmischen Materie gehören, wird man lediglich in der Lage sein, sie auf drei Arten zu messen und nicht mehr … Doch diese Überlegungen widerstreiten in keiner Weise der Gewissheit, dass sich im Verlauf der Zeit – mit der Erweiterung der Fähigkeiten der Menschheit – die Charakteristika der Materie ebenso vermehren werden.

Die Geheimlehre, Bd. I, 258–9

Vom Gesichtspunkt der esoterischen Philosophie aus gesehen kann man nie von einem abstrakten Raum sprechen, der eine Länge, Breite und Dicke hat, denn diese Dimensionen sind nur auf den manifestierten Raum anwendbar. Der Einfachheit halber kann der Raum als in zwei Formen existierend beschrieben werden: als abstrakter Raum oder als das Grenzenlose und als manifestierter Raum, was das Gleiche ist wie begrenzter Raum – mit anderen Worten, als manifestierte Wesenheiten, zusammengesetzt wie ein Sonnensystem, oder als kleinere Wesenheiten, wie ein menschlicher Körper oder ein Atom. Nur bei solchen manifestierten räumlichen Körpern, seien sie groß oder klein, können wir wahrhaftig von Dimensionen sprechen, weil diese sowohl Abstand und Richtung als auch Position und Volumen bedeuten. Somit ist unser eigenes Sonnensystem ein Teil des manifestierten Raumes, der sich im abstrakten Raum des Grenzenlosen befindet.

Von mehr als drei Dimensionen des Raumes zu sprechen ist einfach ein Missbrauch von Worten, denn Dimension bedeutet Messung und nur konkrete Dinge können gemessen werden. Das Unendliche z. B. hat keine Dimensionen, weil es kein Gegenstand ist, der gemessen werden kann. Aber die Vorstellung von einer vierten, fünften oder sechsten Dimension ist ein intuitives Wissen von inneren und höheren Welten, d. h. von nach innen gehenden Richtungen und Abständen, sozusagen in die unsichtbaren Sphären. Wenn das Wort Dimension nur auf diese Bedeutung allein beschränkt würde, dann wäre nicht viel dagegen einzuwenden; aber leider haben die moderne Wissenschaft und die Philosophie sich bis jetzt die Realität von inneren Welten und Sphären, die für die äußeren Welten und Sphären unsichtbar sind, nicht klar vorstellen können. Andererseits werden die wissenschaftlichen Theorien und Spekulationen in mancher Hinsicht so hoch metaphysisch, dass sie nicht nur in gewissen Punkten allmählich mit den Lehren der esoterischen Philosophie verschmelzen, sondern in einigen Fällen tatsächlich über diese Lehren hinausgehen.

Zum Beispiel ist die Vorstellung, dass sich das Universum ausdehnt und dass all die verschiedenen Himmelskörper auseinanderstreben und mit einer Geschwindigkeit hinwegeilen, die sich direkt proportional zu der Entfernung von uns vergrößert, zum großen Teil auf Abbé Lemaître zurückzuführen. Diese Theorie scheint in ihrer Gesamtheit von dem oft intuitiven Eddington und von anderen Wissenschaftlern übernommen worden zu sein. Es gibt jedoch mehrere Gründe, warum diese Auffassung von einem sich ausdehnenden Universum nicht annehmbar ist.10

Manchmal ist in der Wissenschaft und in der Philosophie anscheinend vergessen worden, dass die mathematische Mühle nur das produziert, was in sie hineingegeben wird: dass all das, was an dem einen Ende aus dem Mühlwerk herauskommt, am anderen Ende hineingetan wurde. Die Mathematik ist ein Instrument des menschlichen Denkens, ein intellektuelles Werkzeug von immensem Wert, aber sie kann offensichtlich keine Wahrheit produzieren, und sie kann auch von sich aus keine Wahrheiten erzeugen.

Der Okkultismus behauptet, dass es in allen großen und kleinen Dingen – sei es ein Universum, eine Sonne, ein Mensch oder irgendeine andere Wesenheit – eine fortwährende jahrhundertelange zyklische Diastole und Systole gibt, ähnlich wie beim menschlichen Herzen. Diese zyklischen Expansionen und Kontraktionen sind Manifestationen der kosmischen Pole oder das, was wir vielleicht den universalen Herzschlag nennen können. Anscheinend hat der holländische Astronom, Mathematiker und Physiker Willem de Sitter etwas von dieser Tatsache intuitiv erfasst, aber die Vorstellung von einem sich ausdehnenden Universum, das nach Lemaître lediglich die unermessliche kosmische Ausdehnung eines ursprünglich gigantischen Atoms sein soll, ist völlig falsch.

Eine solche kosmische Diastole und Systole ist keineswegs das Gleiche wie das sich ausdehnende Universum. Das Gerüst oder der Körper des Universums – ob wir nun mit diesem Ausdruck die Galaxis oder eine Ansammlung von Galaxien meinen – ist sowohl der entsprechenden Struktur als auch der Form nach für den Zeitraum seines Manvantaras unveränderlich, genauso wie das menschliche Herz, wenn es voll ausgewachsen und in Funktion ist.

Anscheinend ignorieren diese Wissenschaftler die Tatsache, dass der Raum grenzenlos ist. In einem sich fortwährend ausdehnenden Universum würden aber nach ihrer Theorie die von uns hinwegeilenden Nebelflecken und andere Himmelskörper schließlich eine Geschwindigkeit erreichen, die unvergleichlich größer wäre als die Lichtgeschwindigkeit. Nach der modernen wissenschaftlichen Theorie und nach Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie ist das jedoch unmöglich!

Man muss nur ein wenig nachdenken, um zu erkennen, dass es völlig unmöglich ist, sich den Raum getrennt von der Zeit vorzustellen oder dass Zeit, oder vielmehr Dauer, getrennt vom Raum existiert; denn wenn die Zeit nicht mit dem Raum verbunden wäre, könnte der Raum nicht zwei Augen­blicke lang existieren. Ebenso gibt es die Zeit nur infolge des immerwährenden Raumes, der die Zeit ins Leben ruft. Auch der kosmische Geist füllt nicht nur den Raum, sondern er ist Raum und Zeit; und weil der kosmische Geist ist und über einen unendlichen Zeitraum hinweg kontinuierlich ist, deshalb existiert er in unbegrenzter Dauer, eine Dauer, die er selbst ist.

Wenn wir diesem Gedankengang folgen, dann erkennen wir auch, dass abstraktes Denken oder Bewusstsein, oder was manchmal Geist oder Gottheit genannt wird, Zeit oder Dauer haben muss, um weiterbestehen zu können, und es muss Raum haben, worin es sein kann. Da wir nicht drei Unendlich­keiten haben können, d. h. kosmischen Geist, kosmischen Raum und unend­liche Dauer, denn das wäre natürlich eine Monstrosität, sind diese drei in ihrer Essenz nicht verschiedene und separate Dinge, sondern nur drei Aspekte der einen zugrunde liegenden und ewig fortdauernden Realität.

Wir sehen also, dass Geist oder Bewusstsein, Dauer oder abstrakte Zeit und Raum grundsätzlich eines sind; aber aufgrund der Begrenzungen, die durch die sich weiter entwickelnden und während der Manifestation begrenzten Wesen und Wesenheiten verursacht wurden, haben wir die Erscheinungen oder Māyā – oder vielmehr Mahā-Māyā – einer Dauer, die in Zeitperioden eingeteilt ist. Wir haben abstrakten Raum, aufgeteilt in Raumeinheiten; und gleicherweise kosmischen Geist oder Bewusstsein, das sich in Strömen von kleineren Seelen oder bewussten Wesen ausdrückt, die vom Göttlichsten des Göttlichen bis zu den materiellsten Wesenheiten in den materiellen Welten reichen. Diese illusorischen Einteilungen oder die sich manifestierenden Lebensströme bringen die Verschiedenartigkeit und die wunderbare Mannig­faltigkeit, die uns umgeben, hervor. Sie erzeugen daher in uns die Māyā oder die Illusion, dass die dahineilende Zeit ein Ding ist, der Raum etwas ganz anderes und dass das Bewusstsein wiederum etwas ganz Verschiedenes sei.

So ist Dauer sowohl mit dem Raum als auch mit dem kosmischen Geist oder Bewusstsein identisch. Jedoch, selbst dieses Geheimnis der Geheimnisse, Raum-Denkvermögen-Dauer, ist für unseren höchsten Intellekt das Produkt oder die Erscheinung jenes unbeschreiblichen Mysteriums, das das Namenlose oder JENES genannt wird. Ebenso sehen wir, dass Vergangenheit und Zukunft, wenn sie richtig verstanden werden, zu dem „ewigen Jetzt“ verschmelzen.

In ihrer Geheimlehre (Bd. I, S. 38–9), macht H. P. Blavatsky über die Zeit folgende bemerkenswerte Feststellung:

Zeit ist lediglich eine Illusion, die durch die Abfolge unserer Bewusstseinszustände entsteht, während wir durch die ewige Dauer reisen. Wo kein Bewusstsein ist, in welchem die Illusion hervorgebracht werden kann, exis­tiert keine Zeit, sondern sie „liegt schlafend“. Die Gegenwart ist lediglich eine mathematische Linie, die jenen Teil der ewigen Dauer, den wir die Zukunft nennen, von dem Teil trennt, den wir die Vergangenheit nennen. Nichts auf der Erde ist wirklich dauerhaft, denn nichts bleibt auch nur für den milliardsten Teil einer Sekunde unverändert oder gleich; die Wahrnehmung der Wirklichkeit der uns als Gegenwart vertrauten Teilung der „Zeit“ rührt von der Unschärfe einzelner oder aufeinanderfolgender flüchtiger Sinnes­eindrücke von Dingen her, welche aus der Region der Ideale, die wir die Zukunft nennen, in den Bereich der Erinnerungen übergehen, die wir die Vergangenheit nennen. Auf dieselbe Weise nehmen wir einen blitzschnellen elektrischen Funken aufgrund des unscharfen und nachwirkenden Eindrucks auf der Retina als länger andauernd wahr. Die wirkliche Person oder Sache besteht nicht allein aus dem, was in irgend­einem besonderen Augenblick zu sehen ist, sondern ist die Summe aller ihrer unterschiedlichen und wechselnden Zustände – vom Moment ihres Erscheinens auf der Erde in ihrer materiellen Form bis zu ihrem Verschwinden. Es sind diese „Gesamt­summen“, die schon immer in der „Zukunft“ existieren und die Materie gradweise durchwandern, um damit für immer in der „Vergangenheit“ zu existieren.

Weiter sagt sie (Die Geheimlehre, Bd. I, S. 66), die archaische Weisheit teile „die grenzenlose Dauer in eine unbedingte, ewige und universale Zeit sowie in eine bedingte (Khandakala). Erstere ist die Abstraktion oder das Noumenon der unendlichen Zeit (Kala), Letztere deren periodisch als Wirkung von Mahat (die von der manvantarischen Dauer begrenzte universale Intelligenz) erscheinendes Phänomen.

Es mag hilfreich sein, sich zu vergegenwärtigen, dass Khaṇḍa-Kāla ein zusammengesetztes Sanskrit-Wort ist, das „unterbrochene Zeit“ bedeutet und damit sagen soll, dass Dauer im manifestierten Universum den Anschein hat, in lange oder kurze Zeitperioden eingeteilt zu sein. Daher ist ein Jahr eine „Unterteilung“ der abstrakten Zeit in eine begrenzte Zeitperiode von etwa 365 Tagen. Da ein Jahr dem anderen folgt, erzeugen sie den Māyāvi-Effekt einer Wesenheit, die wir das ununterbrochene Dahinfließen der Zeit nennen. Da dieser Effekt jedoch zyklisch verläuft, wird uns der Eindruck vermittelt, dass sich die Zeit in geteilter oder gegliederter Weise offenbart, aber dennoch ist sie in sich selbst ungeteilt. Der einzige falsche Aspekt dieser Vorstellung ist der, dass die Zeit als ein Ding an sich betrachtet wird und dass sie etwas anderes sei als der Raum und das Bewusstsein, in dem diese Zeitperioden sichtbar werden.

Das Raum-Zeit-Kontinuum ist ein Ausdruck, der ursprünglich von dem mathematischen und philosophischen Genie Einstein stammt. Obgleich es nicht immer leicht ist, genau festzustellen, was damit gemeint ist, weil die Ansichten selbst der Mathematiker weit auseinander zu gehen scheinen, ist die Grundidee klar, dass Raum und Zeit nicht zwei getrennte und verschiedene Absolute sind, sondern zwei Aspekte ein und derselben fundamentalen Wesenheit. Was jedoch fehlt, ist die weit bedeutungsvollere Auffassung, dass Raum und Zeit als einander zugeordnete Faktoren in Manifestation nur das Resultat der kosmischen Geist-Substanz sind. Manche Wissenschaftler und Philosophen, wie Sir James Jeans, haben intuitiv erkannt, dass das Raum-Zeit-Kontinuum in geheimnisvoller Weise mit dem kosmischen Geist verbunden ist.

Obgleich kosmischer Geist, Zeit und Raum ein und dasselbe sind, scheinen sie während des kosmischen Manvantaras drei verschiedene Wesenheiten zu sein; und diese scheinbare Teilung des Einen in drei ist das, was die archaische Philosophie Mahā-Māyā nennt. Wie gesagt: Das wissenschaftliche Raum-Zeit-Kontinuum erfordert die Erkenntnis, dass Raum-Zeit mit kosmischem Bewusstsein oder kosmischem Geist und auch mit kosmischer Substanz identisch ist. Verschmelzt man diese vier zu einer einzigen einheitlichen und fundamentalen Realität, so hat man sozusagen eine Miniaturansicht dieser Idee vor sich.

Das Raum-Zeit-Kontinuum ist nur ein erster zögernder Schritt zur Wahrheit, sozusagen eine Ahnung, wie sie in der archaischen Lehre zu finden ist. Diese Lehre besagt, dass, wenn alle manifestierten Universen in ihren ursprünglichen super-spirituellen Zustand zurückverwandelt werden, die Vielheit wieder in das Eine eingeht. Die Manifestation löst sich in die ursprüngliche spirituelle Homogenität auf, sodass nicht nur der manifestierte Raum verschwindet und mit ihm die Zeit, sein Alter Ego, sondern auch die kosmische Intelligenz wieder in den kosmischen Geist eintritt und somit verschwindet.

In den Worten der Chāndogya-Upanishad (I, 9, 1) klingt dies wie folgt:

„Wohin geht diese Welt zurück?“

„Zum Raum (Ākāśa)“, sagte er. „Wahrlich, alle Dinge hier entstehen aus dem Raum. Sie verschwinden wieder in den Raum, denn der Raum (allein) ist größer als diese; der Raum ist das Endziel.“

Wenn Brahman das Universum ausatmet, ist es das Ausströmen des Großen Atems, der daraufhin sofort Brahmā wird; das kosmische Manvantara ist die Lebenszeit von Brahmā. Wenn diese Lebenszeit endet, tritt Brahmā wieder in seine eigene spirituelle Essenz oder Brahman ein. Der ganze manifestierte Raum verschwindet im abstrakten oder potenziellen Raum, und dies ist das Einziehen des Großen Atems oder der Beginn des kosmischen Pralaya.

Kosmische Realität und Mahā-Māyā

Das Universum mit allem, was es enthält, wird Maya genannt, weil alles darin vergänglich ist, vom flüchtigen Leben eines Glühwürmchens bis zu dem der Sonne. Verglichen mit der ewigen Unveränderlichkeit des Einen und der Wandellosigkeit dieses Prinzips muss das Universum mit seinen vergänglichen, ewig wechselnden Formen im Gedanken eines Philosophen notwendigerweise nichts Besseres sein als ein Irrlicht. Und doch bietet das Universum den darin existierenden bewussten Wesen, die genauso unwirklich sind wie es selbst, eine ausreichende Wirklichkeit.

Die Geheimlehre, Bd. I, S. 282

Das Verhältnis von Māyā oder, kosmisch gesprochen, von Mahā-Māyā zum Raum und zu jener Realität, die oft als Parabrahman bezeichnet wird, ist schwer zu verstehen. Das Wort Parabrahman wird in zwei Bedeutungen angewendet: Erstens bedeutet es jenseits von Brahman und schließt alles ein, was im grenzenlosen Raum jenseits von Brahman oder des höchsten Hierarchen unserer Milchstraße oder unseres Universums existiert; und zweitens, aber nicht so häufig, weil weniger genau, wird Parabrahman als der namenlose und unsichtbare Anfang oder als das Höchste von dem betrachtet, was die Menschen in ihrem Bestreben, das Unverständliche zu verstehen, als Gottheit bezeichnen.

Parabrahman ist daher keine Wesenheit, denn unter einer Wesenheit, ganz gleich, wie groß sie ist, versteht man eine Begrenzung. Grenzenloses Parabrahman ist anfangloser, endloser, zeitloser, todloser Raum – sowohl innerer als auch äußerer Raum. Es ist, kurz gesagt, die endlose Dauer des kosmischen Lebens, das kosmische TatJENES.

Für eine Wesenheit, die ein Elektron eines Atoms meines Körpers bewohnt, könnte zum Beispiel die vorübergehende Zeit, die in einer menschlichen Sekunde enthalten ist, als eine Ewigkeit erscheinen; und alles, was jenseits dieser Sekunde ist, wäre dann für diesen Atombewohner Parabrahman. Dem Bewusstseinszustand der Wesenheit entsprechend würde ihm das Atom als sein Universum erscheinen. Doch man stelle sich vor, welche Menge von Atomen in dem Teil des Raumes enthalten ist, der von einer Nadelspitze eingenommen wird! Das physische Dasein des von einer Nadelspitze eingenommenen winzigen Bereichs der Materie wäre für solch einen Elektronenbewohner grenzenloser Raum. Wir sind genau dasselbe wie dieser Elektronenbewohner, nur in einer größeren Welt, und daher bezeichnen wir alles, was jenseits der Reichweite unseres höchsten, spirituellen Bewusstseins ist – im räumlichen wie im qualitativen Sinne – als Parabrahman. Für uns ist das Parabrahman.

Es ist ganz richtig, Parabrahman kann mit abstraktem Raum gleich­gesetzt werden. Dieser Parabrahman-Raum ist nicht nur die Anhäufung der Hierar­chien von Intelligenzen und Bewusstheiten überall im Unbegrenzten; er ist gleichzeitig auch der Wirkungsbereich aller im grenzenlosen Sein. Die laprakṛitische Seite des Unbegrenzten, die die göttlich-spirituelle Stofflichkeit des grenzenlosen Seins ist, liefert dagegen die Trägersubstanzen für die Hierarchien göttlicher Intelligenzen und wird daher Mahā-Māyā oder große Illusion genannt, weil alle diese Trägersubstanzen zusammengesetzt und vergänglich sind.

Offensichtlich bedeutet die Māyā der ungeheuren Ansammlung galaktischer Universen, die über die Bereiche des Grenzenlosen verstreut sind, nicht völlige Täuschung in dem Sinne, dass etwas ohne wirkliche Existenz sei. Māyā bedeutet jedoch, dass alles, groß oder klein, lang- oder kurzlebig, im Vergleich zur Ewigkeit vergänglich, in der Dauer begrenzt und veränderlich ist. Sie hat alle Aspekte und Eigenschaften der veränderlichen und unbeständigen Existenz – obgleich es natürlich Māyās gibt, die so lange Zeiträume andauern, dass sie uns wie eine Ewigkeit vorkommen.

Parabrahman ist die einzige Realität, das unendliche Fundament. Obgleich jedoch alles andere, alles, was darunterliegt, Māyā ist, ist diese Māyā dennoch das Universum, in dem unsere Konstitution existiert, genauso, wie wir durch unser Innerstes mit Parabrahman verbunden sind; und weil Parabrahman das All ist, ist Māyā auch seine Hülle oder seine Manifestation. Mūla-Prakṛiti, die Wurzelnatur, umgibt Parabrahman etwa genauso, wie das menschliche Bewusstsein das spirituelle Bewusstsein des Menschen umgibt. In der menschlichen Konstitution ist die monadische Essenz der einzige wirkliche Teil des Menschen. Dennoch ist sein Bewusstsein gegenwärtig in seinem mensch­lichen Teil konzentriert, und es ist die Pflicht eines jeden Menschen, diesen Teil zu erheben, um in selbstbewusster Vereinigung mit dem Parabrahman oder mit der monadischen Essenz im Inneren eins zu werden.

In der alten Literatur wurden Sprachbilder benutzt, die geeignet sind, die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen abzulenken, wenn wir nicht nach der inneren Bedeutung suchen. Vom Grenzenlosen wurde zum Beispiel gesagt, dass es „das Universum spielend hervorbringt“. Es bewegt sich, und daraufhin erscheint das Universum. Diese Sätze sind nur Gleichnisse, bedeutungsvoll und schön, wenn wir die wirkliche Wahrheit hinter ihnen verstehen. Der Satz, dass Brahman das Universum spielend evolviert, soll die Wahrheit aus­drücken, dass Brahman die vollkommene Realität ist und dass der gesamte Rest des Universums, der sich die kosmischen Zeitalter hindurch evolviert, wie ein Truggebilde ist, das vor dem Auge des Göttlichen flimmert.

Daher bedeutet Māyā nicht, dass die äußere Welt, wie sie von dem inneren, zentralen Bewusstsein gesehen wird, nicht existent sei, weil die Außenwelt in der alles einschließenden Wirklichkeit von Parabrahman enthalten ist. Wenn dies nicht der Fall wäre, so hätten wir Parabrahman auf der einen Seite und Māyā auf der anderen, die zwei entgegengesetzte oder widersprüchliche Energien oder Essenzen bildeten, und das ist unmöglich, weil Parabrahman das All ist.

Natürlich existiert Māyā; aber weil Parabrahman alles ist, essenzielles Sein oder „Seinheit“, ist sogar Māyā in seiner Essenz enthalten. Diese Lehre ist das Herz des Advaita-Vedānta, so wie sie Śaṃkarācārya lehrte. Wir als Wesen sind Māyāvi (illusionär), aber das Herz des Herzens von uns ist Parabrahman; und daher enthält jedes Atom dieser māyāvischen Hüllen, die wir tragen, sein eigenes fundamentales Element oder seine Grundessenz, die ebenfalls das Parabrahman ist.

Daraus ersehen wir, dass die wahre Lehre in Bezug auf Māyā nicht sagt, das Universum sei illusorisch im Sinne von nicht existierend; sie sagt nur, dass für uns, wie für andere Wesenheiten in anderen Universen, Parabrahman die Realität im Tempel des grenzenlosen Selbst ist, unsere innerste Essenz.

Das sichtbare und auch das unsichtbare Universum sind aus Hierarchien aufgebaut, die aus untereinander verbundenen Gruppen von Wesenheiten bestehen, die miteinander leben und wirken, wobei sie einem karmischen Schicksal folgen, das mehr oder weniger für alle gleich ist. Diese Regel der hierarchischen Strukturen erstreckt sich über die kosmische Unendlichkeit. Während sich eine Hierarchie des Grenzenlosen fast bis zur Göttlichkeit entwickelt hat und nahezu bereit ist, in das große Jenseits – Parabrahman – hinüberzugehen, um zu einem künftigen kosmischen Zeitpunkt einen neuen Evolutionslauf auf einer höheren Ebene zu beginnen, tritt in einem anderen Teil des Grenzenlosen eine neue Hierarchie ins Dasein. Das gilt nicht nur für Planeten, sondern auch für Sonnen, Sonnensysteme, Galaxien oder Universen. Die Natur wiederholt sich überall, obwohl sie in Einzelheiten unwahrscheinlich abwechslungsreich ist. Dieser Reichtum an Abwechslung und diese Einzelheiten bilden die Māyā des Universums. Die Essenz von allem ist grenzenlose Liebe, Harmonie, Weisheit und unendliches Bewusstsein: Dies ist das Herz jeder einzelnen Wesenheit – einerlei, wo und wann –, der Gipfel ihrer Hierarchie, die für sie ihr Brahman ist.

Diese Brahmans sind zahlenmäßig praktisch unendlich und ganz unterschiedlich in den Merkmalen und Abstufungen des Bewusstseins oder der Individualität. Diese unendlichen Variationen erzeugen die kosmische Māyā. Doch, als das All betrachtet, werden sie alle gemeinsam, besonders in ihrem höchsten Teil, mit dem Begriff JENES zusammengefasst. Man kann dieses Mysterium nicht mit menschlichen Worten beschreiben. Es Gott zu nennen wäre absurd, denn das Universum ist voller Götter. Jeder Mensch ist in seinem Innersten ein Gott. Jedes Atom ist im Herzen seines Herzens ein Gott. Jede Sonne im Raum ist nur die physische Manifestation eines Gottes; und jeder einzelne von uns wird sich in weit entfernten Äonen zu einer solchen Sonne entwickelt haben. Das wird nicht dadurch erreicht, dass wir unsere Erfahrung, unser Bewusstsein oder unsere Intelligenz stückweise erlangen, wie Darwin es sich irrtümlich vorgestellt hat, sondern durch das Herausevolvieren dessen, was Parabrahman im Inneren bereits ist. Das meinte Jesus, wenn er davon sprach: „Ich und mein Vater im Himmel sind eins.“

Parabrahman-Mūlaprakṛiti

Mit Sicherheit gibt es zwei Erscheinungsformen von Brahma: das Geformte und das Formlose. Das, was geformt ist, ist unreal; das, was formlos ist, ist real, es ist Brahma, es ist Licht.

Dieses Licht ist dasselbe wie die Sonne.

Maitrī-Upanishad, VI, 3

Sowohl in der Theosophie als auch im Advaita-Vedānta bedeuten Parabrahman und seine kosmische Hülle Mūla-Prakṛiti – zwei Seiten oder Elemente der einen Grundvorstellung – oftmals die grenzenlose Ausdehnung von Raum und Zeit jenseits von Brahman und seiner Hülle Pradhāna, unseres eigenen Universums. Es ist ein Irrtum, sich Parabrahman als eine wenn auch noch so unermesslich große und erhabene Wesenheit vorzustellen, denn jede Wesenheit, welche Größe sie auch haben mag, ist de facto begrenzt. Parabrahman bedeutet aber „jenseits“ von Brahman, und Brahman ist das Absolute, der Hierarch eines Universums; mit anderen Worten, die höchste göttlich-­spirituelle Wesenheit eines Universums oder Kosmos. Daher ist Parabrahman keine Wesenheit; es ist Unendlichkeit, JENES, das unbegreifliche All, das mit seinen uferlosen Bereichen jenseits des menschlichen oder göttlichen Bewusstseins liegt.

Absolut ist ein relativer Ausdruck. Philosophisch ist es das EINE, die kosmische Ursache: Aus dem Einen entstehen die Zwei; aus den Zweien kommt die Triade; aus der Triade kommt die kosmische Vierheit, die sich erneut durch die sich offenbarende Evolution in die manifestierte Vielheit der Differenzierung zerteilt. Das philosophische EINE ist daher das kosmische Absolute; aber es ist nicht die mystische Null, die die Unendlichkeit darstellt. Infolgedessen enthält die Null, weil sie Unendlichkeit ist, eine unendliche Zahl von kosmischen EINEN, auch kosmische Monaden genannt, und die Vielzahl niedrigerer Monaden, die von einem solchen kosmischen EINEN stammen. Es gibt kein Absolutes im Sinne von Unendlichkeit.

Jedes Wesen oder Ding, wie groß es auch sein mag, ist relativ – bezogen auf etwas anderes und auf alle anderen. Jedes Absolute ist der Hierarch seiner eigenen Hierarchie, es ist das EINE, aus dem alle folgenden Differenzie­rungen bis zur Grenze dieser Hierarchie emanieren. Jedes einzelne Absolute ist ein kosmischer Jīvanmukta, womit eine Wesenheit bezeichnet wird, die einen Zustand von relativ vollständiger Befreiung erreicht hat – der Moksha oder die Mukti des Brahmanismus und das lateinische Wort absolutum bedeuten losgelöst, befreit zu sein von der Abhängigkeit von allen niedrigeren Ebenen, denn sie sind deren Meister oder Verursacher. Daher ist das Absolute die höchste Gottheit oder der Stille Wächter der Hierarchie des Mitleids, die die Lichtseite eines Universums oder einer kosmischen Hierarchie bildet.

Zwischen einem kosmischen Jīvanmukta, der ein Absolutes ist, einem kosmisch „Befreiten“ und JENEM besteht ein gewaltiger Unterschied. Wenn wir die Unendlichkeit fälschlich das Absolute nennen, schaffen wir sofort das mentale Bild eines endlichen Wesens, auch wenn es noch so groß ist. Wenn man behauptet, die Unendlichkeit sei absolut, so ist das philosophisch unmöglich. Unendlichkeit ist weder absolut noch nicht absolut. Absolut ist ein Adjektiv, das gewisse logische Attribute einschließt und daher Begrenzung bedeutet. Für die Unendlichkeit können keine solchen Attribute festgestellt werden. Sie ist weder bewusst noch unbewusst, weil diese und alle anderen ähnlichen menschlichen Attribute zu manifestierten und daher nicht unendlichen Wesen und Dingen gehören.

Die falsche Anwendung des Wortes absolut entsprang aus der christlichen Psychologie eines persönlichen Gottes, einer unendlichen Person, von der sich die europäischen Philosophen nicht lösen konnten. Sie verfolgten eine logische Denkrichtung, die aus einer richtigen Vorstellung entstand; aber der von ihnen angewandte Ausdruck ist falsch. Eine Person kann nicht unendlich sein; das ist ein begrifflicher Widerspruch. Wenn der Gipfel einer Hierarchie auch eine absolute Person sein kann, so ist dieser Hierarch nur einer aus einer unendlichen Anzahl anderer Hierarchen. Aber das Unendliche ohne Zahl, Eigenschaft, Einschränkung oder Form ist nicht absolut. Dies rührt an die Wurzeln des alten theologischen und philosophischen Aberglaubens. Obwohl HPB häufig das Wort Absolutes in der gewöhnlichen und irrtümlichen Bedeutung benutzte, wusste sie doch ganz genau, wie es grammatikalisch und logisch richtig anzuwenden ist. In ihrem Theosophical Glossary (Theosophisches Wörterbuch) schreibt sie unter dem Stichwort „Absolutheit“:

Wenn vom UNIVERSALEN PRINZIP gesprochen wird, so ist diese Bezeichnung ein abstraktes Hauptwort, was für dieses Prinzip korrekter und logischer ist als das Eigenschaftswort „absolut“, das weder Eigenschaften noch Begrenzungen hat und auch keine haben kann.

Was Mūla-Prakṛiti betrifft, so ist dieser Ausdruck ein zusammengesetztes Sanskrit-Wort, das Mūla, Wurzel, und Prakṛiti, Natur, enthält. Es bedeutet daher elementale oder ursprüngliche Natur. Es ist die andere Seite von Parabrahman, aber insbesondere die Wurzelmaterie jedes hierarchischen Systems.

Ein Universum ist beides; in seiner Essenz ist es sowohl Mūla-Prakṛiti als auch Parabrahman, weil es aus Scharen von individuellen Monaden gebildet wird. Das Herz einer Monade ist grenzenloser Raum; und grenzenloser Raum hat zwei Aspekte, Leben oder Energie und Substanz oder Form. Man kann das eine nicht vom anderen trennen.

Leben oder Energie ist das, was man Parabrahman nennen kann; Substanz oder Vehikel ist Mūla-Prakṛiti. Wenn es möglich wäre, Mūla-Prakṛiti auszutilgen, was nicht geht, würde man reines Bewusstsein, reine Energie erhalten; und das ist wiederum nicht möglich, weil Energie und Materie zwei Seiten der gleichen Sache sind, wie Kraft und Substanz. Elektrizität ist z. B. sowohl Energie als auch Substanz; und Bewusstsein ist ebenfalls Energie und auch Substanz.

Unser Körper ist hauptsächlich Mūla-Prakṛiti, Wurzelsubstanz, eine als Grundlage dienende Essenz, die sich als Form manifestiert. Dies trifft auch für alles andere zu – einen Stern, ein Stück Holz, einen Stein, ein Tier, einen durch die Luft schwebenden Distelsamen. Ihre Essenz ist Mūla-Prakṛiti; und in den abgrundtiefen Räumen ist Mūla-Prakṛiti aber auch Parabrahman.

Mit diesen beiden Worten Parabrahman und Mūla-Prakṛiti erhalten wir eine Vorstellung, die sich völlig von der vagen mentalen abendländischen Abstraktion von einem Unendlichen unterscheidet, die nichts weiter bedeutet als eine Negierung: nicht endlich. Alles, was das menschliche Bewusstsein aufnehmen kann, ist, dass Parabrahman genau das ist, was wir um uns herum sehen – soweit es uns die physischen Sinne übermitteln können –, aber es ist grenzenlos. Daher ist Parabrahman keine Wesenheit; als Wort ist es ein beschreibendes Eigenschaftswort, das in ein Hauptwort umgewandelt ist und lediglich jenseits von Brahman bedeutet. „Wie oben, so unten“ – wobei es zwischen dem Oben und dem Unten keinen wesentlichen Unterschied gibt. Jedes Atom ist in einem Molekül daheim; jedes Molekül ist in einer Zelle zu Hause; jede Zelle in einem Körper; jeder Körper in einem größeren Körper; der größere Körper – in diesem Fall unsere Erde – hat seine Heimat im Sonnenether; das Sonnensystem hat sein Heim in der Galaxis; die Galaxis in einem Universum; das Universum hat sein Heim in einem größeren Universum; und so weiter, ad infinitum. Und dieses ad infinitum ist unsere Art, Parabrahman auszudrücken, jedoch mit dem tiefgründigen und grund­legenden Unterschied, dass die inneren, unsichtbaren, spirituellen Welten der Grundgedanke sind, der vom westlichen Denken beinahe gänzlich ignoriert wird.

Alles existiert in etwas weit Größerem, als es selbst ist, und enthält Scharen von Wesen, die ihm gegenüber geringer sind. Als H. P. Blavatsky Para­brah­man mit Raum bezeichnete, meinte sie nicht die Leere, sie benutzte diesen Ausdruck vielmehr in fast der gleichen Weise wie Dauer. Geradeso wie Dauer mit Zeit angefüllt ist, mit Momenten, mit zeitlichen Augenblicken, genauso ist der Raum mit manifestierten Monaden und mit Absolutheiten angefüllt, die weit fortgeschrittenere Monaden sind und die wiederum Armeen und Scharen von evolvierenden Monaden enthalten, die niedriger sind als sie.

Das alles bedeutet Parabrahman, und Mūla-Prakṛiti ist nur die andere Seite davon – die Seite der Ausdehnung und der Wandlung. Wir können sagen, dass Parabrahman die Bewusstseinsseite und Mūla-Prakṛiti die Raumseite ist. Parabrahman ist nicht eine Art Gott. Es ist einfach Raum. Wie das Wort „unendlich“ ist es ein rein verallgemeinender Ausdruck, ein Geständnis, dass hier das menschliche Bewusstsein endet. Der Ausdruck „das Grenzenlose“ ist ebenfalls ein verbaler Widerspruch. Gerade dieses Grenzenlose ist mit endlichen, begrenzten Wesen und Dingen angefüllt. Wir wenden diese Ausdrücke, die reine Abstraktionen sind, an, als wären sie konkrete Realitäten, und machen uns Gedanken darüber und betrügen uns dabei selbst.

Alles – auch das, was wir JENES nennen – ist in etwas Größerem enthalten. Das Wort JENES genügt jedoch, um das ganze Ausmaß dieser Vorstellung zu umfassen. Eine Galaxis ist eine kosmische Zelle; und das, was man Insel-Universen nennt, sind andere kosmische Zellen. Diese kosmischen Zellen sind im intergalaktischen Ether eingetaucht und zu einem ultrakosmischen unbegreiflichen Wesen vereinigt. So verhält es sich auch mit den Zellen des menschlichen Körpers. Obwohl sie unter dem Mikroskop als getrennt von­ein­an­der erscheinen, sind sie doch miteinander verbunden, um den Körper zu bilden, der seinerseits wiederum in einer Welt lebt.

Eine interessante wissenschaftliche Darstellung des gleichen Gedankens enthalten zwei Abschnitte aus Consider the Heavens (1935) von Dr. Forest Ray Moulton, dem bekannten amerikanischen Astronomen, die ich hier anführen möchte:

Die Grundeinheiten, aus denen wir zusammengesetzt sind, sind Moleküle und Molekülketten. Unsere Lebensprozesse werden in den Begriffen ihrer Merkmale ausgedrückt, unsere Gedanken sind durch ihre Wechselwirkungen bedingt. Vielleicht gibt es aber in den unendlichen Reihen von kosmischen Einheiten andere, die die Rolle von Molekülen in lebenden Organismen spielen. Sub-Elektronen der hundertsten Größenordnung können sozusagen die Moleküle von bewussten Wesen sein, die eine Million von Generationen in einer Zeitspanne durchleben, die für uns eine Sekunde ist. Und Supergalaxien der hundertsten Größenordnung können ebenso die Moleküle von bewussten Wesenheiten sein, deren Lebenszyklen unvorstellbare Zeitperioden beanspruchen. Auf alle Fälle haben wir in unserer Unwissenheit kein Recht anzunehmen, dass es nur auf unserer Ebene innerhalb der unendlichen Möglichkeiten Leben gibt.

– S. 300

Lassen Sie uns daher nochmals die Existenz intelligenter Wesen annehmen, deren Bestandteile – deren Atome sozusagen – Galaxien oder Supergalaxien von Sternen sind. Ihre Lebenszyklen werden in Millionen von Milliarden Jahren gemessen, denn solche Zeitperioden sind für bedeutende Umwand­lungen von Supergalaxien der höheren Ordnungen erforderlich. Für diese Wesen sind sie nur die Zellen in ihren Körpern oder die Blutkörperchen, die in ihren Adern kreisen. Wenn sie atmen, strömen aus ihren Nasen­löchern Fluten von Supergalaxien; wenn ihr Herz schlägt, werden Galaxien von einer Milliarde Lichtjahren erschüttert. Denn diese Wesen, die uns bekannten Galaxien, sind nur die Elektronen oder Photonen, deren Gravitationsexpansionen und Kontraktionen und deren Schwingungsformen sich wie Wellenstöße zum Ausdruck bringen. Für ihre großen Sinnesorgane haben so winzige physische Einheiten wie Galaxien keine genau definierbaren Positionen oder Bewe­gungen, obwohl diese Wesenheiten fortdauern und über ein quantitatives Merkmal verfügen. Für sie sind die Galaxien die primären Elementarteilchen in einem Chaos, aus dem nach den statistischen Mittelwerten ein beträchtliches Maß an Ordnung in den Supergalaxien in Erscheinung tritt.

– S. 330

Zusammengefasst bedeuten Parabrahman und Mūla-Prakṛiti also eindeutig grenzenloser Raum mit all seinen darin wohnenden Scharen von Wesenheiten. An jedem beliebigen Punkt kann hier, dort oder anderswo plötzlich ein Logos aus seinem Pralaya in die Manifestation eintreten. Millionen dieser Logoi können gleichzeitig in neue Manvantaras hervorbrechen, und andere Millionen können in ihre entsprechenden Pralayas eintreten.

Die kosmische Evolution und ihr Anfang ist allgemein in den alten Kosmogonien so beschrieben worden: „Im Anfang war JENES“; und dieser Anfang bedeutete nicht einen absoluten Beginn aller Unendlichkeit, was absurd ist, sondern einen Anfang von irgendwelchen Anfängen eines Systems in der grenzenlosen Dauer. Zum Zeitpunkt seines Beginns quillt der Logos hervor, wobei Logos einer von diesen unzähligen monadischen Punkten in JENEM bedeutet; und aus diesem einen Logos entwickelt sich eine Hierar­chie – entweder eine kosmische Hierarchie oder ein Sonnensystem, ein menschliches Wesen oder ein Atom. Und diese Logos-Punkte sind zahllos, jeder mathe­matische Punkt im Raum ist ein potenzieller Logos.

In und um alle derartigen Manifestationen kosmischer Logoi oder Universen gibt es jenes Mysterium der Mysterien, von dem die archaischen Weisen in ihrer Ehrerbietung selten sprachen, und wenn, dann nur in Andeutungen. Die vedischen Ṛishis im alten Indien nannten es TAT. Dies ist das Namenlose, das ebenso über der Intuition der höchsten Götter in allen manifestierten Universen steht, wie es über dem menschlichen Verständnis liegt. Es ist grenzenlose Unendlichkeit, anfanglose und endlose Dauer und das ganz und gar unbegreifliche grenzenlose Leben, das für immer IST.

Manvantara: ein Traum, eine Māyā

Oh Brāhman, die Grundlage dieser Erde und anderer Dinge des Universums ist das Bewusstsein, und kein Ding existiert jemals getrennt davon. Für fast alle Menschen dieser Welt, die auf dem Pfad dieses Universums aus Träumen, Täuschungen und Egoismus wandern, ist dieses Universum wirklich, und sie erfreuen sich daran. Nur für Chitta (das umherflatternde Gemüt) ruht das Universum. … Wahrhaftig unfassbar wie die Ähnlichkeit zwischen einer Krähe und den Früchten der Palmyrapalme sind die Wirkungen oder Manifestationen des Bewusstseins. So sehen verschiedene Personen den einen Traum (des Universums) unterschiedlich. Viele Knaben unterhalten sich mit nur einem Spiel auf mannigfache Weise.

Laghu-Yoga-Vāsishtha, V, 5

Māyā oder Illusion ist keine Täuschung im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Sie bedeutet nicht etwas, was nicht existiert. Die Illusion um uns und in uns ist insofern „wirklich“, als sie tatsächlich existiert. Unsere Māyā oder Illusion entsteht aus der Tatsache, dass wir die Dinge nicht sehen, wie sie sind, und uns oft eigensinnig weigern, sie zu verstehen. Deshalb unterliegen wir dem täuschenden Spiel unserer eigenen verwirrten inneren Fähigkeiten. Jeder Fanatiker, wie aufrichtig er auch sein mag, ist zum Beispiel in das Gewebe seiner eigenen Missverständnisse verstrickt.

Allein diese Tatsache hat eine große moralische Bedeutung, denn sie lehrt uns, anderen gegenüber freundlich zu sein, indem wir unser eigenes mangelhaftes Verständnis erkennen, und außerdem zeigt sie uns, wie stark unser Hang und unsere Vorliebe sind, die Dinge wie durch ein geschwärztes Glas zu sehen. Der Wissenschaftler aus der Zeit vor hundert Jahren, dessen Ansichten über das physische Universum sich heute als falsch herausgestellt haben, der aber in seiner fanatischen Meinung, die Wahrheit erlangt zu haben, verharrte, stand sowohl unter der Māyā seiner Zeit als auch unter der Māyā, die seine eigene unvollkommene Fantasie hervorgebracht hatte. Der religiöse Eiferer, der die nach dem heutigen hohen Wissensstand als falsch oder nur als teilweise wahr erkannten theologischen Lehren vertrat, war ebenso einer ähnlichen Māyā unterworfen. Der Materialist, der behauptete, der Mensch sei nichts anderes als ein belebter Mechanismus, stand genauso unter dem illusorischen Einfluss wie der religiöse Eiferer, der glaubte, dass am Tag des Jüngsten Gerichts „aus allen Himmelsrichtungen klappernde Knochen zusammenfliegen“, wie der einst hoch in Ehren stehende Dr. Watts gesungen hat.

Wir weben vielleicht mit größter mentaler und gefühlsmäßiger Überzeugung vielerlei illusorische Gedanken und Meinungen und sind eine Zeitlang überzeugt, recht zu haben, um später, wenn wir durch Erfahrung mehr gelernt haben, zu erkennen, dass wir nur Sklaven der Māyā unserer eigenen falschen Vorstellungen waren. Einige der wissenschaftlichen Theo­rien, die heutzutage so eifrig verbreitet werden, sind ebenso māyāvisch wie irgendetwas, was aus den Geschichtsbüchern angeführt werden könnte; aber solange diese Illusio­nen andauern – mögen sie wissenschaftlich, philo­sophisch, theologisch oder von anderer Art sein – sind sie für diejenigen, die an ihnen festhalten, relativ real.

Die Lehre von Māyā wird im Grunde genommen in der einen oder anderen Form von jeder der großen religiösen und philosophischen Schulen des alten und neueren Hindustans gelehrt. Sie ist besonders im Advaita-Vedānta erkennbar und ebenso ist sie ein Kennzeichen des Buddhismus und heute in den nördlichen Schulen des Mahāyāna ausgeprägter zu finden als im süd­lichen Buddhismus des Hīnayāna.

Das Wort Māyā ist von der Zeitwortwurzel abgeleitet und bedeutet ausmessen, Maß und Ziel setzen; in erweitertem Sinne bedeutet es Begrenzung, vergängliche Eigenschaft und alles, was nicht von Dauer ist. So sehen wir hier fast die gleiche Unterscheidung, die oft in gewissen europäischen philosophischen Schulen gemacht wird, zwischen dem was ist, oder anders ausgedrückt, zwischen dem Realen und dem was lediglich ex-istiert oder eine phänomenale Erscheinung darstellt. Es ist ein kleiner Schritt von diesen allgemeinen Ideen zu der Erkenntnis, dass alles, was phänomenal und daher vergänglich ist, irreführend ist und an sich keine immerwährende Realität besitzt. Aus diesem Gedanken erwuchs in den hinduistischen philosophischen Systemen einschließlich des Buddhismus die allgemeine Idee, dass alles, was illusorisch ist, in seltsamer Weise magisch ist, weil ein falscher Eindruck erweckt wird, der sowohl das Gefühl wie den Verstand täuscht.

Betrachten wir den Menschen: Im Wesentlichen ist er eine göttlich-spirituelle Monade, die durch alle phänomenalen und deshalb illusorischen Welten und Sphären manifestierter Existenz wandert. Diese göttlich-spirituelle Monade ist an sich ewig, weil sie ein Tröpfchen des kosmischen Logos, des kosmischen Geistes, der Realität für alles innerhalb unseres Universums ist. Alle verschiedenen Teile der menschlichen Konstitution, in die sich diese Monade hüllt, sind jedoch wegen ihrer mehr oder weniger vergänglichen Art im Vergleich zur göttlichen Monade Illusionen. Vom Menschen zu sagen, er habe kein reales Sein und keine tatsächliche Existenz, wäre albern, denn er besitzt diese ganz entschieden; jedoch lediglich seine verschiedenen Monaden sind die Tröpfchen der Ewigkeit. Alles Übrige von ihm ist die durch Karma in Zeit und Raum hervorgebrachte „Magie“, die mit der Erzeugung aller phänomenalen Aspekte seiner Konstitution verbunden ist.

Da die Māyā des niederen Teiles aller Wesen oder Dinge, ob wir nun von Galaxien oder vom Menschen sprechen, tatsächlich existiert und alles, was ist, hervorbringt, ist es klar, dass die uns umgebenden mannigfaltigen Arten nicht ganz und gar nichtexistent sind; sie sind von der dahinter stehenden Realität auch nicht völlig verschieden und getrennt. Wenn dies so wäre, würden wir sofort eine unerklärliche Qualität zwischen der fundamentalen Realität und der manifestierten Illusion ersinnen und es gäbe keine Möglichkeit, zu erklären, wie die Erscheinungswelt aus der bloßen Idee oder dem Realen hervorgeht. Nach dieser falschen Theorie wären die beiden gänzlich getrennt und die Erscheinungswelt ohne ursprüngliche Verbindung mit dem Realen. Somit ist – philosophisch gesehen – selbst Māyā oder Mahā-Māyā eine Funktion des Realen – sein Schleier – der aus dem Realen selbst hervorgeht und schließlich dazu bestimmt ist, sich wieder mit dem Realen zu vereinigen.

Lassen sie uns nun einen Aspekt der Lehre von Māyā behandeln, über den in den exoterischen philosophischen Systemen in der Regel hinweggegangen wird. Alle manifestierten Wesenheiten, Welten und Ebenen können im höchsten und wahrsten Sinne als die Visionen oder Träume angesehen werden, die im und vom kosmischen Bewusstsein oder kosmischen Geist zu Beginn des universalen Manvantaras erzeugt werden.

Beim Menschen ist die Inkarnation des spirituellen Ego ein relativer „Tod“ für dieses Ego; und ebenso ist das Ende der Verkörperung in den materiellen Welten ein Wiedererwachen des spirituellen Ego in einem größeren Ausmaß des Selbstbewusstseins in und auf seinen eigenen Ebenen und Welten. In gleicher Weise und immer dem Hauptschlüssel der Analogie folgend ist das, was wir Manvantara nennen, der Tod für den kosmischen Geist – in paradoxem Sinne eine Art Devachan oder auch ein Kāma-Loka des kosmischen Geistes oder Bewusstseins; und erst wenn das Manvantara endet und der Pralaya beginnt, verschwinden diese Träume und Visionen des kosmischen Geistes, und sein unermessliches Bewusstsein erwacht erneut zur vollen Realität seiner eigenen erhabenen Selbstheit.

Daraus können wir zwei Schlussfolgerungen ziehen: (a) Wenn Devachan mit der Illusion des irdischen Lebens verglichen wird, so kommt es zunächst der Wirklichkeit näher, ist aber nichtsdestoweniger noch mehr eine Māyā, als es die selbstbewussten und Ursachen hervorbringenden Erfahrungen dieser Erde sind; denn die devachanischen Träume, so schön und spirituell sie auch sein mögen, sind trotz allem Träume. Und (b): Nur im Nirvāṇa, jenem Zustand, in dem alle Māyā „ausgelöscht“ worden ist, spürt die spirituelle Monade das Reale und ist von ihren illusorischen Träumen befreit, die nichts anderes sind als die ungeheuren Erfahrungen, herbeigeführt durch die Wanderungen in der manifestierten Existenz. Und genau so ist es mit dem Universum und seiner Mahā-Māyā.

Somit können wir sehen, dass alle manifestierten Welten in ihren Erscheinungen real sind, weil sie als eine illusorische und daher magische Tätigkeit des kosmischen Geistes existieren und weil essenzielle Realität ihr Hintergrund und ihre Quelle ist. Es ist wichtig, diesen Punkt zu verstehen, denn wenn wir Māyā als das absolute Nichtsein der Erscheinungswelt ansehen, weichen wir weit von der wahren Lehre ab. Die Erscheinungswelt ist illusorisch und dennoch auf Realität gegründet, weil sie daraus hervorgeht.

Das ist der Grund, warum die Lehre von Māyā so leicht die Bedeutung von magischer Illusion oder das Wirken einer magischen Kraft in der Natur erhalten hat. In verschiedenen Abschnitten der archaischen philosophischen Bücher der Hindus sind bestimmte kosmische Gottheiten, wie Varuna oder Indra, mit magischen Kräften der „Täuschung“ bekleidet. Diese Abschnitte weisen direkt darauf hin, dass die Erscheinungswelt des Universums das Produkt der intelligenten Fantasie der kosmischen Imagination ist, die das Universum und alles in ihm erträumt.

In dem folgenden Auszug aus dem Yoga-Vāsishtha-Rāmāyaṇa (Kapitel XII) wird dies gut erläutert:

Während der großen Ruhezeit des Mahā-Pralaya verbleibt Brahm allein als endloser Raum und erhabener Friede. Und wenn es am Ende des Mahā-Pralaya in Form von Chit (Bewusstsein) erneut erwacht, stellt es sich vor: „Ich bin ein Lichtpunkt“, geradeso wie du dich in deinen Träumen in einer gefälligen Form siehst. Dieser Lichtpunkt glaubt wieder an seine Selbst-Ausdehnung: „Ich bin groß.“ Jene in Wirklichkeit nicht echte Masse wird das Brahmāṇḍa. In diesem Brahmāṇḍa denkt Brahm erneut: „Ich bin Brahmā“, und Brahmā wird augenblicklich der Beherrscher eines ungeheuren mentalen Reiches, das diese Welt ist. In dieser ersten Schöpfung nahm das Bewusstsein viele Formen an; und die Wurzelformen, die das Bewusstsein in jenem Anfang annahm, bleiben unveränderlich während des ganzen Kalpa bestehen. Das ist die Bestimmung, die Art und das Gesetz der Dinge, während jenes ursprüngliche Bewusstsein andauern wird. Es schafft unseren Raum und unsere Zeit und die Grundelemente. Es bildet sie aus Asat. Durch diese Bestimmung ist auch die menschliche Lebensspanne festgelegt worden, die in den verschiedenen Yugas entsprechend den veränderlichen Graden von Sünde und Verdienst schwankt.

Derselbe Gedanke ist in verschiedenen Abschnitten der Purāṇas und Upani­shaden, im Ṛig-Veda und gleicherweise in der Bhagavad-Gītā enthalten

Wir Menschen sind integrale Teile des kosmischen Ganzen; und indem wir an all seinen Merkmalen und Eigenarten teilhaben, folgen wir den Gesetzen und Funktionen des Universums, dessen Abkömmlinge wir sind. Dies ist der Grund, weshalb wir nicht nur Subjekt von Māyā sind, sondern auch JENES als unsere göttlich-spirituelle Natur in uns haben, was uns durch evolutionäres Wachstum schließlich ermöglicht, selbst das Reale zu erkennen.

Das magische Blendwerk von Māyā umgibt uns von allen Seiten; doch andererseits ist Nicht-Illusion, das kosmische Noumenon oder das Herz von Śūnyatā, unser eigenes Innerstes. Und gerade auf dieses Innerste bezieht sich HPB, wenn sie von Alaya als „der Universalseele oder Ātman“ spricht – das, was keinen Erscheinungen angehört, weil es niemals in Illusion zerrinnt. Selbst unsere wissenschaftlichen Forscher vermuten, dass physische Materie an sich illusorisch ist – „hauptsächlich Löcher“. Was wir physische Materie nennen, ist nicht Substanz per se, sondern nur Erzeugnis oder Manifestation einer gewissen zugrunde liegenden Realität; damit verglichen ist unser Universum „śūnya“, leer.

Einige Mahāyāna-Schriften führen achtzehn Arten auf, um Leere oder Śūnyatā  zu beschreiben, in der Absicht, das Unreale oder die Leere von allem in der allumfassenden Natur darzustellen, wobei die ursprüngliche Realität ausgenommen ist. Das sind wirklich eine Menge philosophischer Wider­sprüche, die ein wenig an die griechische Schule von Heraklit erinnern. Wegen seiner intellektuellen Spitzfindigkeit, Paradoxa aufzustellen, die sowohl das Pro als auch das Kontra der philosophischen Prinzipien erkennen lassen, wurde Heraklit „der Schwerverständliche“ genannt.

Von buddhistischen Kommentatoren wird wiederholt darauf hingewiesen, dass die ganze Tragweite des Gedankens der Leere nur durch Prajñā oder buddhisches intuitives Begreifen erfasst werden kann. Leere ist kein spekulativer Begriff, der in irgendeine Kategorie logischen Denkens eingefügt werden kann. Sie bleibt unerreichbar und unvorstellbar, denn sie ist äußerste Realität, gänzlich jenseits der Grenzen der manifestierten Welt. Daher wurde sie gleichbedeutend mit dem Begriff des Soseins (Tathātā). Von Leere und Sosein kann gesagt werden, dass sie die Mahāyāna-Wahrnehmung des Realen sind. Begrifflich können sie nicht rekonstruiert, sie müssen vielmehr intuitiv erkannt werden.

Indem wir wieder auf die das Universum „erträumende“ kosmische Intelligenz zurückkommen, sollten wir daran denken, dass das Absolute, in anderer Hinsicht das kosmische Bewusstsein, sich nicht völlig als Māyā, sondern nur in der Art des „Träumens“ projiziert – das heißt, es wird nicht völlig zur Erscheinungswelt. Dies wäre genauso falsch, wie anzunehmen, dass die spirituelle Monade im Menschen bei der Inkarnation völlig in den menschlichen Körper herabsteigt. Sie entsendet vielmehr aus sich einen Strahl, der, gerade weil er ein Teil und nicht die spirituelle Monade in ihrer Gesamtheit ist, mit seinem Ursprung verglichen eine relative Māyā ist.

Hinduistische Vorstellungen von Māyā

In allen Zeitaltern hat der menschliche Geist verschiedene philosophische, wissenschaftliche und religiöse Theorien über die Entstehung des Universums entwickelt. Sie unterschieden sich jedoch hauptsächlich in der Art der Darstellung, denn alle großen Geister der Vergangenheit verkündeten die gleiche Weisheitslehre, die gleiche Theosophie, die ursprünglich den ersten selbstbewussten Menschen auf dieser Erde durch mānasaputrische Wesen von anderen Ebenen vermittelt wurden. Im Verlaufe der Zeit verschwanden jedoch die ursprünglichen Bedeutungen dieser kosmischen Philosophien aus dem Blickfeld und nur die Worte verblieben; und so entstanden Schulen verschiedener Gedankenrichtungen, wobei jede Schule mehr oder weniger der rein exoterischen Auslegung des ursprünglichen religiös-philosophischen Systems, zu dem sie gehörte, folgte.

Zum Beispiel lehrten einige Denker des alten Indien die Ārambha-Lehre, nach der das Universum durch eine höchste Intelligenz aus kosmischem Material, das zuvor im Raum existierte, erschaffen wurde. Diese Schule vertrat die Auffassung, dass das Universum durch eine einzelne unermessliche Gottheit gebildet worden sei und daher einen „Anfang“ gehabt habe (was im Wesentlichen die Bedeutung des Sanskrit-Wortes Ārambha ist). Das christ­liche System ging in derselben Richtung noch weiter und entwickelte ein gänzlich unphilosophisches Gedankengebäude von diesen Dingen, in welchem ein unendlicher persönlicher Gott das Universum aus dem Nichts erschuf. Dies war lediglich die entartete Ārambha-Idee. Die Hindu-Philo­sophen hatten jedoch insofern recht, dass jedes Universum seine periodischen Anfänge und Beendigungen hat, wenn es auch bestimmt nicht als das äußerste Produkt des Willens und der Intelligenz eines erhabenen Geistes, der vermutlich ohne Verantwortung handelte, „erschaffen“ wurde. Tatsache ist, dass jedes Universum lediglich das Karma oder die Reproduktion seines früheren Selbst ist – eines früheren Universums, das seiner eigenen Wiederverkörperung vorausging –, und dies wiederholt sich in ewiger Dauer, obwohl durch den Prozess evolutionären Wachstums sich überall fortschreitende Verbesserungen einstellen.

Eine andere Schule brachte die Pariṇāma-Lehre, bei der angenommen wurde, dass das Universum – jegliches Universum – durch eine erhabene kosmische Intelligenz aus Geist und Substanz, die aus ihrem Inneren sich in die Manifestation ergießt, hervorgebracht werde. Diese spezielle Idee von der Emanation11 stimmt mit der esoterischen Tradition überein, die jedoch einen sehr wichtigen Punkt noch hinzufügt, nämlich dass diese erhabene kosmische Intelligenz nur eine von unendlich vielen anderen solcher Intelligenzen sei und nicht allein und einzigartig im grenzenlosen Raum existiere.

Eine dritte Schule, die Vivarta-Schule, legt als wesentlichen Bestandteil ihrer Lehre dar, dass das Universum aus dem Göttlichen als eine Abwandlung oder Modifizierung seiner selbst und daher als ein unbeständiges und deshalb māyāvisches Erzeugnis hervorging. Hier stimmen wir wieder mit gewissen Faktoren ihrer Lehre überein. Der Fehler dieser Schule liegt aber anscheinend darin, dass sie behauptet, ein Teil der göttlichen Essenz werde tatsächlich eine Illusion, anstatt zu erkennen, dass das manifestierte Universum zwar tatsächlich eine vorübergehende kosmische Illusion ist, dies aber nur relativ so ist, weil das manifestierte Universum auf dem Substrat der Realität beruht.

Diese drei Schulen können mit Wissenschaft, Philosophie und Religion verglichen werden: die Ārambha mit der wissenschaftlichen Anschauung, die Pariṇāma mit der philosophischen Vorstellung und die Vivarta mit der religi­ö­sen Art, die Wahrheit zu sehen.

Um es zu wiederholen: Die Ārambha ist diejenige Ansicht über den Ursprung der Dinge, die als wissenschaftlich qualifiziert wird und das Universum als ein sich fortentwickelndes „neues“ Erzeugnis von vorher existierender kosmischer Intelligenz und vorher existierenden „Punkten“ der Individualität sieht. Wir würden diese „Punkte“ eher Monaden als Atome nennen. Obwohl solch ein neu hervorgebrachtes Universum als das karmische Resultat eines vorausgegangenen Universums, des früheren „Selbst“ des gegenwärtigen, erkannt wird, wird dennoch die Betonung auf Anfänge gelegt, auf das Universum als eine „neue“ Produktion, etwa so, wie die Wissenschaftler das Universum auffassen.

Die Pariṇāma, obgleich sie viele Berührungspunkte mit der Ārambha hat, legt die Betonung darauf, dass das Universum durch Kräfte, Wesenheiten und Substanzen hervorgebracht werde, die sich von innen her entfalten und so das Universum durch eine Art ausströmende oder evolutionäre Wandlung oder Entfaltung ins Dasein brächten.

Das Vivarta-System dringt noch tiefer in das kosmische Mysterium ein und richtet seine Aufmerksamkeit auf die unendliche Dauer der göttlichen Essenz. Dieses System nimmt an, dass die göttliche Essenz Erscheinungen12 ihrer selbst durch Modifikationen ihrer selbst (oder von Teilen ihrer selbst) erzeuge, hervorgebracht durch ausströmende Evolution von innen, wobei diese Modifikationen die kosmische Mahā-Māyā seien. Folglich wird das gesamte objektive, sichtbare und unsichtbare Universum als illusorisch an­gesehen, weil es nur eine kollektive Modifikation oder eine Reihe von Modifikationen der erzeugenden göttlichen Essenz ist. Diese bleibt zuletzt immer sie selbst, bringt jedoch Erscheinungen von sich durch Objektivierung infolge sich entfaltender Abläufe oder ausströmender Evolution hervor.

Diese drei Schulen existieren immer noch in Indien, mit größeren oder kleineren Abweichungen. Ihre Ideen haben auch in anderen Teilen der Welt Verbreitung gefunden. Obschon sie Elemente der Wahrheit enthalten, scheinen sie doch eine „schöpferische“ höchste Intelligenz vorauszusetzen, die als ein Individuum in mehr oder weniger menschlicher Weise als Schöpfer oder Gestalter arbeitet; alle drei Lehren sind zu sehr vermenschlicht.

In theosophischer Sicht wird der grenzenlose Raum als ein Raum betrachtet, der grenzenlose Gebiete enthält, und in jedem winzigsten mathe­matischen Punkt darin ist schöpferisches und gestaltendes Leben und Substanz. Während in einem Teil des sichtbaren und unsichtbaren Grenzenlosen ein Universum ins Dasein treten kann, kann in einem anderen Teil ein anderes Universum sein manvantarisches Ende erreichen und sich für seinen kosmischen Pralaya vorbereiten. Man stellt sich die Unendlichkeit falsch vor, wenn man annimmt, dass sie zu irgendeiner Zeit eine aktive, schöpferische Kraft ist, die aus ihrem Inneren Universen hervorbringt, denn das schließt willentliche und gestaltende – daher begrenzte – Tätigkeit ein. Die Wahrheit ist, dass jedes Universum sich selbst als eine Raumeinheit in die Manifestation bringt, weil in ihm Saaten von aktiver Individualität liegen, obwohl es ewig im Grenzenlosen existiert. Dieser Prozess des Erscheinens, Verschwindens und ins Dasein tretens von Universen durch ihr eigenes angeborenes, individuelles Leben, durch ihr Bewusstsein und ihre Energie ist ein Teil der Lehre von Svabhāva13 – charakteristische Selbsterzeugung.

Alle derartigen Wesenheiten oder Wesen – ob ein Universum oder ein irgendwo wanderndes Lebensatom – sind von dem umfassenden Geist und dem Bewusstsein, von der Substanz und der Kraft des grenzenlosen ALLS umgeben und durchdrungen. Wie HPB es ausdrückte: „… dass die Unerkenn­bare Ursache nicht die Evolution hervorbringt, weder bewusst noch un­bewusst, sondern dass sie lediglich periodisch unterschiedliche Aspekte ihrer selbst der Wahrnehmung endlicher Gemüter darbietet.14

Gemeint ist hier, dass die „unerkennbare Ursache“ kein Individuum im Sinne eines Schöpfers ist, sie ist vielmehr der ungeheure, grenzenlose kosmische Ozean, aus dem alles hervorgeht, in dem alles für immer ist und in den alle Wesenheiten schließlich für ihre jeweiligen Perioden der Ruhe und Erholung zurückkehren. Es wäre völlig falsch, sich grenzenlose Unendlichkeit als ein Individuum vorzustellen, das mit den Wogen evolvierenden Lebens anschwillt und dahinrollt. Alle derartigen Begriffe kosmischer Prozesse sind endlich, ganz gleich wie riesig diese in unserer menschlichen Vorstellung auch sein mögen. Von der Unendlichkeit, von der Ewigkeit, von dem Unerkennbaren kann nicht gesagt werden, dass sie sich entwickeln, weil nur endliche Dinge evolvieren, denn Evolution ist ein endlicher Prozess. Evolution ist nur eine andere Art, um das Wirken Karmas auszudrücken, d. h. das sich aus­wirkende Karma und die Evolution sind praktisch identisch.

Im Bewusstsein der Wesen vom Grade eines Dhyāni-Chohans ist die menschliche Entwicklung hier auf Erden reine Māyā, und im Bewusstsein noch erhabenerer Wesen, die so weit über den Dhyāni-Chohans stehen, wie diese über uns, ist selbst die Evolution der Dhyāni-Chohans reine Māyā. Trotzdem existiert die Evolution in den Welten der Materie, wo Māyā vorherrscht – denn Materie und Māyā haben substanziell die gleiche Bedeutung. Hier ist die Evolution entscheidend, weil Karma entscheidend ist, und daher ist Evolution etwas sehr Reales für uns. Sie existiert, aber IST NICHT.

Wenn irgendeine Wesenheit oder ein Wesen in die Manifestation erwacht, fängt der Prozess in jedem Fall damit an, dass die Emanation aus dem Inneren der bisher „schlafenden“ göttlichen Wesenheit beginnt. Das Wort Emanation kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „herausfließen aus“, ähnlich wie der Gedanke aus dem Verstand fließt oder wie ein Fluss aus seiner ursprünglichen Quelle fließt. Die Emanation schreitet während der gesamten Lebenszeit jeder sich manifestierenden großen oder kleinen Wesenheit beständig fort; und tatsächlich ist jeder evolutionäre Fortschritt ein Wachsen, das infolge der aus dem inneren Wesen der Wesenheit emanierenden Kräfte, Eigenschaften und Fähigkeiten erreicht wird.

Wir können Emanation und Evolution als beinahe, wenn nicht völlig übereinstimmend ansehen. Es sind tatsächlich nur zwei Arten, denselben Prozess entweder kosmisch oder unendlich klein zu betrachten. Evolution bedeutet entfalten und daher freisetzen dessen, was bereits als unmanifestierte Kraft und Fähigkeit in der Wesenheit existiert. Wenn die Emanation auf einer beliebigen Ebene beginnt, ist das gleichzeitig auch der Startpunkt der Evolution. Anders ausgedrückt, wenn einmal eine Eigenschaft oder Fähigkeit beginnt, aus der Essenz der Monade herauszufließen, so beginnt sie von dem Moment an auch ihren Svabhāva oder ihre charakteristischen Eigenschaften zu entfalten. Nun, das direkte Gegenteil von Evolution ist Involution: das Aufrollen oder Einsammeln von allem, das zuvor entrollt wurde. Involution ist daher der entgegengesetzte Ablauf der Emanation.

Das gesamte manifestierte Universum ist, wenn es mit dem Göttlichen verglichen wird, eine Mahā-Māyā und wird durch ausströmende Evolution hervorgebracht. Für uns endliche Wesen, die wir selbst im Gegensatz zu dem unaussprechlich Göttlichen eine Māyā sind, sind jedoch Evolution und Emanation und alle ihre Werke real genug, weil unsere wahrnehmenden Sinne selbst Produkte dieser māyāvischen Prozesse sind. Man kann sagen, dass die esoterische Philosophie einen objektiven Idealismus lehrt: dass das Universum und all seine Manifestationen und Werke für diejenigen „real“ sind, die mit ihm verknüpft sind; dass sie aber Māyā sind, wenn sie der äußersten und grenzenlosen Realität gegenübergestellt werden, aus der das Universum ursprünglich als eine kosmische Monade hervorging und in die es in Äonen wieder zurückkehren wird.

Spirituelle Realität und verstandesgeborene Illusion

Eitelkeit der Eitelkeiten; alles ist Eitelkeit“, sprach der Prediger im Buch Kohelet. Das hier mit Eitelkeit übersetzte hebräische Wort ist hebel15, das im Allgemeinen dem Sanskrit-Wort Māyā entspricht. Dies zeigt, dass die Lehre von der Illusion nicht nur eine Hindu-Lehre, sondern auch ein Teil des gemein­samen philosophischen und religiösen Erbes der menschlichen Rasse ist.

In einem ihrer Briefe sagt HPB dazu: „Wir alle sind in einem gewissen Sinne Maya; aber in unserer eigenen Sicht sind wir Realitäten in Raum und Zeit und so lange, wie es auf unserer Ebene dauert.“16 Das ist eine tiefgründige Wahrheit, weil Māyā für Māyā real genug erscheint; und obgleich wir in unserem innersten Wesen göttlich und daher integrale Teile der kosmischen Realität sind, sind wir in unseren manifestierten Persönlichkeiten dennoch ausgesprochen māyāvisch, weil wir unbeständig und vergänglich und weil wir unvollkommen sind. Hierin liegt der Schlüssel nicht nur für ein richtiges Verstehen dessen, wie Māyā auf uns wirkt, sondern auch, wie wir den Weg finden können, durch den wir uns von Māyā befreien und somit eins mit dem Realen werden und die Wahrheit an sich „sehen“ können.

Der Gott in unserem Inneren, der unsterbliche monadische Funke der kosmischen feurigen Essenz vollkommener Realität, ist die Quelle all unserer Wahrheit und Realität. Je mehr wir zu diesem unserem Gotte werden und seine transzendente Weisheit und Kraft in unserem Leben offenbaren, desto mehr nähern wir uns seiner Realität. In dieser Weise befreien wir uns immer mehr von der magischen Verzauberung der Illusion, in der wir leben und die infolge der mannigfaltigen Unvollkommenheiten unserer Bewusstseins­hüllen – unserer verschiedenen „Persönlichkeiten“ – auf uns einwirkt.

In der Geheimlehre wird dazu ganz deutlich gesagt (Bd. I, S. 150):

dass nach unserer Lehre, die dieses phänomenale Universum als eine große Illusion betrachtet, ein Körper der Unbekannten Substanz um so mehr gleicht, je näher er sich der Wirklichkeit annähert, da er sich dabei gleichzeitig um so weiter von dieser Welt der Maya entfernt.

Daher liegt die Ursache des menschlichen Leidens nicht in der Māyā selbst, sondern in unseren eigenen Unvollkommenheiten und oft wissentlichen Fehlentscheidungen, nämlich uns immer tiefer in die wirbelnden Wogen des illusorischen Ozeans der manifestierten Existenz zu senken. Es sind vor allen Dingen unsere mutwilligen Verirrungen des Denkens und der Emotion, es sind unser Verlangen nach und unser Hängen an den Dingen der Sinne und es ist auch unsere bis jetzt noch nicht voll entwickelte Intelligenz, die uns hindern, aus diesen Wellen der Illusion in das klare und immerwährende Sonnenlicht der Atmosphäre des Gottes in unserem Inneren aufzusteigen.

Wir stehen unter dem Einfluss vielerlei Arten von Māyās: „Ihr leidet durch Euch selbst. Nichts anderes zwingt (Euch)“ – wie Sir Edwin Arnold es in seiner schönen Dichtung Die Leuchte Asiens sagt. Wir stehen auf intellektueller und psychologischer Ebene unter dem Bann von Māyā und haben unseren göttlichen Ursprung vergessen. Wir träumen bedrückende Träume in der Welt der Materie, weil wir in die Illusion der verkörperten Existenz eingetaucht sind, wobei unsere Gehirnmentalität vielleicht das bedeutendste Beispiel menschlicher Māyā und daher der größte Sünder in uns ist.

Wir können uns von Māyā in all ihren ausgedehnten Bereichen befreien, indem wir uns ständig bemühen, die ātmischen, buddhischen und höheren manasischen Fähigkeiten in uns zu kultivieren. Wir können uns befreien, indem wir langsam zu jenen höheren Ebenen unserer Konstitution aufsteigen und in und auf diesen Ebenen leben. Das können wir auch während unserer Verkörperung tun. Der erste Schritt ist, in jedem Teil unseres Wesens überzeugt zu sein, dass das Herz oder der Kern eines jeden von uns ein Strahl der grenzenlosen Realität ist. Wie HPB schrieb:

Doch der Bergmann weiß, wie das Gold aussehen wird, wenn es aus dem Quarz gewonnen ist, während der gewöhnliche Sterbliche sich keine Vorstellung von der Wirklichkeit der Dinge machen kann, wenn sie von der Maya getrennt sind, die sie verhüllt und in der sie verborgen sind. Der Initiierte allein – an Wissen reich, das zahllose Generationen seiner Vorgänger erworben haben – richtet das „Auge des Dangma“ auf die Essenz der Dinge, auf welche keine Maya irgendeinen Einfluss haben kann.17

Dieses Auge Dangmas, wie die Tibeter das Auge Śivas nennen, ist nur ein anderer Ausdruck für das innere spirituelle Sehorgan des Buddhas in unserem Innern, oder wie christliche Mystiker es ausdrücken würden: des immanenten Christos. Es ist tatsächlich so, dass, wenn ein großer Mensch, der – durch viele Leben bewussten Strebens zu dem Gott in seinem Inneren – mit dem Christos oder Buddha in seinem Inneren eins wurde, dieser Mensch nun selbst zu diesem verkörperten Christos oder Buddha wird.

Der einzige Unterschied – wenngleich ein höchst wichtiger und erhabe­ner – zwischen einem Buddha und dem gewöhnlichen Menschen ist der, dass ein Buddha selbstbewusst mit dem Dhyāni-Buddha in sich vereinigt und tatsächlich dessen reine Verkörperung wurde; anders ausgedrückt, er wurde das Buddhi-Manas seiner eigenen Konstitution. Wenn diese Vereinigung des Initiierten mit dem Ātman-Buddhi-Manas oder der spirituellen Monade mehr oder weniger vollständig ist, erstrahlt das Auge Dangmas in relativ voller Kraft und Herrlichkeit. Ein solcher Mensch, der dann wirklich ein Buddha oder Christus ist, besitzt faktisch Allwissenheit und Allmacht über alle Wesen und Dinge der Hierarchie, zu der er gehört.

In noch weit entfernten, zukünftigen Zeitaltern, am Ende der siebenten Runde unserer gegenwärtigen Planetenkette, werden alle diejenigen, die dann erfolgreich das Ziel erreicht haben, Dhyāni-Chohans geworden sein. Selbstverständlich wird dieser Höhepunkt menschlicher Größe am Ende der siebenten Runde nicht das Ende aller möglichen Evolution für die menschlichen Monaden sein, denn künftige Zeitalter werden die evolvierenden Monaden zu noch größeren Höhen spiritueller und intellektueller Vollendung führen. Selbst dann wird es Māyā geben, aber Māyā auf einer weit höheren Ebene, die ihrerseits überschritten wird, wenn die Monaden auf ihrer immerwährenden Pilgerschaft höher und höher steigen. Auf diese Weise werden die verschiedenen Ozeane der Māyā, von denen jeder eine Reihe kosmischer Ebenen ist, einer nach dem anderen während der endlosen Reise zu der nie erreichbaren Wirklichkeit hin, die wir Parabrahman nennen, durchschritten werden.

Um nochmals Die Geheimlehre, (Bd. I, S. 663) anzuführen:

In der alten Symbolik ging man immer davon aus, die Sonne (allerdings war damit die spirituelle und nicht die sichtbare Sonne gemeint) sende die wichtigsten Heilande und Avataras aus. Das ist das Bindeglied zwischen den Buddhas, den Avataras und so vielen anderen Inkarnationen der obersten Sieben. Je enger die Annäherung an sein Urbild „im Himmel“, desto besser für den Sterblichen, dessen Persönlichkeit von seiner eigenen persönlichen Gottheit (dem siebten Prinzip) als ihr irdischer Aufenthalt gewählt wurde. Denn mit jeder auf Reinigung und Vereinigung mit diesem „Selbst-Gott“ gerichteten Willensanstrengung bricht einer der niedrigeren Strahlen, und die spirituelle Entität des Menschen wird höher und immer höher zu dem Strahl emporgezogen, der den ersten ersetzt, bis der Mensch endlich von Strahl zu Strahl in den einen und höchsten Strahl der Eltern-Sonne eingesogen wird. So „geschehen die Ereignisse der Menschheit tatsächlich koordiniert mit den Zahlenformen“, da die einzelnen Einheiten dieser Mensch­heit allesamt aus derselben Quelle hervorgehen – aus der zentralen Sonne und ihrem Schatten, der sichtbaren Sonne.

Fußnoten

1. In unserer [englischen] Literatur herrscht beständig Unsicherheit, ob möglicherweise zwischen Kosmos und Cosmos ein Unterschied bestehe. Es ist ein Wort aus dem Griechischen, das streng etymologisch stets mit K geschrieben werden sollte. Es hat aber auch einen gewissen Vorteil, beide Schreibweisen zu akzeptieren: Kosmos, um das größere Universum zu bezeichnen, was dann fast unweigerlich die Galaxie oder eine Ansammlung von Galaxien bedeuten würde, und Cosmos für unser Sonnensystem. Bedauerlicherweise haben die theosophischen Autoren und auch der Verfasser des vorliegenden Buches diese Schreibweise nicht systematisch angewandt. [Da in der deutschen Sprache dieser Unterschied nicht gemacht wird, wird Cosmos im folgenden Text immer mit dem Buchstaben K geschrieben; d. Übers.] [back]

2.  Im Sanskrit gibt es einen Ausdruck, der philosophisch und wissenschaftlich genau das Äquivalent zum Pleroma der Griechen ist: Brahmāṇḍa-Pūrna. Brahmāṇḍa oder Ei des Brahmā bezieht sich nicht auf irgendein spezielles Sonnensystem oder auf eine besondere Planetenkette oder Galaxis, sondern je nachdem, welcher Maßstab jeweilig angelegt wird, bezieht es sich sowohl auf ein beliebiges System wie auf alle Systeme. Wird aber das Adjektiv pūrṇa (voll) angehängt, dann ist die Vorstellung, das Welten-Ei sei mit manifestierten Wesenheiten angefüllt genauer und klarer beschrieben. [back]

3. Vgl. Samuel Beals A Catena of Buddhist Scriptures from the Chinese (1871). [back]

4. Die Ausdrücke Śūnya, Śūnyatā, Mahā-Śūnya und Mahā-Śūnyatā unterscheiden sich nicht grundsätzlich; der einzige Unterschied besteht darin, dass die mit Mahā (= groß) beginnenden Wörter sich auf weit größere Dimensionen des Raumes und der Dauer beziehen. [back]

5. Chaos (χάος) kommt von der alten griechischen Wurzel cha (χα), die die zweifache Bedeutung von Halten und Loslassen hat; weshalb Chaos der „Haltende“ und der „Los­lassende“ aller Dinge ist. [back]

6. Vgl. The Mahatma Letters to A. P. Sinnett, S. 404: „Das Buch des Khiu-te lehrt uns, dass der Raum die Unendlichkeit selbst ist. Er ist formlos, unveränderlich und absolut. Gleich dem menschlichen Verstand, der der unerschöpfliche Erzeuger von gedanklichen Vorstellungen ist, hat der universale Verstand oder Raum seine Ideenbildung, die zur bestimmten Zeit in die Objektivität projiziert wird; aber der Raum selbst wird davon nicht betroffen.“ [back]

7. Die Geheimlehre, Bd. II, S. 586 [back]

8. Professor John Elof Boodin schrieb in seinem Artikel „The Universe a Living Whole“ (Das Universum ein lebendes Ganzes), The Hibbert-Journal, Juli 1930:
„Was wir uns gewöhnlich als Raum vorstellen, ist nur ein Nichts. Er ist nicht etwas im Sinne von Nichtmaterie. Wenn wir uns den Kosmos als ein lebendes Ganzes vorstellen, so kann das, was wir leeren Raum nennen, die Seele des Ganzen sein – alles durchdringender Geist, in dem die übertragenen Energiemuster verwurzelt und auf das ihnen gemäße Ziel ausgerichtet sind. Für den, der sich den Kosmos als lebendes Ganzes vorstellt, hat der Raum seinen Schrecken verloren.“ [back]

9. Zwei weitere Worte für Raum, den Raum-Ether usw. sind Bhūman und Kha. Bhūman von bhū (= werden), vermittelt die fundamentale Idee des Werdens, des Wachsens und Fortschrittes durch aufeinander folgende Schritte. Es ist derjenige Teil des universalen Ākāśa, der in jedem einzelnen Brahmāṇḍa oder in jeder kosmischen Hierarchie enthalten ist; daher ist er in diesem kleineren Maßstab auf die Summe aller Wesen und Dinge innerhalb dieser Hierarchie anwendbar. Als solcher kann er die Bedeutung von Pleroma oder Fülle haben.
Das Wort Kha hat ebenfalls den Sinn von Raum und auch von Ether, denn es bedeutet ursprünglich Höhlung, räumlicher Hohlraum, was gewöhnlich mit Ether, Himmel und sogar mit Luft wiedergegeben wird. Seine Anwendung wird üblicherweise nur auf unsere Atmosphäre beschränkt; wie in Kha-ga und Khe-chara, die beide bedeuten: sich in die Luft erheben wie ein Vogel. In Die Stimme der Stille verwendet H. P. Blavatsky Khe-chara als Titel für diejenigen Adepten, die die Fähigkeit entwickelt haben, sich in und durch die Luft – richtiger, durch die unsichtbaren Räume – in ihrem Māyāvi-Rūpa oder Illusionskörper – zu bewegen, indem sie die Kraft anwenden, die in Tibet Hpho-wa genannt wird. [back]

10. Vgl. The Esoteric Tradition, Seite 435–438. [back]

11. Siehe The Mahatma Letters, S. 73. [back]

12. Der Fachausdruck für diese Erscheinungen ist Nāma-Rūpa – ein zusammengesetztes Sanskrit-Wort, das Namens-Form bedeutet, wobei Nāma Gedanken oder Begriffe sind, und Rūpa bedeutet Objektivierung, Bilder oder Formen, in denen sich diese Ideen selbst manifestieren. [back]

13. Es gab einmal eine hochphilosophische buddhistische Schule, welche die Svābhāvika genannt wurde, weil ihre Lehrer darauf hinwiesen, dass alle wesenhaften Einheiten oder alle Wesen irgendwo in Zeit und Raum, infolge eingeborener, individueller Energien in ihrem eigenen Inneren, ins Dasein treten und wieder verschwinden. Diese Energien durchlaufen die gesamte Stufenleiter des kosmischen Mysteriums, vom Göttlichen durch das Spirituelle, Intellektuelle, Psychische, Emotionale, Astrale bis zum Physischen. So weit stimmte diese Schule mit der esoterischen Philosophie überein; aber während vieler vergangener Jahrhunderte sind die Svābhāvikas sowohl in der philosophischen Vorstellung als auch im Verständnis sehr degeneriert, sodass heute ihre Schule in Wirklichkeit eine Schule des verkleideten Materialismus ist. [back]

14. Die Geheimlehre, Bd. II, S. 569. [back]

15.  Das ist auch der Name eines der „Söhne“ von Adam – Abel, des weiblichen „Bruders“ von Kain. Hebel oder Habēl bedeutet unbeständig sein, vergehen, also alles, was nicht dauerhaft oder was illusorisch ist. [back]

16. The Letters of H. P. Blavatsky to A. P. Sinnett, S. 253. [back]

17. Die Geheimlehre, Bd. I, S. 47. [back]