Du kannst Onkel Pfefferkorn zu mir sagen

Peter legte seine funkelnagelneuen Rollschuhe in die Ecke, wo er sie am Morgen als Erstes sehen konnte. Dann hängte er seine Kleider über einen Stuhl und ging zu Bett. Sein Kopf summte noch von den Fragen, die er im Laufe des Tages vergessen hatte zu fragen.

„Oh, wie sehr wünsche ich mir, dass mir jeder alles beantwortet, was ich frage“, dachte er.

„Möchtest du das wirklich?“, sagte ein kleines Stimmchen an seiner Seite. Peter schaute schnell auf, neben seinem Bett saß ein winziger, kleiner Mann mit einem merkwürdigen großen Hut. „Wenn du das nämlich wirklich willst, so könnte man das wohl einrichten“, murmelte der kleine Mann und strich über seinen langen Bart. Seine Hand war nicht größer als Peters kleiner Fingernagel.

„Wer bist du?“, fragte Peter erstaunt.

„Es spielt keine Rolle, wer ich bin“, sagte der kleine Mann. „Aber du kannst mich Onkel Pfefferkorn nennen. Komm“, ­sagte er, „beeil dich. Wir haben bis morgen früh einen langen Weg vor uns.“

Gehorsam stand Peter auf und zog sich schnell an. Das Männchen sprang auf Peters Schulter.

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„Halt dich fest!“, rief er. „Los geht’s.“

Peter wusste nicht, wo er sich festhalten sollte, aber er hatte keine Zeit zu fragen. Noch bevor er fragen konnte: „Wie ­bitte?“, waren sie weg und flogen durch die dunkle Nacht, hoch und höher und immer höher über die Häuser.

Weiter ging es bis zwischen die Sterne in das große blaue Nichts, bis Peter nicht mehr wusste, welcher die Erde war, von der sie gekommen waren. Alle Sterne um sie herum funkelten und glitzerten, und Peter überlegte, ob auch ER funkelte und glitzerte.

Dann kamen sie zu einem Stern, der größer aussah als die anderen. Er wurde größer und immer größer, bis sie schließlich auf dem Vorsprung eines Berggipfels auf diesem selt­samen und schönen Stern landeten.

„Wo sind wir?“, wollte Peter wissen. „Wo ist die Erde?“

„Wir sind ungefähr auf dem halben Weg zum Nordpol des Himmels“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Schau, da unten kannst du gerade die Erde sehen“, und er zeigte in den Raum hinaus.

„Welches ist sie?“, fragte Peter. Ihm wurde ganz schwindlig, als er auf die Millionen von stecknadelkopfgroßen Lichtern am dunkelblauen Himmel blickte.

„Siehst du diese Sonne da drüben?“, fragte der kleine Mann. „Die da links von dem großen Kerl?“

„Oh ja“, sagte Peter. „Ist das die Erde?“

Onkel Pfefferkorn kicherte. „Wie eingebildet ihr Burschen seid!“, sagte er. „Nein, die Erde ist der dritte kleine Fleck, der darum herum schwebt. Du kannst sie gerade noch sehen, wenn du die Augen zusammenkneifst.“ Er kletterte auf Peters Nasen­rücken und beschattete dessen Augen mit beiden Armen. „Kannst du sie jetzt sehen?“

„Ja-a“, sagte Peter unsicher. „Sie sieht schrecklich klein aus.“

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„Das ist sie“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Die Erde ist nur ein kleiner Ball, der immerzu um die Sonne rollt. Sie dreht sich fortwährend um sich selbst wie ein großer Kreisel. So sehen die Menschen auf der einen Seite die Sonne die halbe Zeit und die auf der anderen Seite auch. Das sind Tag und Nacht, weißt du?“

„Das verstehe ich nicht“, sagte Peter.

„Hast du nicht beobachtet, wie die Sonne auf der einen Seite des Himmels aufgeht und auf der anderen untergeht?“

„Oh ja“, sagte Peter, stolz darauf, das zu wissen. „Sie geht im Osten auf und im Westen unter.“

„Ja, nur dass sie nicht wirklich auf- und untergeht. Du kannst es von hier aus sehen. Die Sonne steht dort und die Erde wandert um sie herum. Jedes Mal, wenn sich die Erde selbst dreht, scheint die Sonne auf die andere Seite der Erde.“

Plötzlich sprang er leichtfüßig auf den Boden. Auf diesem fremden Stern lag eine Menge heller, glänzender Steine herum. Onkel Pfefferkorn hob einen davon auf und legte ihn auf einen flachen Felsen. Dann wandte er sich an Peter.

„Wo ist dein Kreisel?“, fragte er.

„Mein Kreisel?“ Peter war erstaunt. Er langte in seine Tasche und zog ein Stück Schnur heraus, einige rostige Nägel und schließlich seinen Kreisel.

„Woher wusstest du, dass ich einen Kreisel in der Tasche habe?“, fragte Peter.

„Es ist doch gleich, woher ich es wusste“, sagte Onkel Pfeffer­korn etwas gereizt. „Leg ihn hier hin.“

Als Peter den Kreisel auf den Felsen gelegt hatte, betrachtete ihn Onkel Pfefferkorn sorgfältig, dann stellte er sich auf die Zehenspitzen, um die glatten Seiten berühren zu können. „Funktioniert das Ding?“, fragte er.

„Natürlich funktioniert er!“ Peter nahm den Kreisel auf und wickelte die Schnur herum. Er setzte ihn auf den flachen Fels und ließ ihn drehen; der Kreisel begann, in einem großen Kreis um den hellen Stein in der Mitte des Felsens zu tanzen. Onkel Pfefferkorn sprang schnell aus dem Weg.

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„Du musst ihn nicht gerade über mich laufen lassen!“, rief er.

„Schau doch!“, rief Peter. „Er läuft um die Sonne.“

Peter dachte immer noch an die Erde und die Sonne, und der Kreisel sah wie ein kleiner Planet aus, der sich um eine strahlende Sonne herumdreht.

„Bewegt sich die Erde auch so?“, fragte er.

„Genauso“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Die Erde ist wie ein großer, dicker Kreisel und dreht sich sehr oft, während sie nur einmal die Sonne umrundet. Sie bewegt sich nur scheinbar sehr langsam, weil wir so klein sind.“

Peter schaute auf den kleinen Onkel Pfefferkorn und ­musste lächeln. Onkel Pfefferkorn war gar so klein. Aber Onkel ­Pfefferkorn wusste, was Peter dachte, und er richtete sich zur vollen Größe seiner acht Zentimeter auf. „Ich bin für mich genauso groß, wie du für dich groß bist“, sagte er stirnrunzelnd zu Peter. „Du bist neben der Erde auch sehr klein.“

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„Tut mir leid“, sagte Peter. „Ich ­wollte nicht unhöflich sein.“

„In Ordnung!“, sagte Onkel Pfeffer­korn und lächelte wieder. „Wie du siehst, ist die Erde sehr viel größer als wir beide, so dass sie sich nur einmal drehen muss, damit für uns ein ganzer Tag und eine Nacht vergehen; und um die ­Sonne zu reisen, braucht sie ein ganzes Jahr.“ In diesem Moment fiel der Kreisel um. Peter hob ihn auf und ließ ihn wieder drehen. Abermals begann er seine Reise, immerzu um sich selber drehend und dabei langsam um den strahlenden Stein wandernd.

„Ich möchte meinen, ihm wird schwindlig“, sagte Peter. „Hat die Sonne Fieber, wenn es im Sommer heiß wird?“

Onkel Pfefferkorn kicherte. „Nein“, sagte er. „Schau genau hin, ob du etwas an der Spitze bemerkst, wenn er läuft.“

Peter beugte sich nieder und beobachtete den drehenden Kreisel aufmerksam. „Ich kann nichts sehen“, sagte er.

„Schau noch einmal hin“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Läuft er ganz gerade?“

„Oh“, sagte Peter, „nein, natürlich nicht, er wackelt leicht.“

„Natürlich taumelt ein Kreisel mehr als die Erde“, sagte ­Onkel Pfefferkorn. „Die Erde wackelt so langsam, dass ein einziges Wackeln Tausende von Jahren dauert. Deshalb steht die Erde fast immer ein bisschen schief. Auch jetzt gerade.“

Peter fing den Kreisel gerade noch in dem Augenblick auf, als er vom Felsen herunterwackelte. Er lachte. „Ich hoffe, die Erde macht so etwas nicht!“, sagte er.

Onkel Pfefferkorn lachte vergnügt in sich hinein. „Lass ihn noch einmal laufen!“, sagte er.

Peter setzte ihn wieder in Bewegung und der Kreisel tanzte rundum wie vorher.

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„Schau jetzt genau hin“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Siehst du, wie das obere Ende des Kreisels, das ist das nördliche Ende, näher an die Sonne kommt, wenn die Erde auf der einen Seite der Sonne ist; und wie dieses nördliche Ende weiter weg ist, wenn sich die Erde auf der anderen Seite der Sonne befindet?“

„Oh ja“, rief Peter. „Wenn der Norden näher ist, dann bekommt er mehr Sonnenlicht als das andere Ende, auch wenn er sich die ganze Zeit dreht.“

„Richtig!“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Stell dir vor, du würdest ganz oben, nördlich von der Mitte leben. Welche Jahreszeit wäre dort?“

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„Welche Jahreszeit? Oh, ich verstehe.“ Peter dachte eine ­Minute lang nach. „Ach, ist es das, was den Sommer macht?“

Peter war begeistert. Er hatte es selbst herausgefunden.

„Dann muss unten Winter sein!“, rief er ganz aufgeregt. „Und wenn die Erde auf die andere Seite der Sonne kommt, dann ist unten Sommer und oben Winter. Daher gibt es jedes Jahr einen Winter und einen Sommer. Und während der ganzen Zeit gibt es eine Menge Tage und Nächte, weil sich die Erde auch um sich selbst dreht.“

„Schau mal einer an“, sagte Onkel Pfefferkorn und zwinkerte Peter unter seinem ulkigen großen Hut zu. „Du bist sogar noch fixer, als ich dachte. Vielleicht können wir dir das GROSSE JAHR geben.“

„Was ist das GROSSE JAHR?“ Peter ahnte, dass es etwas Aufregendes sein könnte.

„Nun“, sagte Onkel Pfefferkorn, „es ist etwas, das nur ­wenige Menschen bekommen können. Wie es mit dir ist, weiß ich nicht so recht.“

„Oh, bitte sag‘s mir“, bat Peter. Er war aufgeregt, aber er wusste nicht warum.

„Sag mir zuerst“, sagte Onkel Pfefferkorn, „was tust du, wenn dich jemand etwas fragt?“

„Nun, ich antworte natürlich.“

„Immer?“ Onkel Pfefferkorns Stimme war plötzlich sehr ernst.

„Nun.“ Peter hielt inne. „Wenn ich die Antwort wüsste“, fügte er unsicher hinzu.

„Gut!“ Onkel Pfefferkorn sprang auf Peters Schulter. „Mach das“, sagte er. „Denke nur immer daran und du kannst jeden all das fragen, was du wissen möchtest.“

Er zeigte wieder nach unten, wo sich das kleine Pünktchen Erde drehte. Das dritte Pünktchen von der kleinen Sonne aus gesehen, links von dem großen Burschen.

„Schau genau hin“, sagte Onkel Pfefferkorn. „Du siehst, wo die Erde jetzt ist. Sie läuft ganz um die Sonne herum und du mit ihr. Nur WEISST du jetzt, dass sie dich auf ihrer Reise mitnimmt. Bis die Sonne wieder an denselben Ort zurückkehrt, kannst du auf der Erde jeden und alles fragen, was du möchtest, und alles wird dir auf seine eigene besondere Art antworten. Wenn du gute Fragen stellst, wirst du gute Antworten bekommen. Wenn du dumme Fragen stellst, wirst du dumme Antworten erhalten. Die Erde und die Bäume, das Gras und der Himmel, das Land und das Meer, sie alle werden dir antworten, bis du an dieselbe Stelle zurückkommst.“

Onkel Pfefferkorn kletterte auf Peters Nase, deshalb musste Peter schielen, um ihn zu sehen.

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„Denk daran“, sagte er streng und erhob seinen Zeigefinger, der so groß war wie die Borste einer Zahnbürste, „auch du musst immer alle Fragen der anderen beantworten.“ Peter schielte den kleinen Mann an, der auf seiner Nasenspitze hockte; ­Onkel Pfefferkorn sah so lustig aus, dass er lachen musste. Onkel Pfefferkorn hielt sich schnell an Peters rechter Augenbraue fest und sagte verdrießlich:

„Tu das nicht! Es ist ungezogen … ich könnte herunterfallen und mir den Hals brechen“, fügte er hinzu. „Wie würdest du dann nach Hause kommen?“

Peter entschuldigte sich sofort. „Es tut mir leid“, sagte er. „Ich wollte dich nicht erschrecken und ich verspreche, jedermanns Fragen zu beantworten, wenn ich nur erst selbst die Antworten finde.“

„In Ordnung“, sagte Onkel Pfefferkorn und ließ Peters ­Augenbraue los. Er kicherte in sich hinein. „Weißt du, du siehst selbst reichlich komisch aus, wenn du auf deine Nasenspitze herunterschielst.“ Er kletterte auf Peters Schulter zurück. Plötzlich rief er: „Halt dich fest, los geht‘s!“

Peter stockte der Atem. Es kam so plötzlich. Fort waren sie wieder im blauen Himmel, und überall um sie herum war das Glitzern. Peter wusste überhaupt nicht mehr, wo sie waren. Einen Augenblick lang fürchtete er, Onkel Pfefferkorn könne die Erde unter all den glitzernden Dingern nicht mehr wiederfinden. Dann sah er sie. Von der Sonne aus war es das dritte Pünktchen, das immer näher kam. Plötzlich waren sie wieder daheim. Sie kamen knapp am Mond vorbei und landeten ganz sanft auf der Erde.

„Da sind wir wieder“, sagte Onkel Pfefferkorn ruhig. „Möchtest du mich noch etwas fragen, bevor ich gehe?“

„Geh nicht fort“, sagte Peter. „Ich mag dich, bleibst du nicht bei mir?“

„Ich werde da sein, wenn du mich brauchst“, sagte Onkel Pfefferkorn.

Damit verschwand er und Peter war allein in einem großen Wald.