Die Masken Odins
Elsa-Brita Titchenell
27 – Odins Korpgalder
(Das Lied von Odins Leichnam oder das Lied von Odins Raben)
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Anmerkungen der Übersetzerin
Dieses Lied deutet auf die Nachwirkungen hin, die dem Tod eines Planeten folgen. Es wurde aus vielen Übersetzungen weggelassen, da Gelehrte, angeführt von dem berühmten Sophus Bugge, dazu geneigt haben, es als ganz unverständlich zu ignorieren. Das Lied ist von großer Schönheit mit einem streng mystischen Aufruf, wenn der Leser die unausgesprochene, traumähnliche, unvorstellbare Lücke zwischen den Lebensperioden fühlt, wenn die planetarische Seele in die Ruhe des folgenden Todes eingetaucht ist. Jedes Naturreich wird unbewegt, unbewußt, leblos in atemlosem Schwebezustand gehalten und erwartet den elektrisierenden Drang einer neuen Morgendämmerung. Allein Allvater ist aktiv. In der ganzen Edda gibt es kein ergreifenderes Musikstück als diese Stille des Lebenspulses, die jede Gemeinschaft von Wesen in ihrem eigenen charakteristischen Bewußtseinszustand für die lange Ruhezeit festhält, bis die Götter zurückkehren.
Odins beide Raben, Hugin und Munin (Denkvermögen und Erinnerung), „fliegen täglich über das Schlachtfeld der Erde“ (s. Grimnismál 20) und berichten Allvater am Abend. Hier finden wir wieder die Sorge der Götter um Hugin erwähnt, die Furcht, er würde nicht zurückkehren. Es gibt einen zwingenden Grund dafür. Das Denken (mind) ist mit der Wahl verbunden: Wesen, die diese Fähigkeit besitzen, die die Funktion der Intelligenz und des freien Willens erlangt haben wie die Menschheit auf Erden, werden mit den Möglichkeiten, die diese bieten, konfrontiert. Sie können, wenn sie die Wahl treffen, sich selbst vollständig mit der materiellen Seite der Natur, den Riesen, verbinden und in extremen Fällen ihre Verbindung mit ihrem inneren Gott durchtrennen, so daß ihr charakteristischer Beitrag zu dem kosmischen Ziel und Zweck verloren ist, und die Seelen auf ihre Gelegenheit verzichten, unsterblich zu werden. Die kritische Wahl wird nicht auf einmal getroffen. Sie ist die Gesamtwirkung zahlloser kleinerer Wahlen, die während fortschreitender Lebensstufen getroffen werden. Im natürlichen Verlauf des Wachstums vereint die Seele jeden Zuwachs an Erfahrung mit ihrer göttlichen Quelle und verschmilzt so allmählich mit ihr.
So kommt es, daß am Ende eines „Tages“ des Lebens, Hugin zu Odin zurückkehrt, ihm Kunde von der manifestierten Welt bringt und sich der Gottheit wieder anschließt, von der er ursprünglich wegflog. Sein Begleiter Munin, ist der Behälter von allen Aufzeichnungen von Ereignissen seit dem Beginn der Zeit. Aufgrund des Berichtes von Munin werden alle Fähigkeiten wieder aufgebaut, da die Erinnerung ewig als die Grundlage zukünftigen Bewußtseins bestehenbleibt.
Man sollte anmerken, daß beide Vögel sich nicht nur auf das menschliche Bewußtsein beziehen, sondern auch auf die entsprechenden Eigenschaften, wie sie sich verschieden und in unterschiedlichen Graden quer durch die Natur offenbaren. Ein Planet, wie als Idun personifiziert, besitzt die Merkmale, die von allen seinen Bestandteilen beigesteuert werden, angefangen von elementarem Bewußtsein über die rudimentäre Kondition von Mineralien, die größere Sensibilität von Pflanzen, das knospende Bewußtsein tierischen Lebens, bis zu selbstbewußten menschlichen Seelen. Darin eingeschlossen sind auch der großartigere Status vervollkommneter Männer und Frauen wie auch die Lebensbereiche, die über den menschlichen stehen. Jedes erwachende Bewußtsein auf irgendeiner Stufe setzt seinen Weg durch das Leben fort, um einen größeren Gesichtskreis und eine größere Erkenntnis zu gewinnen. Dabei wird sein formbares wachsendes Bewußtsein und sein Verständnis gleichermaßen mit angehoben. Aber nur im Menschen sind wir zuerst fähig, den Prozeß wahrzunehmen und zu erkennen.
Am Ende ihres Lebens wird die planetarische Seele, Idun, an Urds Quelle von den besorgten Göttern belagert, die von ihr die Entwicklung des vergangenen Lebens lernen und den Met trinken möchten, den sie bereitstellen kann. Wenn wir den theosophischen Schlüssel benützen, dann scheint es wahrscheinlich, daß ihr Vater Iwaldi die frühere Welt, die Kette der lunaren Globen darstellt, von der unsere gegenwärtige Erde die Nachfolgerin ist. Idun, seine Tochter, ist die „älteste von Iwaldis jüngerer Brut“, daher gehört sie zu unserer Erde, und sie ist der Nachkomme des entsprechenden Globus der ehemaligen Mondkette. Jedoch, dies ist nicht der physischste Teil von ihr: das war Nanna, der Körper, der für uns nicht mehr sichtbar ist. Nanna starb, bevor unsere Erde geboren, bevor sie aus den Materialien gemacht wurde, die ihre abgeworfene Form zusammengesetzt hatten. Sie ist die niederen Bestandteile des Planeten, und sie sinkt beim Tode in Bewußtlosigkeit, gestochen durch den Dorn des Schlafes, den „Sohn des Schlafzauberers“. Das ist der wahre Dorn, der Vergessenheit für die Schlafende Schönheit (in einer anderen Interpretation derselben Erzählung) brachte. Ihr langer Schlaf wurde durch den Kuß des Lebens beendet. Der lähmende Dorn bezog sich auf die Eiszapfenwogen von dem Frostriesen (22), dessen Lieblinge jede Mitternacht bezeichnenderweise zu sterben beginnen, erschlagen von dem herannahenden Tagesanbruch.
Wie das Gedicht uns erzählt, hatte die sich grämende Idun nur wenig zu dem Fest der Aesir beizutragen. Jedoch, die Schlußverse dieses Gedichtes führen uns zu der Geburt eines neuen Lebens: wie die Hexen und Riesen der Nacht sich zu ihren Höhlen davonschleichen „unterhalb der entferntesten Wurzel des edlen Eschenbaumes“ (25). Die Götter erscheinen wieder, und dann springt eine neue Welt mit neuer Hoffnung in ein triumphierendes Leben, angekündigt vom „mächtigen Fanfarenbläser auf den Bergen des Himmels“ (26).
Odins Korpgalder
1. Allvater handelt, Elfen nehmen wahr,
Wanir wissen, Nornen weisen den Weg.
Trolle ernähren, Äonen gebären,
Thursen warten, Walküren sehnen sich.
2. Die Aesir litten unter schweren Vorahnungen,
Seher verkannten die Runen der Frucht-Maid.1
Urds Met hütete sie, aber sie konnte ihn nicht verteidigen
Gegen die Beharrlichkeit der großen Menge.
3. Hugin schwang sich auf, sie aufzuspüren.
Die Aesir sind besorgt, falls er Zeit verliert;
Die Träume von Verlangen nach Leben2 werden zum Leiden;
Undeutliche Träume übersättigen den Tod.
4. Zwerge werden allmählich empfindungslos, ihre Kräfte schwächer;
Welten versinken in Ginnungagap;
Der Allweise streckt die Wesen häufig nieder,
Und sammelt die Gefallenen wieder ein.
5. Nicht länger steht fest die Erde oder die Sonne.
Der Strom der Zerstörung waltet nicht mehr.
In der geheimnisvollen Tiefe in Mimirs Brunnen
Liegt alle Weisheit. Weißt du [soviel] wie jetzt oder was noch?
6. Die wissende Maid3 verweilt in den bewaldeten Tälern,
Gefallen von Yggdrasil nieder, von der Esche;
Die Elfen nannten sie Idun; sie ist die älteste
Von Iwaldis jüngerer Brut.
7. Unglücklich schien sie über dieses Mißgeschick,
Gefangen liegend unter dem hohen Baum.
Es gefiel ihr nicht bei der Tochter der Nacht,
Gewohnt, Welten für ihren Wohnsitz zu haben.
8. Die siegreichen Götter sahen das Leid von Nanna;4
Sie sandten ihr in Hels Haus eine Wolf-Verkleidung;
Sie zog sie an und änderte ihre Stimmung;
Sie war verwirrt durch Täuschung, verändertes Aussehen.
9. Odin wählt den Wächter von Bifrost;5
Die trauernde Witwe der toten Sonne zu fragen
Alles das, was sie über das Schicksal der Welt wußte.
Bragi und Lopt trugen die Aussage bei sich.
10. Sie sangen Zauberlieder, sie ritten auf Wölfen,
Die Herrscher und Mächtigen, an die Enden der Welt.
Odin, von Hlidskjalf hörend,
Ließ sie reisen weit und breit.
11. Der weise Heimdal fragte, ob die Met-Versorgerin
Etwas über den Ursprung, das Alter und das Ende
Der Rassen der Götter und ihrer Reisebegleiter,
Den Himmel, die Leere und die Erde wußte.
12. Nichts würde sie sagen, nicht ein Wort würde sie äußern
Als Antwort den Fragern, noch mit ihnen sprechen.
Ihre Tränen fielen weit von ihrem Kopf,
Ihre Kraft war taub, erschöpft und tot.
13. Angefüllt mit Leid erschien Jorun6
Vor den Göttern, unfähig zu sprechen.
Je mehr sie fragten, desto weniger sagte sie,
Alle ihre Worte flossen vergeblich.
14. Als vorderster auf der Suche war Heimdal, der
Wächter des Horns des Vaters der Scharen;
Er brachte mit sich Loki, den einen von Nál geborenen,
Während Bragi, der Barde, Wache stand.
15. Die Krieger Odins gelangten zu der Weinhalle,
Gebracht an den Platz von den Söhnen der Vergangenheit.
Da traten Yggs Helden ein, die Aesir zu grüßen
Und sich beim Festmahl am Met zu beteiligen.
16. Sie wünschten Hangatyr7 Gesundheit und Zufriedenheit
Und Wohlergehen, immer sein Bier zu brauen.
Die Trinker waren selig, sich am Humpen zu erfreuen,
Eifrig mit dem Ewig-Jungen zu feiern.
17. Jeder wurde von Odin auf eine Bank gesetzt, die Herrscher
Aßen gemeinsam und wurden mit Sährimnir
Gesättigt; mit der Schöpfkelle von Nikar
Reichte Skögul8 an den Tafeln Met in die Hörner der Erinnerung.
18. Beim Fest wurde Heimdal viel von den Göttern gefragt,
Loki von den Göttinnen.
Den ganzen Tag bis die Dunkelheit hereinbrach
Suchten sie der Seherin Weisheit und Prophezeiung.
19. Schlecht, glaubten sie, wurde diese Angelegenheit gelöst
Und wenig lobenswert.
Schlauheit war nötig, um
Eine Antwort der verschlagenen Hexe zu entlocken.
20. Dunkelheit, Odin spricht. Alle hören:
„Die Nacht soll zur Wiederaufnahme der Beratung benutzt werden;
Jeder, der kann, soll bis zum Morgen eine Lösung für
Das Wohl der Aesir finden.“
21. Am Rande des Gebirges rings um die winterliche Erde
Fielen die Nachkommen Fenris, erschöpft.
Die Götter verließen das Feld, grüßten Ropt
Und Frigg beim Verschwinden des Nachtrosses.
22. Bald kommt von Osten aus den Eiszapfen-Wogen
Der Dorn des Schlafes zum Frostriesen,
Dessen Lieblinge bei der schönen Midgárd
Jede Nacht zur Mitternachtsstunde erschlagen werden.
23. Dann schwindet die Kraft. Die Hände werden allmählich gefühllos.
Eine Ohnmacht überfällt den blassen Schwert-Ásen;9
Bewußtlosigkeit herrscht über dem mitternächtlichen Atem;
Das Denken versagt in müden Wesen.
24. Aber der Sohn der Morgendämmerung treibt sein Roß voran,
Auffällig herausgeputzt mit kostbaren Juwelen.
Über die Heimat der Menschen ergießen sich Strahlen aus des Rosses Mähne;
Er zieht im Wagen Dwalins Spielzeug.10
25. Am nördlichen Roß-Tor der nährenden Erde
Unterhalb der entferntesten Wurzel des edlen Eschenbaumes
Gingen zu ihren Höhlen Hexen und Riesen,
Gespenster und Zwerge und die schwarzen Elfen.
26. Die Götter erhoben sich. Die Sonne leuchtete weiter.
Nordwärts nach Niflheim zog die Nacht hinweg;
Heimdal sprang wieder einmal auf Bäfrast auf,
Mächtiger Fanfarenbläser auf den Bergen des Himmels.
Fußnoten
1. Das planetarische Äquivalent von Bärgälmir, der „Frucht-Riese“ [back]
2. Was die Buddhisten tanhā, Durst nach Leben nennen. Er charakterisiert die niederen Elemente, die zur Materie gezogen werden. [back]
3. Idun: Die Seele des toten Planeten wird von den Göttern gefragt und veranlaßt, ihren Bewußtseinszuwachs hervorzubringen. [back]
4. Nanna: die niedrigsten Elemente des toten Planeten, welcher, wenn die Seele ihn verlassen hat, in das illusorische Material transformiert wird, das in zukünftigen Formen wiederverwendet wird. [back]
5. Heimdal: der „weiße Schwert-Áse“ [back]
6. Die zukünftige Erde, die wiedergeborene Idun [back]
7. Der aufgehängte Gott: Odin, das Große Opfer, vgl. Hávamál [back]
8. Skögul ist eine Walküre, die die Götter und die Einherjer bedient, die sich mit ihrem inneren Gott vereinigt haben. [back]
9. Heimdal, Wächter der Götter auf der Regenbogen-Brücke, der das Horn bei Ragnarök bläst. [back]
10. Dwalins Spielzeug ist die Sonnenscheibe. [back]