24 – Grogaldern und Fjölvinns Ordskifte

(Die Zauberlieder der Groa und Fjölwinns Wandlung)

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Anmerkungen der Übersetzerin

Grogaldern

Die beiden folgenden Lieder gehören zusammen, und es wäre irreführend, wenn man sie trennen würde. Das erste zählt die notwendigen Eigenschaften auf, die von einem Kandidaten für die Initiation erworben werden müssen. Das zweite enthält den Höhepunkt der Prüfung selbst. Gemeinsam erzählen sie die Geschichte von Swipdag und seinem „Erscheinen als Tag“.

Odr1 (Mensch) wird von seiner Stiefmutter Skadi mit dem angeblich unmöglichen Auftrag weggeschickt, die Halle der Menglad („sie, die sich eines Juwels erfreut“, ein Name für Freyja, der Besitzerin des Brisingamen, der Menschheit) zu finden und sich den Eintritt zu ihr zu verschaffen. Skadi ist die Schwester, die Frau und auch eine Tochter von Njörd (Zeit). Sie war es, die die giftige Schlange über Lokis Gesicht aufhing, als er in der Unterwelt gefesselt war.

Um allen diesen aber unüberwindlichen Schwierigkeiten seiner Suche begegnen zu können, rief Od die Hilfe seiner toten Mutter namens Groa (Wachstum) an.

Sie erhob sich von den Toten und sang ihm neun schützende Zauberlieder vor. Dargestellt als eine Sibylle symbolisiert sie die Vergangenheit des Helden, seine früheren Selbste, die seinen Charakter geformt haben und ihm zu der Geburt verhalfen wie er jetzt ist. Wenn die Leben der Vorbereitung ihm die für einen Erfolg notwendigen Fähigkeiten erbracht haben, wird er für die große, vor ihm liegende Prüfung gerüstet sein.

Die „schützenden Zauberlieder“ sind natürlich die Kräfte und Tugenden, die er verdient hat. Das erste betrifft die Freiheit von allen äußeren Zwängen; das zweite die Selbstbeherrschung; das dritte die Immunität gegenüber den mächtigen Strömen, die zu den Bereichen des Todes (der Seele) fließen; das vierte ist die Macht, Feinde zu Freunden zu verwandeln, negative Züge in positive, nützliche Merkmale umzuwandeln; das fünfte ist das magische Schwert, das von allen Banden, allen begrenzenden Schwächen befreien wird, welche der Held jetzt überwunden haben muß. Sie sind die persönlichen Bindungen, welche die Seele von ihrem hohen Ziel hinwegziehen. Im sechsten Zauberlied versichert sie ihm die Hilfe der Naturelemente, sogar jene von dem „Meer, das fürchterlicher ist als der Mensch weiß“ (11) – das Astrallicht mit seinen bösen Illusionen; im siebten Lied gewinnt er Immunität gegenüber der „Kälte des Hochgebirges“ (12) – die eisige Furcht, die die Seele ergreift, wenn sie den nichtvertrauten Höhen reinerer Welten gegenübersteht. Das achte ist die Fähigkeit, sich unbeschadet zwischen den Schatten des Todes zu bewegen.

Aus allem diesem zeigt die theosophische Interpretation klar, daß das Abenteuer, auf das sich Od eingelassen hat, eine Initiation in einen hohen Stand des spirituellen Bewußtseins ist. Eine solche Initiation erfordert zuerst einen Abstieg in die unterhalb unserer physischen Welt gelegenen Regionen. Jeder große Lehrer der Menschheit muß „in die Hölle absteigen“, um den Wesen niedrigeren Grades Hilfe zu leisten und ihre Daseinsumstände zu fühlen und zu verstehen, während er seine Integrität beweisen und durch die schädlichen Einflüsse dieser Welten unbeeinflußt bleiben muß.

Im neunten weist die Sibylle eindeutig darauf hin: „Wenn du mit dem speerberühmten Riesen Worte austauschen solltest, so sollen dir Rede und männlicher Verstand im Munde wie auch im Herzen reichlich gegeben werden!“ (14)

Die neun Zaubergesänge bezeichnen auch Eigenschaften, die von jedem Menschen entwickelt worden sind oder entwickelt werden müssen, der die neun Welten, die wir in diesem Zyklus erfahren haben, überquert hat. Sicher ist, daß sie ein notwendiges Rüstzeug für jede Seele sind, um wirklich erleuchtet zu werden.

Fjölswinns Wandlung

In diesem Lied sucht Od Zutritt zu der Halle von Menglad, deren Name wir als eine Kenning für Freyja kennen. Der Hüter am Tor zu Menglads Halle nennt sich selbst Fjölswinn (der Vielweise) und ist niemand anderes als Odin. Diese Bezeichnung steht hier für des Menschen inneren Gott und Hierophanten. Er weist den Wanderer zurück, nennt ihn „Riese“ und „Wolf“, aber Od besteht darauf, Zugang zu der vergoldeten Halle zu bekommen. Nach seinem Namen gefragt, antwortet er:

„Windknecht heiß ich, Lenzkalt war mein Vater. Sein Ahn war Sehrkalt“ (6). Od erkundigt sich dann, wem diese Halle gehört und erfährt, daß sie tatsächlich die von Menglad ist, „geboren von ihrer Mutter und dem Sohne des Schlaf-Zauberers“ (7).

Hier ist der Ursprung der Geschichte von der Schlafenden Schönheit. In Schweden ist sie Törnrosa (Dornröschen). Die Rose stach mit den Dornen des Schlafes: Sie ist die spirituelle Seele des Menschen, die unerwachte Schönheit, die das Lebensziel des Menschen ist. Der Schlaf-Zauberer wird in gewisser Beziehung mit Njörd, Zeit, und auch mit Lenzkalt, eine weit vergangene Zeit der Unschuld identifiziert. Der Sucher und der Gesuchte sind von derselben göttlichen Quelle abgestiegen, wie es die menschliche Seele und ihr innerer Gott sind. Es ist das Ziel und der Zweck des Individuums, die Wiedervereinigung mit dem Universalen nach der Verwirklichung seines Selbst-Bewußtseins durch die Evolution in allen Bereichen der Materie zu erlangen: mit Menglad-Freyja – dem höheren Selbst des Menschen, seiner spirituellen Intelligenz – um eins mit der Gottheit zu werden, die ihren menschlichen Meister erwartet.

In der Gestalt von Windkalt, stellt Od Fragen an den Wärter am Tor, und Odin-Vielweise antwortet: Er teilt den Namen und die Funktion des Tores mit, das wie eine Fessel jeden Pilger bindet, der den Riegel anhebt, und auch den Namen und die Funktion der Halle. Diese wurde aus den Gliedern des Schlammriesen erbaut – der Substanz, aus der die ersten Formen des Menschen gefertigt wurden. Diese Formen wurden von den Göttern als unfertige Vehikel zurückgewiesen und durch eine spätere Schöpfung abgelöst. Seine [des Wärters am Tor] Aufgabe ist es, alle Ankommenden abzuweisen. Die beiden bissigen Wachhunde, laut Vielweise, haben elf Wachen noch zu halten, ehe diese Lebensdauer endet.

Als Windkalt nach dem Namen des Baumes fragt, dessen Zweige sich über das ganze Land ausbreiten, wird ihm gesagt, daß er Mimameid, der Baum der Erkenntnis ist, „der nicht durch Feuer oder Eisen fällt“ (20) und dessen Früchte helfen, das zu enthüllen, was innen verborgen ist. Das darf nicht mit dem Lebensbaum verwechselt werden, dessen Name mit dem „weisen Riesen“ Mimir verbunden ist, dem Eigner des Brunnens der Weisheit, die durch die Existenz in der Materie gewonnen werden kann. Auch in der biblischen Genesis sind der Baum des Lebens und der Erkenntnis völlig verschieden. Es ist klar, daß der „Fall“ aus der Unschuld ein unvermeidlicher Teil des evolutionären Prozesses war. Der Mensch muß den Kindheitszustand verlassen und in das eintreten, was die Edda die „Sieg-Welten“ nennt, um bewußt, selbstbewußt seinen letztlichen Zugang zum Baum des Lebens zu verdienen. Hier muß die menschliche Seele oder die Elfe, Od, durch ihre eigenen selbstbestimmten Anstrengungen den gottgleichen Zustand erreichen, der sie befähigt, sich mit ihrer Hamingja (unsterbliche Essenz) zu vereinigen. Wir werden sehen, wie von Grund auf eine enge Vertrautheit mit dem Baum der Erkenntnis für den menschlichen Initianden nötig ist, um diese Vereinigung zu erzielen.

Windkalt erkundigt sich über den goldenen Vogel in den höchsten Zweigen von Mimameid und erhält die Antwort, daß es Weitöffner [Widofnir] sei. Der Held muß ihn besiegen, aber um dies zu tun, muß er in die Unterwelt hinabsteigen und dort den magischen Trank bekommen, der von Lopt (hochfliegend: Aspiration), der inspirierte Aspekt von Loki, die von ihrer Hamingja geführte Vernunft, gebraut wurde. Das Gebräu wurde aus der Reue in den niedrigeren Höllen hergestellt und wird in einem Gefäß aus hartem Eisen, und durch neun starke Schlösser gesichert, aufbewahrt. Der Held muß das Gefäß seiner Besitzerin, der gefürchteten Hexe Sinmara, entreißen, die, wie Ceridwen im Walisischen, den Kessel hütet. Das Gebräu, wie der mystische Somatrank, der den Initianden im Osten angeblich gereicht wird, hilft bei der Öffnung des Bewußtseins zu den furchterregenden Höllen der Seele. Diese muß der Kandidat erfolgreich durchqueren – „endloses Leid“, das durch den Weitöffner „in einem großen Leiden“ (23) angehäuft wird.

Aber es gibt ein Paradoxon: um von Sinmara den magischen Trank zu erhalten, der den Weitöffner in den höchsten Zweigen des Baumes der Erkenntnis zugänglich macht, muß der Held ihr eine glänzende Feder eben von jenem goldenen Vogel bringen!

Der Kandidat, der die Weisheit der Götter sucht, muß daher Zugang zu den spirituellen Höhen gewinnen, um in die niedrigsten Regionen abzusteigen und unbeschadet zurückzukehren. Nur nach seinem erfolgreichen Aufstieg, nach dem vorherigen Abstieg in die Hölle, kann er auf seine Braut Anspruch erheben – die Vereinigung mit der unsterblichen Essenz von ihm, dem universalen Herzen seines Wesens, und er kann die Aussicht auf unbegrenztes Wissen – für diese Welt oder diesen Zweig des Lebensbaumes erringen.

Hier gibt es eine Geschichte innerhalb einer Geschichte, wie es so häufig in Mythen geschieht. Od, der am Tor steht, das zur endlichen Erlösung führt, erhält in seinem Wortwechsel mit dem Hüter des Tores, der sein Initiator, Führer und Prüfer ist, Informationen, die eindeutig für den Hörer oder Leser beabsichtigt sind: eine Beschreibung der Erfahrungsarten und der Erleuchtung des Gemütes und der Seele, die von dem erlebt werden müssen, der danach strebt, in die Ruhe genannte Halle einzutreten. Diese Halle „balancierte lange auf der Spitze eines Speers, worüber nur Gerüchte die Alten Völker erreichten“(31) – (als es noch niemanden gab, der sie erreichen konnte?).

Schließlich steht Windkalt erlöst als Swipdag, der Strahlende – „als Tag erscheinend“ – da. Jetzt nennt er sich selbst Sohn des Sonnenglanzes, „auf windkalten Wogen vorwärts getrieben“ (46). Die ägyptischen Mysterien erwähnen den erhobenen Initiierten als einen „Sohn der Sonne“, denn es ist ein Strahlen um ihn herum sichtbar. Das ist der lange vergessene Ursprung des uṣṇīṣa oder Heiligenscheins über dem Kopf von Bodhisattwas, Christussen und Heiligen in der alten oder mittelländischen Kunst. Swipdag, der erfolgreiche Initiierte, repräsentiert einen der so selten vervollkommneten Menschen in der Geschichte der Menschheit. „Auf windkalten Wegen herumgestoßen“ sind wir alle, jede Monade, jeder Funke des göttlichen Feuers, der von IHM am Anfang der Zeit ausgegangen und in die Sphären des Lebens abgestiegen ist. Seine Bestimmung ist es, am Ende des Zyklus mit seinem göttlichen Vater wiedervereinigt zu werden, wobei jede Monade des Bewußtseins den Erfahrungszuwachs mitbringt, der während ihrer Existenz erworben worden ist.

Das Ende dieses Liedes zeigt die Edda als eine Übermittlung der einen universalen Theosophie, die durch den Buddhismus, das Christentum und andere heilige Überlieferungen quer durch die Geschichte ausgedrückt wird. Die Geschichte von Swipdag weist auf das wahre Ziel des Lebens hin – beschleunigt durch die Initiation – etwas, das von den modernen Mythologen ständig übersehen worden ist. Es ist das wahre Kreuz des Abenteuers des Helden, sein selbstloser Fortschritt, Erfolg, und die krönende Wiedervereinigung mit seiner Hamingja. Als Menglad ihn als ihren Geliebten willkommen heißt und sagt, daß sie ihn auf dem heiligen Berg lange erwartet hätte, antwortet er: „Beide haben wir uns gesehnt. Ich habe mich nach dir gesehnt, und du, mich zu treffen. Genugtuung herrscht nun, da wir zwei die Aufgaben der Jahre und der Zeitalter gemeinsam tragen“ (48).

Diese wenigen Worte sind unter den bedeutendsten in allen Mythologien vorhanden: Der mit seinem spirituellen Selbst vereinigte Held – nicht triumphierend in seiner Glorie oder zufrieden, ewig in himmlischem Frieden zu ruhen – verpflichtet sich, seinem höheren Selbst von nun an in der Erfüllung „der Aufgaben der Jahre und der Zeitalter“ zu helfen. Dieser Schlußvers stellt die altnordischen Mythen unter die edelsten Schriften der Welt, unter jene, die das göttliche Opfer zur Pflicht machen, wobei der Aspirant sich zum Ziel setzt, der Menschheit zu dienen. Er gewinnt universalen Frieden nur, um ihm zum Wohle aller Wesen zu entsagen. Dies ist das Ideal der Schulen des echten Okkultismus durch alle Zeitalter und die Motivation aller Erlöser der Welt.

Grogaldern

1. SOHN (OD): Wach auf, Groa, gute Frau. Ich weck dich an den Toren des Todes.
Hast du nicht deinen Sohn ermahnt, zum Hügelgrab zu kommen?

2. MUTTER (GROA): Welches Schicksal hat meinen einzigen Sohn getroffen, zu welchem Übel ist mein Sohn geboren,
Daß du deine Mutter aus dem Tode rufst, wohin sie aus der Menschenwelt gegangen ist?

3. SOHN: Einen üblen Streich spielte mir die schlaue Frau, die meinen Vater umarmte;
Sie hat mich dahin geschickt, wohin niemand gehen mag – zu Menglad.

4. MUTTER: Weit ist die Fahrt, weit sind die Wege: weit reichen die menschlichen Leidenschaften;
Wenn du in deinem Wunsch erfolgreich bist, wird Skuld2 auch zufrieden sein.

5. SOHN: Sing mir Zauberlieder, die gut sind, hilf deinem Sohn, Mutter. Auf weiten Wegen
werde ich mich hilflos verirren. Ich fühle mich für die Hochzeit noch zu jung.

6. MUTTER: Zuerst sing ich dir das Glückslied, das Ran der Rinda vorsang:
Wirf alle Übel von deinen Schultern und lenke deine eignen Schritte.

7. Ich sing dir ein zweites: Wenn du widerwillig auf Wegen wanderst: Urds3 Riegel halten
Dich fest, wenn dich Drangsal drückt.

8. Ich sing dir ein drittes: Wenn reißende Ströme dich zu verschlingen drohen,
So sollen sie zur Hel eilen, und vor dir an Stärke verlieren.

9. Ich sing dir ein viertes: Wenn Feinde gerüstet auf den Wegen der Menschen lauern,
So möge sich ihr Sinn dir zuwenden, ihr Zorn sich zu Freundschaft beruhigen.

10. Ich sing dir ein fünftes: Wenn man Fesseln dir um die Glieder legt, ein Schwert laß ich über dir erklingen,
Das die Schlösser von deinen Gliedern sprengt, und die Fesseln sollen von deinen Füßen fallen.

11. Ich sing dir ein sechstes: Wenn du auf See bist, fürchterlicher als Menschen wissen können,
Das Rasen des Windes und das Tosen der Wogen sollen dir auf deiner Reise helfen.

12. Ich sing dir ein siebentes: Wenn du auf dem Hochgebirge vor Frost erstarrst,
Der Schauder des Todes soll dein Fleisch verschonen und deine Glieder sollen ihr Leben behalten.

13. Ich sing dir ein achtes: Wenn dich auf Nebelpfaden die Nacht überrascht,
Daß dir kein Schaden vom Schatten eines Christenweibes widerfahren soll.

14. Ich sing dir ein neuntes: Wenn du Worte mit dem speerberühmten Riesen wechselst,
Worte und Mannesverstand der Zunge wie auch des Herzens sei dir reichlich verliehen.

15. Wandere keine Wege, wo Übel du spürst. Kein Hindernis hindere dich also.
Auf dem erdfesten Stein stand ich im Tor, da ich diese Zaubersprüche dir sang.

16. Bewahre deiner Mutter Worte, Sohn; laß sie immer in deinem Herzen leben.
Alles was gut ist, sollst du immer ernten, solang du meinen Worten Beachtung schenkst.

Fjölsinns Ordskifte

1. Außerhalb des Hofes sah er einen Riesen sich zu der Feste nach oben erheben:
„Wer ist der Wicht, der vor dem Hofe steht und um die reinigenden Flammen schweift?
„Was suchst du, wessen Spur folgst du? Was willst du wissen, ohne Freunde?
„Wandere wieder fort auf nassen Wegen. Du hast keinen Fürsprecher hier, Schutzloser.“

2. WANDERER: Wer ist der Unhold, der am Tor steht und den Wanderer nicht willkommen heißt?
Unhöfliches Gespräch führst du. Eile also du selbst heim!

3. DER WÄCHTER: Allweise ist mein Name. Ich weiß genug, doch ich vergeude nicht viel Kost.
In dieses Haus wirst du nicht kommen. Zieh deines Weges, Wolf!

4. WANDERER: Keiner wendet sich von seines Auges Freude ab, wenn manch süßen Anblick er schaut.
Die Höfe scheinen um die goldene Halle zu glänzen. Hier kann ich zufrieden verweilen.

5. ALLWEISE: Sag mir, welche Vergangenheit hat dich geboren, von welchen Vorfahren bist du der Nachkomme.

6. WANDERER: Windkalt heiß ich, Lenzkalt war mein Vater. Sein Ahn war Vielkalt.
Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wer herrscht hier und übt Macht über Länder und luxuriöse Hallen aus?

7. ALLWEISE: Menglad heißt sie, geboren von ihrer Mutter und dem Sohn des Schlafzauberers.
Sie herrscht hier und übt Macht über Länder und luxuriöse Hallen aus.

8. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißt die Pforte, selbst die Götter haben keine trügerischere?

9. ALLWEISE: Lärm heißt sie, und sie wurde von drei Söhnen von Sonnenblind geschaffen.
Wie eine Fessel schnürt sie jeden Wanderer fest, der sie aufschließt und öffnet.

10. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißt die Mauer, selbst die Götter haben keine gefährlichere?

11. ALLWEISE: Abwehrer von Fremden heißt sie. Ich schuf sie aus den Gliedern des Schlammriesen.
So habe ich sie gemacht, daß sie so lange stehen soll wie Menschen leben.

12. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißen diese Hunde, keine schärferen hab ich jemals gesehen?

13. ALLWEISE: Gifr heißt einer, Geri der andere, wenn du’s wissen willst.
Elf Wachen müssen sie stehen, ehe die Herrschaft der Herrscher beendet ist.

14. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Kommt ein Mann hinein, wenn solche Tiere schlafen?

15. ALLWEISE: Es ist ihnen eingeschärft worden, abwechselnd zu schlafen, seit sie zu wachen trainiert wurden.
Der eine schläft nachts, der andere bei Tag. Keiner kommt hinein.

16. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Gibt’s keinen Bissen, den man ihnen geben kann während sie fressen, um hineinzukommen?

17. ALLWEISE: Zwei Steaks liegen in Weitöffners Gliedern, wenn du es wissen willst.
Das sind die einzigen Bissen, die man ihnen bringen muß, um hineinzukommen, während sie fressen.

18. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißt der Baum, der seine Äste über das Land ausbreitet?

19. ALLWEISE: Mimameid heißt er, kein Mensch weiß, aus welchen Wurzeln er gewachsen ist.
Welches Übel ihn fällen kann, ahnen nur wenige. Ihn fällt Feuer nicht noch Eisen.

20. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Was wird das Dahinwelken des ruhmreichen Baumes verursachen, den Feuer nicht noch Eisen fällt?

21. ALLWEISE: Wenn seine Frucht auf dem Feuer durch senile Weiber verbrannt wird, dann wird herauskommen,
Was innen sein sollte, dann ist der Baum inmitten der Menschen verrottet.

22. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißt der Hahn hoch oben im Baum, alles von ihm glänzt wie Gold?

23. ALLWEISE: Weitöffner [Widofnir] heißt er, der glänzt und hoch oben in Mimameids Krone hockt.
Er häuft in einem großen Leiden das endlose Leid aus Sinmaras Feuer an.

24. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Gibt es keine Waffe, die den Weitöffner zum Haus der Hel bringen kann?

25. ALLWEISE: Läwaten heißt sie. Sie wurde von Lopt voll Reue an des Abgrunds Tor geschaffen.
Im eisernen Schrein in Sinmaras Obhut wird sie durch neun feste Schlösser bewacht.

26. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Kommt der wieder, der den magischen Hebel wegzunehmen sucht?

27. ALLWEISE: Er kann wiederkommen, der den magischen Hebel wegzunehmen sucht,
Wenn er das, was nur wenige erlangen, zu der fruchtbaren, die Erde heilenden Frau bringt.

28. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Gibt es etwas Kostbares, das einem Mann gehören kann, um die Hexe damit zu erfreuen?

29. ALLWEISE: Die glänzende Feder aus Weitöffners Flügel sollst du als Geschenk
Sinmara bringen, ehe sie geruht, dir die Waffe zu geben.

30. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißt die Halle, die klugerweise von reinigenden Feuern umgeben ist?

31. ALLWEISE: Stille heißt die Halle, und lange balanciert sie auf der Spitze eines Speers.
Über dieses herrliche Haus haben nur Gerüchte die alten Völker erreicht.

32. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wer von den Söhnen der Götter hat die Halle erbaut, die ich durch das Gatter gesehen habe?

33. ALLWEISE: Uni und Ire, Bari und Ori, War und Wägdrasil, Dori, Uri und Delling: auch der schlaue Elf Loki.

34. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißt der Berg, wo die Braut in Träumen versunken zu finden ist?

35. ALLWEISE: Heiliger Berg heißt er, ein Zufluchtsort seit altersher für die Kranken und Versehrten;
Obgleich zu Tode erkrankt, wird jede Frau gesund, die ihn erklimmt.

36. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Wie heißen die Mädchen, die zu Menglads Füßen in Harmonie beisammen sitzen?

37. ALLWEISE: Hafen die eine, Überlebende die andere, eine dritte Hüterin; Strahlend und Sanft,
Liebevoll und Friede, Mitgefühl und Herrscherin der Nachsicht.4

38. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Helfen sie jenen, die ihnen Opfer bringen, wenn sie es für nötig halten?

39. ALLWEISE: Sie helfen weise jenen, die an einem heiligen Ort Opfer bringen.
So hart überfällt kein Übel einen Mann, daß er nicht daraus erlöst werden könnte.

40. WINDKALT: Sag mir, Allweise, ich muß fragen und möchte wissen:
Gibt es keinen Mann, der in Menglads wonnigen Armen schlafen darf?

41. ALLWEISE: Keinen Mann gibt es, der in Menglads wonnigen Armen schlafen darf,
Außer Swipdag; ihm soll die sonnige Maid zur Gattin gegeben werden.

42. WINDKALT: Öffne weit die Tore! Hier kannst du Swipdag sehen!
Es ist noch unbekannt, ob Menglad geruht, mich zu ihrer Freude zu empfangen.

43. ALLWEISE ZU MENGLAD: Höre Menglad, ein Mann ist gekommen, geh’, den Gast selbst zu sehen.
Die Hunde sind zufrieden; das Haus hat sich von selbst geöffnet. Mich dünkt, daß es Swipdag ist.

44. MENGLAD: Wenn du lügst, daß der Mann von weit her zu meinen Hallen kam,
Bösartige Raben sollen am hohen Galgen dir deine Augen aushacken.

45. MENGLAD ZU SWIPDAG: Woher bist du gekommen? Warum hast du die Reise unternommen?
Unter welchem Namen bist du in deinem eigenen Haus bekannt?
Bei deiner Sippe und deinem Namen soll ich durch Zeichen erkennen, ob ich als deine Gattin gedacht bin.

46. SWIPDAG: Nebliger Morgen heiß ich. Sonnenglanz ist mein Vater. Von dort trieb’s mich
Auf windkalten Wegen vorwärts. Niemand soll Urds Verfügung beklagen, wenn auch die Ursache schwach war.

47. MENGLAD: Sei willkommen! Was ich mir gewünscht habe, habe ich jetzt. Ein Kuß heißt den lieben Ankömmling willkommen.
Lange habe ich dich auf dem Berg des Schlafes erwartet. Nun ist meine Hoffnung erfüllt.
Du bist wieder einmal, Mensch, zu meinen Hallen zurückgekehrt.

48. SWIPDAG: Beide haben wir uns gesehnt; ich habe nach dir verlangt und du nach mir.
Genugtuung herrscht jetzt, da wir beide gemeinsam die Aufgaben der Jahre und der Zeitalter teilen.

Fußnoten

1. Od wird abgeleitet von Odr, spiritueller Verstand, und steht für den evolvierten Menschen. Ähnlich wird das englische Wort man (Mensch) von dem Sanskrit-Wort manas abgeleitet, was auch die höhere Intelligenz, von man, nachdenken, denken, bedeutet. [back]

2. Zukunft [back]

3. Vergangenheit [back]

4. Lif, Lif, Thjodwarta, Bjärt, Blid. Blöd, Frid, Eir und Örboda. [back]