Der Wind des Geistes
Dr. Gottfried von Purucker
Stärke und Ausgewogenheit im Okkultismus
Die heiligen Mysterien werden niemals veröffentlicht – niemals. Wir Menschen müssen sie erwerben und uns entsprechend vorbereiten. Es ist offensichtlich, daß, wenn wir nicht reif sind, sie zu empfangen, sie niemals zu uns kommen werden. Jeder andere Versuch wäre ein Frevel. Ein Mann oder eine Frau kann sehr leicht den Verlust der Seele erleiden, wenn sie irgendeiner anderen okkulten Schulung als der der Meister folgen, die selbst unterwiesen wurden von den Dhyāni-Chohans, den strahlenden, gesegneten Göttern. Ich meine es ganz ernst. Wer die Wahrheit erlangen will, muß selbst zum Tempel kommen, und er muß im rechten Geist kommen; er muß daran arbeiten, daß er sich selbst schult, um reif zu werden, zu lernen und empfänglich zu werden. Anders kann er die Wahrheit eben nicht erlangen. Er würde es nicht begreifen. Er kann sie nicht verstehen, bevor er nicht einen Platz hat, um sie dort unterzubringen – um es in ganz einfachen Worten auszudrücken. Wenn der Verstand der Wahrheit gegenübersteht wie eine verschlossene Tür, öffnet er sich nicht, um zu empfangen. Zuerst muß sich der Mensch schulen. Wenn er sich jedoch schult und „das Leben lebt“, gibt es absolut kein Hindernis, das ihn auf Dauer davon abhalten kann, vorwärts zu schreiten. Das gleicht einem heranwachsenden Kind. Es kann nicht einmal die Weisheit dieser Welt erfassen, ehe sein Verstand sich bis zu dem Punkt entwickelt hat, wo es sie aufnehmen und festhalten kann, ehe es nicht dazu ausgebildet worden ist. Genauso ist es mit dem Okkultismus, mit der esoterischen Philosophie oder mit den Mysterien. Die größeren und die kleineren Mysterien sind wirklich in der theosophischen Bewegung enthalten. Jeder kann an ihnen teilhaben, aber er muß sich darauf vorbereiten, sich schulen, muß mit äußerstem Ernst dabei sein. Dann kann er sie erlangen.
Die oberste und grundlegende Regel dieser Schulung oder Disziplin besteht darin, sich für den inneren, höheren Teil seiner Konstitution empfindsam zu machen, deren aufrichtige Einflüsterungen kosmischer Realitäten keinen Einlaß in ein Gemüt finden, das absichtlich oder unwissentlich dagegen verschlossen ist. Das ist die gesamte, oder wenigstens der wesentliche Teil der Richtschnur der okkulten Lehren und des okkulten Lernens in einem einzigen Satz, und gleichzeitig ist es auch der Grund für all die Schutzmauern, die um sie herum errichtet wurden. Ich kannte selbst unglückliche Studierende der Theosophie, die buchstäblich verrückt waren, zumindest vorübergehend, aber nichtsdestoweniger verwirrt waren durch unkluges und führungsloses Studieren einiger der geheimen Lehren. Es ist erschütternd. Das Ergreifende liegt in ihrer Sehnsucht, sich zu vervollkommnen und größer als ihr niederes Selbst zu werden. Das Tragische beruht aber auch auf der Tatsache, daß sie versuchten, die Gipfel zu erstürmen, ehe sie sich darauf vorbereitet hatten, das Vorgebirge der Tugenden, des Studiums und der Selbstkontrolle zu durchqueren. Das ist eine der Gefahren, die die Meister und H. P. Blavatsky beachtet haben, und der sie entgegentreten mußten. Es ist eine äußerst schwierige Situation. Ich kannte Menschen, die nahe daran waren, gesundheitlichen Schaden zu nehmen, weil sie ausschließlich ein übertriebenes Studium auf der Basis des Gehirns betrieben, ohne die heilende, schützende Kraft der selbstlosen Hingabe, was in einer Weise höchst eindrucksvoll ist. Einerseits ist die Stärke ihres Verlangens nach Wahrheit bewundernswert und ihr Mut herzerwärmend; aber sie üben das Studium in unvernünftiger Weise aus. Aus diesem Grunde bestehen wir auf gleichmäßigem, ausgewogenem Wachstum, auf einem weisen und wohlgestalteten Wachstum in Wissen und Weisheit. Aus einem unklugen Studium okkulter Dinge entstehen nur entstellte Ansichten und mentale und psychische Mißbildungen.
In unserer T. G. wird daher das Innere, das Geheime, das Okkulte und Esoterische sehr sorgfältig beschützt, überwacht und niemals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Meister wollen nicht, daß ihre Schüler Risiken ausgesetzt werden, bei denen sie ihre Seele, ihren Verstand oder sogar ihr physisches Wohlbefinden verlieren oder eine andere menschliche Tragödie erleiden können. Wie übrigens schon erklärt wurde: erinnern Sie sich, wie schön und einfach die Regeln des Okkultismus sind? In den tieferen und okkulteren Studien gibt es nichts, was je Ihren Familienpflichten zuwiderlaufen würde. Das kann nie der Fall sein, denn diese Verpflichtungen sind eben Pflichten, und ein Theosoph hat an erster Stelle jede seiner Pflichten voll und ganz zu erfüllen. Wer auch nur eine einzige Pflicht vernachlässigt, ganz gleich, welchen Anfechtungen er unterliegt, ist kein Okkultist. Selbst wenn er nach der Sonne zu greifen versucht, ist er ein Feigling, wenn er einer Pflicht aus dem Wege geht. Ein Feigling und ein Schwächling kann kein Okkultist sein. Man darf niemals einem anderen gegenüber ungerecht handeln. Wenn man das tut, beginnt man abwärtszugehen und könnte auf den Weg der schwarzen Magie geraten. Aber es gibt einen Weg und eine Möglichkeit, dies zu vermeiden und auf den schmalen und wundervollen Pfad zurückzukehren. Denn er ist ein wahrhaft erhabener Pfad. Durch ihn erhalten wir das Verständnis dafür, daß wir mit den Göttern verwandt sind, und daß sie unter uns gegenwärtig sind. Ich meine es ernst: die Götter weilen selbst jetzt noch auf der Erde. Doch es gibt nur wenige Söhne der Menschen, die sich dazu geschult haben, sie zu erkennen.
Die Götter werden sich mit uns verbünden, selbst-bewußt für uns wahrnehmbar, wenn wir zunächst erfahren haben, daß es sie gibt; und dann, daß ihre Ähnlichkeit mit uns für beide Seiten wünschenswert ist. Wie auch immer, das reicht aus für den Hauptgedanken, den wir festhalten wollen, daß die Götter sogar heute unter uns weilen, wie in weit zurückliegenden Zeiten, als die Menschheit noch kindlich war, als sie noch unschuldig und nicht so anspruchsvoll war zu glauben, alles Wissen des Universums in ihrem armen kleinen Kopf zu besitzen.
Wir wollen daher würdig sein und unsere Leben so attraktiv und interessant für die Götter gestalten, daß sie ihrerseits froh und glücklich sind, sich mit uns, selbstbewußt, zu verbinden. Es gibt auf Erden einen geographischen Ort, wo es für die höchsten Menschen, die die Rasse hervorgebracht hat, üblich ist, mit den Göttern gesellig, frei und freundschaftlich zu verkehren. Zwischen den Göttern und diesen Menschen existieren jedoch dieselben Beziehungen wie zwischen den Lehrern und Schülern in unseren Schulen. Vielleicht verstehen Sie, was das bedeutet.
Und im Herzen – wie im Omphalos, im Zentrum oder Mittelpunkt eines Tempels – am allerheiligsten Platz dort, dem sanctum sanctorum, befindet sich ein unsichtbares Wesen, das höchste spirituelle Wesen dieser Erde. Machen Sie daraus, was Sie können.
Furcht, die große Zerstörerin
Die große Zerstörerin ist Furcht, Angst, die Besorgnis, was mir passieren oder zustoßen könnte. Furcht zerstört, weil sie auf Egoismus beruht. Überlegen Sie, wie wahr dies ist. Wenn ein Mensch sich selbst völlig vergißt, schwindet die Furcht, weil er nicht mehr weiter darüber nachdenkt, wie sich eine Sache für ihn auswirken könnte. Furcht ist Konzentration der Aufmerksamkeit auf sich selbst in Erwartung eines drohenden Unheils. Verlieren Sie sich selbst aus den Augen, vergessen Sie sich selbst und die Furcht wird verschwinden.
Oft wird behauptet, die Furcht sei ein Schutz; sie ist es aber nur für den Schwachen, dem sie zur zweiten Natur geworden ist. Sie ist nie ein Schutz für den Starken. Sie ist schrecklich destruktiv. Wofür? Für die Selbstbeherrschung, für das Selbstvertrauen. Sie unterminiert den Willen. Oft ist sie die Ursache für die Grausamkeit gegen andere. Furcht lähmt. Sie hemmt die Lebenskräfte. Sie läßt uns zittern und zagen, denn wenn man sie beherbergt, hat man nicht mehr den Mut, die Energie und die Kraft zum Vorwärtsgehen. Trotzdem befindet sich der Furchtsame stets in weit größerer Gefahr als der Furchtlose. Furcht zieht tatsächlich Gefahr an. Ihre Sicherheitschancen sind unendlich größer, wenn Sie furchtlos sind. Denken Sie darüber nach!
Wer möchte sein ganzes Leben in Furcht verbringen, sich vor allem fürchten, was wohl kommen mag, immer verstohlen um Ecken schleichen und sich verbergen; beim Versuch nach oben zu schreiten, dennoch den Aufstieg fürchten, aus Angst vor einem möglichen Fall? Das ganze Leben wäre ein andauerndes Grauen. Wie glücklich und froh ist dagegen der Mensch, der Liebe in seinem Herzen trägt, der sich nicht darum kümmert, was ihm geschehen wird. Er ist stark und beeinflußt andere mit seinem Selbstvertrauen. Wenn in seine Seele jemals Furcht eintreten sollte, dann könnte es nur in einer Zeit sein, in der keine Liebe mehr in ihm wäre.
Vergessen Sie sich selbst und alle Furcht wird verschwinden. Kennen Sie den königlichen Pfad des Selbstvergessens – den Gedanken an das Ich in Ihrem Leben völlig zu vergessen? Das bedeutet Liebe für alle Dinge, ob groß oder klein; denn vollkommene Liebe besiegt alle Furcht. Fürchten Sie die Dinge, die Sie lieben? Niemals! Sie wünschen sie, Sie sehnen sich danach, Sie streben nach ihnen. Lernen Sie daher lieben, und die Furcht verläßt Sie und Sie werden stark, denn Liebe ist eine mächtige, im menschlichen Herzen verankerte Kraft.
Warum ist die Liebe, ungeachtet der Tatsache, daß sie die Furcht vertreibt, ein so mächtiger Schutz? Weil ihre Schwingungen unendlich harmonisch sind. Ängste sind immer schwankende, verzerrte Schwingungen. Das Göttliche ist vollkommene Harmonie, und alles Tieferstehende kann sich zu ihm erheben. Furcht aber ist Disharmonie, zitternd, erschütternd, eine Zerstörerin der Lebenskraft. Denken Sie an den Anblick eines völlig verängstigten Tieres oder Menschen. Man fragt sich: „Wo ist die Liebe im Herzen dieses Menschen, die ihm Frieden, Kraft und äußerste Gelassenheit geben würde?“ Er hat sie verloren, er hat sie vergessen; wenn sie noch da wäre, hätte er keine Furcht. Und worin besteht diese vollkommene Liebe, die alle Furcht vertreibt? Nun, sie bedeutet in jenem Teil unseres eigenen Selbst zu leben, der universal ist. Sie bedeutet Verbundenheit mit dem Göttlichen. Darin liegt vollkommener Friede und vollkommene Harmonie.
Verlust der Seele und Unaufrichtigkeit
Es gibt eine Art von Selbstmord, die mit Recht, jedoch selten, so genannt wird. Und doch ist es eine sehr reale Angelegenheit, und stellt in unserer gegenwärtigen Welt eine Gefahr dar, eine ernste Gefahr. Es ist der Verlust der Seele – eine Vorstellung, die das herzlose und grausame abendländische Denken hart trifft. Das abendländische Denken in seiner Ignoranz nimmt aufgrund falscher Erziehung an, daß uns irgendeine göttliche Macht auf Gedeih und Verderb hierher versetzt hat, und daß wir, gleichgültig, was wir tun, für immer weiterleben müssen. Aber für diese Idee gibt es absolut keine Basis oder Realität, und das zeigt sich in der Tatsache, daß der gesunde Menschenverstand sie in den Westen zurückverbannt hat, in das Land, aus dem sie stammte.
Beachten Sie jedoch: die Seele ist nicht dasselbe wie die Monade. Die Monade ist ewig, denn sie ist sozusagen ein Teil des Unendlichen, ein Teil des kosmischen Ozeans des Lebens und untrennbar mit ihm verbunden. Die Seele jedoch ist das Vehikel, das sich die Monade aufgebaut hat, damit sie sich auf unseren Ebenen zum Ausdruck bringen kann. Wenn diese Seele ihrem göttlichen Urbild entspräche und ihm gleich wäre, dann wäre das ein Gottmensch auf Erden. Die Seele könnte dann an der Unsterblichkeit jenes göttlichen Urbildes teilhaben, weil sie mit ihm eins und mit ihm verschmolzen wäre. Dann hätten wir eine Seele, die nicht nur zum Vehikel der Monade, des göttlichen Geistes im Herzen des Menschen geworden wäre, sondern ihr tatsächlicher Ausdruck.
Nehmen Sie das Gegenteil an, wo die Seele so entstellt, ein so unvollkommenes Vehikel und noch so unvollständig entwickelt ist, daß selbst die gewaltige Kraft des Geistes kaum die Dichte ihres Stoffes, die Nebelschwaden des Denkens und die Wirbel der Gefühle und der Gedanken durchdringen kann. Hier ist die Seele nutzlos oder faktisch unbrauchbar und wird letzten Endes abgestreift, abgelegt, und eine neue Seele muß im Verlauf der Zeitalter entwickelt werden. Dies wird jedoch nicht allein seitens der Monade bewirkt. Es ist die Seele selbst, in der die Wahl getroffen werden muß. Sie kann langsam Selbstmord verüben, indem sie sich „Leben für Leben“ vorsätzlich für das Böse, um des Bösen willen, entscheidet. Sie tut das Böse, weil sie es liebt. Wenn dann der Punkt erreicht ist, wo der Widerstand der Seele gegen den von oben herabströmenden göttlichen Strahl mächtiger ist als die Energie oder Kraft des Strahls, der die rebellierende Seele leiten soll, tritt das ein, was wir als moralischen Selbstmord bezeichnen. Eine Seele ist verloren.
Das sind sehr reale Tatsachen und nicht nur leere Worte. Ich denke, es ist höchste Zeit, daß Theosophen offen darüber sprechen. Wir haben seit undenklichen Zeiten unsere Warnungen erhalten. Die größten Lehrer, welche die Welt jemals kannte, lehrten alle dieselbe Wahrheit: „Lebe das Leben, und Du wirst die Lehre kennen.“ Lebe das Leben, und Du kannst Unsterblichkeit erringen. Wenn Du es jedoch ablehnst, mit der Natur zusammenzuarbeiten, ihren Befehlen zu gehorchen und gegen ihre Gesetze aufbegehrst, dann endet dies mit dem Verlust der Seele – und wie leicht sind die ersten Schritte dahin. Facilis descensus Averno: „Leicht ist der Abstieg in den Avernus.“ Am Anfang ist er ganz leicht. Ja, wir riskieren ihn jeden Tag in unserem Leben: wir sind unaufrichtig, vergessen unsere Pflicht zu erfüllen und brechen unsere Versprechen. Vor allen Dingen aber versäumen wir, unser Wort einzulösen und uns des Vertrauens, das uns entgegengebracht wird, würdig zu erweisen. Wir alle kennen die inneren Reaktionen eines Menschen, der weiß, daß er treulos und unaufrichtig ist. Seine Seele wird verdorben. In den schlimmsten Fällen würde ich sagen, daß die Seele eines solchen Menschen von ethischer Fäulnis durchdrungen ist. So beginnt der Verlust der Seele. Selbstmord, moralischer Selbstmord, der Verlust der Seele beginnt in den kleinen Dingen. Groß sind jedoch die Menschen, welche ihr Wort einlösen, die aufrichtig und im Herzen wahrhaftig sind. In einer solchen Haltung manifestiert sich Größe, denn sie repräsentiert Geist.
Ein Mensch, der sein Wort hält und aufrichtig bleibt, ganz gleich, was es ihn kostet, ist groß. Das schließt Grausamkeit jeglicher Art anderen gegenüber aus. Es bedeutet Aufrichtigkeit dem eigenen Herzen gegenüber und Mut dazu. Durch diese Haltung werden Selbstachtung, innerer Friede und die Achtung jener erworben, die wir lieben.
Es ist so leicht, mit dem Abgleiten anzufangen. Aus Unaufrichtigkeit entsteht Falschheit und wenn das Herz falsch ist, wird die Rede falsch, und leicht entschlüpfen Lügen den Lippen. Mit einem jeden solchen Schritt abwärts wird es schwieriger, umzukehren, und der folgende Schritt in die gleiche Richtung ist noch leichter. Bilden Sie sich keinen Augenblick ein, daß Sie davor sicher sind. Solange wir unsere Zwischennatur haben, die sogenannte Seele, müssen wir über uns selbst wachen. Der Mensch hat es in seinen eigenen Händen, sich zu einem Gott zu entwickeln oder sich zumindest zu einem Menschen zu formen, zu dem andere aufblicken und dem sie vertrauen. Und was kann Größeres von einem Menschen gesagt werden als: man kann ihm vertrauen! Gerade wie wir uns erheben können, können wir auch fallen.
Es ist sehr schwierig, Richtlinien anzugeben, an denen ein Mensch erkennen kann, daß er zumindest auf dem aufwärtsführenden Pfad ist. Es ist außerordentlich schwer, für diese Dinge formale Regeln zu geben. Ich denke jedoch, wenn wir uns selbst ehrlich prüfen und nach dieser Prüfung zu uns sagen können: „Ganz gleich, welche Fehler ich gemacht habe, ganz gleich, wie oft ich auf dem Pfad gestrauchelt bin, ich habe Wahrhaftigkeit bewahrt; meine Zunge wurde nicht durch Falschaussagen beschmutzt; ich habe kein Vertrauen hintergangen; ich war treu in meinen Beziehungen zu anderen und auch zu mir selbst“ – wenn sich ein Mensch dies sagen kann, dann kann er annehmen, daß er ziemlich sicher steht. Aber wenn sich bei einer solchen Prüfung das geringste Gefühl von Selbstrechtfertigung oder die Neigung, sich selbst und seine Handlungen zu entschuldigen, in das Herz stiehlt und das Herz erkennt, daß die Tatsachen entstellt wurden – dann müssen wir achtsam sein!
Ich denke, die Ägypter hatten die richtige Vorstellung, wenn sie in ihren von Hieroglyphen umrahmten Malereien darstellten, wie das Herz gegen die Feder der Wahrheit aufgewogen wird. Obwohl sie so leicht ist wie eine Feder, ist sie doch gerecht und unbestechlich. Ich möchte wissen, wie viele von uns, wenn unsere Herzen gewogen würden, sehen könnten, daß das Herz den Waagebalken richtig im Gleichgewicht hält. Wir denken viel zu oft, der Mensch würde von seinem Gehirn, diesem armseligen Instrument, in die Irre geführt. Hier, im Herzen ist es, wo der Dämon am Werk ist. Und hier im Herzen ist es auch, wo der Gott zu finden ist. Das Gehirn wird von einem bösen Menschen nur benutzt, um für die Erfindungskraft seines lasterhaften Herzens Entschuldigungen zu finden und andere zu beschuldigen, nichts als Ränke zu schmieden. Aber die Impulse kommen aus dem Herzen. Das Gehirn wird nur zum Werkzeug, dessen bin ich ganz gewiß. Ich weiß, daß ich in meiner Arbeit viele, viele Vertrauensbrüche vergeben habe, und ich will Ihnen sagen, warum. Erstens, weil es groß ist, zu vergeben und zweitens, weil ich sah, daß auch ich falsch gehandelt haben könnte, wenn ich in der Lage dieser oder jener Person oder an der Stelle dieses Vertrauensbrüchigen gewesen wäre. Ich habe herausgefunden, daß die Disziplin des Vergebens gut und hilfreich ist.
Kein Mensch ist absolut unsterblich, keiner. Sie sind nur dann unsterblich, wenn Sie sich mit dem Unsterblichen, mit dem Unsterblichen in Ihrem Inneren, vereinigen. Andernfalls sind Sie sterblich, denn dann haben Sie sich mit dem Sterblichen in Ihnen verbunden. Prüfen Sie sich deshalb selbst, bevor es zu spät ist. Wenn Sie bemerken, daß Sie in Ihrem Herzen anderen gegenüber ungerecht gewesen sind und dabei die schlechten Impulse Ihres Herzens in Taten umgesetzt haben, dann hören Sie auf damit. Leisten Sie Genugtuung. Sollten Sie in Ihrem Herzen bemerken, daß Sie falsch und betrügerisch sind, weil Sie etwas erhalten oder verhindern wollen, hören Sie auf damit, denn Sie schreiten abwärts.
Seien Sie immer gütig! Denken Sie keinen Augenblick, daß Sie in Ihrer Aufrichtigkeit brutal und in Ihrer Offenheit gegenüber anderen roh sein müßten. Das ist reine Grausamkeit. Manchmal ist Schweigen unendlich gütiger als Reden. Manchmal können Sie die Wahrheit besser durch Stillsein, durch Schweigsamkeit vermitteln, als durch Sprechen. Aber bewahren Sie immer Wahrhaftigkeit, ob sie durch Sprache oder durch Stille zum Ausdruck gebracht wird. Hüten Sie sich vor Unaufrichtigkeit wie vor allen Dämonen der Hölle.
Die Beziehung des Endlichen zum Unendlichen
Frage: Welche Beziehung besteht nach theosophischer Auffassung zwischen dem endlichen und dem unendlichen Geist? Das Problem ist: Wenn man sagt, der endliche Geist sei ein Teil des unendlichen Geistes, dann muß man auch dem unendlichen Geist die Mängel des endlichen zuschreiben. Wenn man aber sagt, er sei kein Teil des unendlichen Geistes, dann kann das Unendliche nicht unendlich sein.
Antwort: Der Herr hat eine Frage gestellt, die zu allen Zeiten von allen Menschenrassen gestellt wurde. Es ist das gleiche Problem, das die Theologen gequält und beunruhigt hat, denn vom Standpunkt der Theologie aus ist es offensichtlich: Wenn Gott unendlich und dennoch ein Schöpfer ist, muß alles, was vom Unendlichen geschaffen wird, unendlich sein. Wir sehen uns aber von einer Unendlichkeit endlicher Dinge umgeben. Woher kommt das? Dies ist in der Theologie das gleiche Problem, das Sie, verehrter Herr, als philosophisches Problem angesprochen haben. Mir ist nichts bekannt, was diese Frage beantworten kann, außer der Gottesweisheit, die wir heute Theosophie nennen. Und Sie verstehen sicher, daß sie nicht so leicht zu beantworten ist, weil man im esoterischen Denken geschult sein muß, ehe man die volle Überzeugung erlangt, daß die Antwort völlig adäquat ist. Doch ich will versuchen, die Tatsachen in einfachen Worten darzustellen.
Die Vorstellung, daß das Unendliche ein handelndes Wesen ist, habe ich immer als völlig falsch angesehen, denn die Unendlichkeit kann kein handelndes Wesen sein, weil ein handelndes Wesen eine begrenzte Wesenheit ist. Die Unendlichkeit handelt nicht als ein Wesen, denn ein Wesen ist eine begrenzte Wesenheit. Wir können daher nur sagen, daß Unendlichkeit Handlung an sich ist, Leben per se, nicht ein Leben; das ist Begrenzung, das ist Endlichkeit. Nehmen Sie mich als einen Menschen, sich als einen Menschen, einen Himmelskörper wie die Sonne oder einen Planeten oder ein Tier, eine Pflanze, was Sie wollen, jede begrenzte Wesenheit: diese begrenzte Wesenheit, ein endliches Wesen, bewegt sich und lebt in seinem physischen Ausdruck und hat seine Existenz in der Unendlichkeit; es kann sich nicht außerhalb von ihr befinden, weil die Unendlichkeit keine Grenzen, keine Schranken und kein Darüber hinaus hat. Deshalb hat dieses endliche Wesen irgendwo, irgendwie und in irgendeinem Teil von sich, seine Wurzeln im Unendlichen; die Unendlichkeit durchströmt es, wie das Meer alles durchströmt, soweit seine Wellen reichen, obwohl natürlich die Unendlichkeit sozusagen ein grenzenloses Meer ist.
Daher habe ich als Mensch meine Wurzeln im Göttlichen; dieses Göttliche umgibt mich überall, es durchdringt mich durch und durch, in allen meinen Teilen und meinem ganzen Sein. Ich kann es nie verlassen. Deswegen bin ich ein Kind von ihm. Trotzdem bin ich hier, ein Mensch, in einem schwachen, kleinen, begrenzten physischen Körper, mit einem schwachen, kleinen, physischen, begrenzten Gehirn; und, im Vergleich zu den Göttern, ein schwaches, kleines Leben, mit einem Herzen, wie wir sagen, einem ethischen Instinkt und so weiter. Doch ich bin ein Mensch. Ich habe göttliche Gedanken, ich fühle meine Einheit mit allem Sein. Wie? Warum? Das ist das Problem.
Ich will jetzt andeuten, was die esoterische Theosophie über diesen Punkt sagt. Es gibt eine Unendlichkeit von Endlichkeiten, ein seltsames Paradoxon. Mit anderen Worten, die Wesenheiten oder Wesen, die wir endlich nennen, sind in ihrer Anzahl unendlich. Ich frage mich, ob Sie diesen Punkt erfassen. Daher sind die Atome des grenzenlosen Raumes durch keine Grenzen gebunden. Jedes einzelne ist eine endliche Wesenheit und doch existieren sie in unendlicher Anzahl. Wir können kein Ende wahrnehmen, weil es eine Begrenzung für das Unendliche wäre, wenn unser Denken einmal sagen würde, hier endet die Unendlichkeit, die hier Endlichkeiten erzeugt hat; und wir würden mit völliger Berechtigung fragen, warum sollte, wie könnte die Unendlichkeit sich selbst in irgendeiner Weise begrenzen? Dieser Gedanke ist widersinnig, wir können ihn nicht akzeptieren. Es ist das unendliche Raunen der Unendlichkeit in mir, das mein Bewußtsein befähigt, diesen Verständnisfaden zu erfassen; dem begrenzten Gehirn fällt es schwer, innerhalb seiner kleinen Grenzen eine unendliche Idee zu erfassen. Aber ich empfange eine Intuition, etwas, das im Inneren raunt, daß es so ist. Das ist die Unendlichkeit, die durch mich atmet und durch mich fließt.
Daher gibt es eine Unendlichkeit endlicher Wesenheiten, zusammengehäuft in verschieden angesammelten Massen, was sie auch sein mögen: Menschen, Planeten, Sonnen, Sterne, Steine oder sonst etwas – nennen Sie es Atome, weil all diese Dinge aus Atomen gebildet sind oder aus Dingen, die kleiner als Atome sind, wie Elektronen und Protonen und so weiter. Tatsächlich folgen alle kosmischen Erscheinungen im Großen wie im Kleinen dem gleichen, allgemeinen, kosmischen Schema oder Muster; und diese bestehen aus den Phänomenen des Universums, im Gegensatz zu den verborgenen Noumena oder verborgenen Ursachen.
Wir sehen somit, daß die westliche Philosophie einen schweren Irrtum bei ihren philosophischen Untersuchungen beging, als sie sagte, daß uns Unendlichkeit zwar umgibt, daß aber das Endliche radikal oder essentiell von ihr verschieden sei. Ein sonderbares Paradoxon! Gerade weil die Endlichkeiten unbegrenzt sind, zahlenmäßig unendlich, deshalb sind sie kollektiv als Unendlichkeit ein Teil der Unendlichkeit, ja in einem Sinne die Gewänder der Unendlichkeit. Sie sind die Unendlichkeit. Mit anderen Worten, wir müssen unsere Betrachtungsweise vom Universum ändern, ehe wir verstehen können, warum das Unendliche zur rechten Zeit atmet, wie es der Fall ist, im – wie wir Menschen sagen – grenzenlosen Raum. Es gibt eine Art, in der selbst ein menschlicher Gedanke unendlich ist, weil er ein Gedanke aus einer unendlichen Zahl von Gedanken und Energien ist, die im Herzen der Natur leben und die die Unendlichkeit niemals verlassen können.
Wenn Sie diesen sehr subtilen und schwierigen Gedanken erfassen, dann erfassen Sie genau, was die esoterische Philosophie lehrt, wie auch zum Beispiel die Vedanta, die Adwaita-Vedanta Indiens. Was lehrt sie und auch der Weise der Veden seine Schüler? Dies: Tat twam asi. „Jenes, das Grenzenlose, bist Du.“ Denn wenn Jenes und Du verschieden sind, dann steht das Du außerhalb der Unendlichkeit, was absurd ist, und die Unendlichkeit wird sofort begrenzt, weil es etwas gibt, das über sie hinausgeht, was bedeutet, daß sie von etwas umgeben und deshalb begrenzt und daher nicht unendlich ist. Deshalb wird dieses begrenzte Wesen, diese Endlichkeit, auf diese wundersame Art von Unendlichkeit durchströmt, weil sie in ihrem Herzen, in ihrer Essenz, aus der Substanz der Unendlichkeit besteht.
Nun zur Theologie: genau das ist der Grund, warum Theosophen die christliche Theologie nicht annehmen können, obwohl wir die Lehren des Avatāra Jesus annehmen. Wir sehen in ihm einen der größten Theosophen. Die Theologie der Christenheit wurde jedoch in späterer Zeit von unbedeutenderen Menschen entwickelt, die das Geheimnis der Lehren ihres großen Meisters verloren hatten. Wenn die christliche Theologie sagt, daß Gott ein Schöpfer sei, daß „Er“ die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Unendlichkeit aus Nichts geschaffen habe, dann sagen wir, daß dies unmöglich ist; es begrenzt „Gott“. Unendlichkeit ist kein Schöpfer, sie ist kein Erschaffer, kein Demiurg, um den philosophischen Begriff demiourgos der Griechen zu verwenden; sie ist Jenes, genau wie der Weise der Veden, der Adwaita-Vedanta Indiens und die esoterische Philosophie sagen. Wir geben ihr keinen konkreten Namen, denn ein Name schließt Begrenzung ein. Wir sagen einfach, es ist namenlos, Jenes. „Jenes“ ist kein Titel, es ist kein Name; es ist nur ein Versuch des menschlichen Geistes, die Unendlichkeit nicht zu etikettieren oder ihr einen Namen zu geben oder sie zu bezeichnen; es ist lediglich die Verwendung des Begriffs Jenes als sprachliches Mittel im Gespräch.
Und schließlich lehrt aus diesem Grunde die esoterische Philosophie entlang dieser subtilen Gedankengänge, daß selbst das, was wir als physisches Universum bezeichnen, unendlich ist, weil es aus einer unendlichen Zahl von endlichen Einheiten zusammengesetzt ist. Und so ist es seit Ewigkeit. Es hatte nie einen Beginn, und wird nie ein Ende haben, weil die Unendlichkeit keinen Anfang und kein Ende hat. Unendlichkeit erschafft nicht und erzeugt diese Endlichkeiten nicht. Deshalb sind sie immer, seit unendlicher Vergangenheit in unendliche Zukunft Teile der Unendlichkeit. Seltsames philosophisches Paradoxon! Wunderbare Intuitionen der archaischen Weisen!
Es ist zwar sehr edel von uns, diese tiefen und schwierigen Gedanken zu erforschen, weil sie uns auf höhere Ebenen des Denkens erheben und unseren Geist erweitern; doch manchmal denke ich, daß ich mit dem Alten Weisen übereinstimme, der sagte, daß die Antwort, die richtigste Antwort auf solche Probleme in der Stille gefunden wird. Oh, wie wahr ist dies! Worte sind es, die uns in die Irre führen, Worte, die uns verwirren und unsere Gedanken ablenken. Und doch müssen wir Worte benützen, um miteinander in Verbindung zu treten. Wenn dieser Herr Professor oder Lehrer an einer Universität ist, habe ich Verständnis für ihn, weil ich seine Schwierigkeit kenne, manchmal solche subtilen Gedanken an andere weiterzugeben. Und trotzdem tut er es, die Lehrer tun es, weil sie wissen, daß in den Lernenden, in den Schülern, etwas ist, das zumindest eine Intuition von der Wirklichkeit erfassen kann.
Manchmal glaube ich, daß die westliche Philosophie unter großen Nachteilen lebt. Sie hat unter einer schweren Behinderung gelitten, und zwar der, daß das philosophische Denken im Westen nie eine richtige Gelegenheit hatte, sich frei von theologischem Dogmatismus zu entfalten und zu entwickeln. Ich weiß, daß hier vielleicht ein heikles Thema berührt wird, aber es ist äußerst wichtig für die Freiheit des menschlichen Denkens. Die Philosophie im Orient hat nicht Tausende von Jahren mit diesem Handicap gearbeitet. Die Gedanken orientalischer Philosophen und der archaischen Mysterienschulen hatten die Freiheit zu wachsen und sich zu entfalten; und ich will Ihnen jetzt zeigen, was ich meine.
In der esoterischen Weisheit und auch im philosophischen und religiösen Denken des Orients – einem direkten Abkömmling und Kind des Okkultismus, der Theosophie – ist die Unendlichkeit oder das Grenzenlose oder Jenes weder gut noch böse. Dies sind menschliche Begrenzungen, die nur im Kontrast zu begrenzten Wesen Anwendung finden. Es ist ein Mensch oder ein Engel oder ein Gott oder ein Deva, der gut oder böse ist. Ein Geist des Guten oder ein Geist des Bösen? Die christliche Theologie unterlag einer falschen Eingebung. In Wirklichkeit strömen aus dem Herzen der Unendlichkeit, wie aus einem ewigen Schoß, Hierarchien von „Leben“ hervor, Monaden, wie Leibniz sagen würde: alle die geistigen Wesen in verschiedenen Graden und Abstufungen der evolutionären Entfaltung, wie wir es heute bezeichnen. Da sind zum Beispiel die höchsten von den höchsten der höchsten Götter, und unter diesen die höchsten der Höchsten und unter diesen die Höchsten und dann die Götter und dann die Dhyāni-Chohans und dann die Wesen unter ihnen, bis wir zu den Menschen kommen. Und dann kommen die Wesen unterhalb uns Menschen auf anderen hierarchischen Stufen von Wesenheiten, wie die Tiere, die Pflanzen und die Elementale, die alle aufwärts marschieren auf ihrem evolutionären Weg, höher und höher. Wahrlich, in dieser Welt, in der wir leben, finden wir Gutes und Böses. Und wir sehen auch, wie schön das Gute ist, denn es ist Harmonie und Liebe und Frieden und Fortschritt und Entwicklung, Evolution, Ausdehnung und Wachstum. Gleicherweise sehen wir, was böse ist, Einschränkung, Beschränkung, Leiden, Schmerz, Unzulänglichkeiten, Unwissenheit; mit anderen Worten, unvollkommene Entwicklung, die oft Rückschritt oder ein Zurückgehen zu größerer Unvollkommenheit einschließt, bis die Lektion durch Gewohnheit erlernt wird, und die Wesenheit den Aufwärtsweg einschlägt. Das ist es, was der böse Mensch tut. Er geht vorerst für die Dauer seines üblen Tuns abwärts und rückwärts. Daher kommt es, daß wir bei den manifestierten Dingen des Universums wundervoll Gutes und das Beste finden und schrecklich Übles und das Schlimmste.
Alle diese Gedankenreihen, die die Erzeugung der Scharen von Hierarchien endlicher Wesen und Dinge betreffen, wurden in der alten Philosophie als Lehre der Emanationen bezeichnet, die von der christlichen Theologie verdammt und verflucht und geschmäht wurde, und die zu verstehen die westliche Philosophie nie eine Chance hatte, weil ihre Lehrer verfolgt wurden. Sie waren nicht wirklich frei, denn sie hatten nicht die Gelegenheit, die die Philosophen des Orients haben. Ich weiß es, ich habe es erlebt.
Daher können wir nicht sagen, daß das Unendliche gut ist, weil dies ein begrenzter Begriff ist, der nur für Wesen emanierter Hierarchien gilt, und in den niederen Graden derselben finden wir weniger göttliches Licht. Denn, wie die Gnostiker sagten – eine Schule der alten Philosophie in frühchristlicher Zeit –, sie leben in Finsternis, sie sind begrenzt, sie können nicht klarsehen, und das ist böse, was wir böse nennen, Begrenzung.
Daher ist es ganz falsch, von der Unendlichkeit zu sagen, sie sei gut, denn wenn Unendlichkeit gut ist, wie sollen wir dann das Böse in der Welt erklären? Und es gibt sehr viel Böses! Nein, Gut und Böse gehören zu den ungeheuer großen Scharen von Hierarchien, die in der Unendlichkeit existieren, die in einer großen Lebenswoge in irgendeinem Teil des Universums in Erscheinung treten, ihre Lebenszeiten durchlaufen, vorwärts streben und Fortschritte machen, und dann, wenn sie den Kulminationspunkt oder den höchsten Punkt ihres Wachstums in dieser Zeitperiode erreicht haben, wieder in den Schoß des Göttlichen zur Ruhe zurückkehren, um in einer zukünftigen Zeit wieder auf höheren Ebenen in erhabeneren Sphären hervorzukommen. Diesen Prozeß beobachten wir überall in der Natur: wie der Baum, der im Frühjahr erwacht, seine Blätter austreibt und diese im Herbst abschüttelt; wie wir zum Beispiel sehen, wie sich der Mensch wiederverkörpert: teils in der göttlichen Welt und teils in der physischen, Leben um Leben, hin und her geht der Schwung des Pendels, der Naturgesetz ist. Wir erkennen es um uns herum. Es gibt ein großes Buch, das wir studieren sollten: die Natur, die existierenden Dinge. Und wenn ich Natur sage, meine ich nicht allein die physische Natur, sondern die gesamte Natur im esoterischen Sinne, die Natur des Göttlichen, die Natur des Spirituellen, die Natur der intellektuellen Welten, die Natur der physischen Welten, die Natur der Welten unterhalb des Physischen. Wer kann, und wer wagt es, dem Leben in der Unendlichkeit Grenzen zu setzen?
Der Kern der Antwort auf die gestellte Frage ist daher folgender: jede Einheit der grenzenlosen Zahl endlicher Wesen oder Dinge, die in und aus der Unendlichkeit leben, jede solche Wesenheit, sage ich, ist in ihrem Höchsten, in ihrer Essenz oder in ihrer fundamentalen Substanz mit der Substanz der Unendlichkeit identisch; diese Punkte der unendlichen Substanz oder diese monadischen Zentren in ihren verschiedenen Ausdrücken als kosmische Phänomene sind oder werden oder erscheinen oder zeigen sich aber als die endlichen Einheiten, von denen in der Frage gesprochen wurde. Daher ist jede Einheit in ihrer essentiellen Substanz wahrhaftig aus dem Stoff der Unendlichkeit; alle sind oder werden jedoch in ihren Manifestationen oder emanierten Ausdrücken die einzelnen oder „getrennten“ Einheiten in ihren zahllosen Armeen oder Hierarchien.
Mißbrauch des freien Willens
Ich wurde oft gefragt, wie es kommt, daß das Göttliche in und hinter allen Dingen ist, und trotzdem im Leben der Menschen gleichzeitig all die schrecklichen Dinge passieren: Kriege, Erdbeben und Ähnliches. Diese Dinge sind nichts als ein Beweis für kosmische Aktivität. Der kosmischen Aktivität kann jedoch nicht die Schuld dafür zugeschoben werden; wir sind die Kanäle, durch die die kosmischen Kräfte wirken und arbeiten, von uns fehlgeleitet, durch unseren freien Willen – zumindest relativ frei –, durch unsere Wahl, unsere Entscheidungen: liebliche Glocken tönen manchmal falsch, aber dennoch sind sie Glocken.
Jedermann weiß, daß ein Mensch, der seinen Körper mißbraucht, dafür durch Schmerzen und Krankheit büßen muß. Diese Dinge existieren; und die Unpäßlichkeit, die Krankheit und die Schmerzen entstanden aus dem ursprünglich Harmonischen, sonst gäbe es keinen Gegensatz. Sie widerlegen nicht die kosmische Harmonie, sondern beweisen vielmehr, daß irgendwo in diesem Zusammenhang irgend jemand, irgend etwas, den gottgegebenen Vorzug der Zusammenarbeit mit den göttlichen Harmonien mißbraucht hat. Arbeitet ein Mensch in völliger Harmonie mit den Göttern zusammen, ist er das, was wir einen Buddha, einen Christus oder einen Avatāra nennen. Wenn ein Mensch jedoch nicht so gut kooperiert und seinen freien Willen, der aus dem Göttlichen Selbst hervorgegangen ist, stets dazu benützt, Disharmonien zu erzeugen, wo es seine Pflicht ist, Harmonien zu erhalten und zu schaffen, was passiert dann? Das hängt von der Ebene ab, auf der sein Verstand tätig ist. Wenn er jedenfalls den abwärtsführenden Pfad anstelle des aufwärtsführenden wählt, sinkt er immer tiefer und tiefer in den Abgrund. Und das bedeutet ganz einfach folgendes: genauso wie man durch ununterbrochenen Mißbrauch seine Gesundheit ruinieren kann und einen Körper bekommt, der vielleicht für mehr als eine Inkarnation auf Erden von Krankheiten geplagt wird, genauso verhält es sich mit dem Verstand und dem Willen. Wenn man seine Seele unaufhörlich mit disharmonischen, haßerfüllten und bösen Gedanken füllt, wird man die innere Struktur dieser Seele zerstören, und sie wird das Vorbild dieser Gedanken übernehmen. Man wird zu einem Arbeiter, der das innere Selbst formt und das künftige Leben entsprechend diesem Vorbild seiner Gedanken und Gefühle gestaltet. Da das Böse immer einschränkend wirkt, folgt daraus, daß die innere Struktur, der freie Wille immer weniger und weniger leistungsfähig wird, mehr und mehr unharmonisch mit sich selbst, schwächer und schwächer an Kraft und Energie, sogar an Imagination und Empfindung, weil man unaufhaltsam mehr und mehr eingeschränkt wird, anstatt offener und universaler. Wenn man auf diesem abwärtsgerichteten Pfad weitergeht, wird man folglich so niedrig wie die Tiere. Man verliert seine Menschlichkeit. Niemand kann dafür beschuldigt werden, als man selbst. Das meinen wir mit dem Ausdruck „in den Abgrund sinken“.
Das Gegenteil davon ist stetes Wachstum an Fähigkeit und Macht, basierend auf Universalität, Vervollkommnung, bis wir schließlich göttlich werden, kosmisch in unserem Denken, im Streben unseres Intellekts, kosmisch in unserem Mitleid und bis wir mit dem Universum wachsen.
„Führe uns nicht in Versuchung“
„Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel.“ Als der Avatāra Jesus seinen Jüngern gegenüber diese wunderbare Aussage machte, sagte er es, um ihnen zu helfen. Wenn man das Neue Testament der Christen liest, wird man dort finden, daß ihnen dieses Gebet, wie sie es nennen, zur Anwendung gegeben wurde. Daher beruht das ganze Gebet auf Psychologie. Es muß vom psychologischen Standpunkt aus gelesen werden. Ich meine damit nicht die Psychologie der gegenwärtigen Zeit, die kaum mehr ist als eine Art verfeinerter Physiologie. Ich meine die Psychologie der großen Seher, der titanischen Intellekte aller Zeiten; mit anderen Worten, die Wissenschaft von der menschlichen Seele, dem Bindeglied im Menschen, nicht vom Geist und nicht vom Körper, sondern von der Seele.
Es ist eine sehr subtile Sache: Wenn Sie etwas zu tun vermeiden wollen, was Sie als schlecht erkannt haben – wußten Sie, daß es dann die beste Lösung ist, nicht nur den Tatsachen in die Augen zu sehen, sondern sich damit klar im eigenen Denken auseinanderzusetzen? Oft ist die Häßlichkeit des Gedankens oder der Tat abstoßend. Die Versuchung wird in ihrem wahren Ausmaß erkannt. Daher ist es nie das höhere Selbst oder der innere Gott – die Christen nennen es Gott –, der jemals in Versuchung führt. Vielmehr üben die höheren Teile unseres Wesens, der Geist im Innern, der Gott in uns, ständig einen inneren Ansporn auf uns aus: besser zu handeln, mehr zu sein, den Weg einzuschlagen, zu erwachen, den Schlaf zu vertreiben und zu sein und zu handeln. Oft kann das wundervolle Gehirn, das bis jetzt noch nicht entwickelt ist, die wirkliche Bedeutung der Eingebung von oben nicht erfassen und entstellt sie.
Erinnern Sie sich an diese Tatsachen, die Ihnen gelehrt wurden, das ist der Sinn der Rede des Avatāra. Genau die Tatsache, daß man bei einem Ausbruch von Verlangen zu sich sagen wird: führe mich, nicht den Pfaden zu folgen, die heilig erscheinen oder die in die illusorischen Farben der Herrlichkeit meiner Wünsche gehüllt sind. Führe mich, nicht versucht zu sein durch das, was hoch zu sein scheint, sondern befreie mich von diesen Dingen. Eben diese Gedanken im Geiste bewirken, daß die Versuchung ihre ganze Verführungskraft verliert. Das Gebilde wird als das erkannt, was es ist.
Sie kennen die alte Fabel vom Ablegen der Kleider, die den Ritter täuschten. Er sieht, wie die Sehnsucht seines Herzens auf ihn zukommt; er muß eine Prüfung durchlaufen, eine ritterliche Prüfung. Wird er der Verlockung erliegen, die genau die Sehnsucht seines Herzens zu sein scheint? Keiner weiß es. Er steht in der Prüfung, in der Prüfung des Ritters. Er schreitet auf die verführerische Illusion zu, zieht die bezaubernden Schleier beiseite und sieht den Totenkopf. Das ist die Bedeutung.
Die bloße Tatsache, daß Jesus seine Schüler ermahnt hat, dies jeden Tag anzustreben, zeigt, daß das seinen Jüngern einen sehr wertvollen psychologischen Schutz bot. Mit anderen Worten, sie sollten um ihr Bewußtsein etwas aufbauen, was die moderne Psychologie als Gedankenrahmen oder Gedankenwall bezeichnet.
Die moderne Psychologie hat eine Wahrheit entdeckt, und zwar, daß uns Versuchungen befallen infolge von Schizophrenie, wie es moderne Psychologen genannt haben. Ein langes, häßliches, griechisches Wort mit der einfachen, guten, altmodischen Bedeutung, daß die menschliche Natur oft in sich selbst gespalten ist. Schizophrenie bedeutet geteiltes Bewußtsein, gespaltene Persönlichkeit. Die gute alte Redeweise war, daß der Verstand oft in sich selbst geteilt ist, oder daß wir über etwas zweierlei Ansichten haben.
Was ist nun die psychologische Folgerung aus dieser Sache? Es ist folgendes: schmieden Sie Ihr Bewußtsein wieder in eines zusammen, und Sie werden nicht unterliegen. Jeder anständige Mensch weiß um diese Wahrheit, wenn er sich selbst prüft. Wir erliegen der Versuchung, weil wir es zulassen, daß sich unser Bewußtsein spaltet, ein Teil des Verstandes erniedrigt den anderen, und dann argumentieren wir: „Können wir nicht so davonkommen?“ Mit anderen Worten: man kann nicht zwei Herren gleichzeitig dienen.
Sobald der innere Gott unser Bewußtsein, unser Gehirn mit seinem heiligen Licht, mit seiner Liebe durchdringt, wird die Schizophrenie zu einem Schrecken der Vergangenheit. Indem wir uns weigern, diese mentale Spaltung in uns zuzulassen, werden wir einmütig, fühlen die innere Göttlichkeit; und wenn das im höchsten Grade der Fall ist, haben wir einen Christus oder einen Buddha. Diese sind unter uns erschienen. Es gibt keinen Grund, warum heute keiner erscheinen sollte.
Hilfe von den Göttern
Die Götter helfen uns sicherlich. Sie beobachten uns sozusagen von ihrem Himmelsthron, um uns zu helfen und halten ständig Wacht. Können wir aber auch nur für einen Augenblick annehmen, daß die Götter sich am Werk der Zerstörung beteiligen? Oder auf der anderen Seite, daß wir göttliche Hilfe oder Unterstützung erhalten werden, bevor wir nicht selbst zu einem Kanal des Göttlichen geworden sind? Benutzen Sie Ihre Vernunft und Ihren Verstand und lassen Sie sich nicht durch religiöse Propaganda irreführen. Wenn Sie die Wahrheit gewinnen wollen, dann streben Sie danach, gottgleich zu werden, um so zu einem geeigneten Kanal des göttlichen Einflusses zu werden, der durch Sie fließt. Sie werden nicht nur Schutz und Hilfe erhalten, sondern auch ein göttliches Werk in der Welt vollbringen. Bedenken Sie das! Sie müssen gottgleich sein, wenn Sie die Hilfe der Götter erhalten wollen, weil Sie göttliche Dinge vollbringen wollen! Wenn Sie den Göttern den Rücken zukehren, dämonische und teuflische Dinge tun, und das gar noch im Gewande der Heuchelei, dann ist das nicht gottgleich, und Sie werden von den Göttern keine Hilfe erhalten. Sage ich die Wahrheit, oder nicht? Spreche ich zu Ihnen von Dingen, die immerwähren, oder die vergänglich und in fünf Jahren vergessen sind?
Welchen Maßstab legen Sie bei Ihrer Lebensführung an? Haben Sie Grundsätze, oder haben Sie keine? Sie kennen die Antwort. Betrügen Sie sich nicht selbst, indem Sie denken, daß die Götter Ihnen helfen, obschon Sie nur darauf bestehen, in Ihren engen menschlichen Geleisen weiterzufahren; doch dann, wenn das Unglück kommt, erheben Sie hilflos die Hände zu den Göttern und sagen: „Warum passiert das mir; was habe ich getan?“ Kommen Sie nicht und sagen Sie, daß Sie auf der Seite der Götter stehen, ehe Sie es nicht wirklich tun, und so wie die Götter arbeiten und gottgleiche Werke vollbringen, und ehe Sie sich an die Prinzipien halten, die Sie sich erwählt haben. Nur dann stehen Sie auf der Seite der Götter, und dann werden Sie auch Hilfe erhalten; sonst nicht. Das gleiche sagt auch der Avatāra Jesus: Sie können selbst nachlesen, welche Antwort er den Geldwechslern im Tempel und den Heuchlern gab.
Über die Vorbestimmung
Haben die Theosophen eine Lehre, die der christlichen, theologischen Lehre über die Vorbestimmung vergleichbar ist? Sagen wir, wie die Calvinisten und woran viele römische Theologen in ihrem Herzen glauben, daß das Göttliche alles im voraus wußte, bevor es ins Dasein trat, und alles und jedes vorherbestimmte, ehe es geschah? Mein Antwort ist folgende:
Die göttliche Ideenbildung der Monas Monadum, „der Monade der Monaden“, man kann sagen, des Hierarchen unseres Sonnensystems, oder, wenn Sie wollen, des Hierarchen unserer Galaxie: die göttliche Ideenbildung sah vorher und wußte im voraus, wie sich die Wege des karmischen Wirkens im beginnenden Manvantara entfalten würden. Dies war jedoch nicht das Wissen eines außerkosmischen Gottes, der Dinge erschafft und diesen Wesenheiten und Dingen ein unwiderrufliches Schicksal aufprägt. Es war lediglich die vorausblickende Vision eines göttlichen Wesens darüber, was die unzähligen Monaden, die die Hierarchien in diesem Universum bilden – jede individuell mit dem ihr eigenen Maß an freiem Willen –, in dem sich entwickelnden Manvantara tun würden. So, wie es möglicherweise Eltern oder ein Meister tun würde. Die Eltern, den Charakter ihres Kindes kennend, werden sagen: wir müssen auf diese Tendenz oder Vorliebe aufpassen. Oder wie ein Meister über seinen Schüler denken würde: ich sehe in ihm diese Neigung. Ich werde das genauer beobachten und in dieser Richtung hilfreich sein.
Die göttliche Ideenbildung sah alles, was sich ereignen würde. All das war im göttlichen Denken gegenwärtig; alles, was während des kommenden Manvantaras geschehen würde; alles, was seine Kinder tun würden, wie ein jedes dieser Kinder gemäß seinem freien Willen handeln würde und entsprechend dem göttlichen Impuls oder Karma, das es selbst in dem vorhergehenden kosmischen Manvantara verursacht hatte. Tatsächlich hat die göttliche Ideenbildung nicht nur die Vorausschau über makro- und mikrokosmische Vorgänge, die sich in Übereinstimmung mit genau dieser göttlichen Ideenbildung entfalten werden, die das höchste Gesetz in dem entstehenden Universum ist; sondern die göttliche Ideenbildung war (ist) sozusagen der genaue Plan des Architekten1 des zukünftigen Universums, in dem alles genau verzeichnet ist bis zum Ende dieses Universums. Aus der Vielzahl der in einem Manvantara plötzlich tätig werdenden Monaden ist jede einzelne in ihrer Essenz ein Teil des göttlichen Lebens und darum ein Instrument der göttlichen Ideenbildung, und handelt trotzdem letzten Endes während der gesamten evolutionären Pilgerfahrt durch die Universität des Lebens gemäß ihrer eigenen, innersten Impulse. Folglich zieht jede Monade ihren freien Willen aus dem göttlichen Leben, ihren Anteil daran. Sie handelt in Übereinstimmung mit der göttlichen Ideenbildung, denn es ist unmöglich, sich ihr zu widersetzen. Daraus ersehen wir, daß kein Fatalismus in diesem Gedanken enthalten ist, es handelt sich um kein vorbestimmtes Schicksal, das heißt, keine Vollmacht einer überlegenen Macht über die evolvierenden Scharen von Monaden. Mit anderen Worten, jede Monade wirkt ihr Schicksal in Übereinstimmung mit ihrem eigenen, inneren Svabhāva oder Charakter aus, aber sie muß trotzdem dem Schöpfungsplan der göttlichen Ideenbildung folgen. Sie ist dennoch ein Funke des göttlichen Lebens, von dem die göttliche Ideenbildung selbst nur eine Manifestation ist. Welch ein überwältigendes, grandioses und erhabenes Bild aller Monaden, die zu Mitarbeitern in dem göttlichen Plan werden! Wirkt eine Monade diesem Plan entgegen, dann geschieht dies auf Kosten ihres eigenen Leides und Unglücks. Es gibt absolut keinen Platz für ein blindes Schicksal, kein unerbittliches Kismet, kein unentrinnbares Geschick.
Wenn ein Manvantara endet, schließen alle Monaden sozusagen mit einer Summenbilanz ab. Das Schicksal eines Menschen ist, wie es die Moslems poetisch ausdrücken, im Buch des Schicksals aufgeschrieben. Seine Zukunft steht in dem Buch aufgrund seiner eigenen, früheren Leben. Und die göttliche Ideenbildung wußte all das, weil diese göttliche Ideenbildung – was ist sie? – der allumfassende Hierarch ist, von dem wir Funken sind.
Wir vertreten also nicht die Meinung der christlichen Theologen, sondern wir lehren mit äußerster Entschiedenheit ein Schicksal, das jeder Mensch sich selbst webt, mit seiner Intelligenz und seinem Willen, Leben um Leben, ja sogar Jahr für Jahr, von Tag zu Tag; mit jedem Gedanken, mit jedem Gefühl drückt es sich nicht nur in seinem Charakter aus und verändert diesen, sondern es werden auch im astralen Licht, in dem Eindrücke zurückbleiben, fotografische Bilder hinterlassen.
Wie eine Spinne ihr Netz webt, so webt jeder Mensch sein eigenes Schicksalsnetz um sich. Sehr oft jedoch leiden wir Menschen auch wegen Dingen, für die wir nicht selbst voll verantwortlich sind. Sind wir für die Kriege verantwortlich, die heute die ganze Welt erschüttern? Da wir der menschlichen Rasse angehören, sind wir auf eine Weise verantwortlich. In der Vergangenheit hinterließen unsere Gedanken im Astrallicht entsprechende astrale Eindrücke, aber als Individuen verübte keiner von uns die anmaßenden Angriffe, die Nationen in den Krieg stürzen. Dennoch beeinflussen diese Kriege auch uns, beeinflussen all die unglücklichen Menschen, die heute in Furcht und Schrecken leben. Es ist ihr eigenes Karma. Sie schufen es irgendwann in vergangenen Leben. Aber individuell ist keiner gänzlich verantwortlich dafür. Diese Feststellung erscheint wahrscheinlich spitzfindig. Aber näher betrachtet ist es ganz einfach. Wenn heutzutage irgendwo auf der Welt ein Krieg stattfindet, beeinflußt das den gesamten Erdkreis – so eng sind alle Menschen miteinander verbunden. Alles wird teurer, bestimmte Nahrungsmittel oder Luxusgegenstände sind vielleicht außerhalb der Reichweite der Allgemeinheit oder sind verboten. Berufliche Positionen gehen verloren, und Angst und Furcht gehen um. Habe ich das alles verbrochen, weil ich darunter leide? Nein; hat Karma mich aufgrund meines eigenen Handelns hierher gebracht? Ja; in einem gewissen Umfang bin ich verantwortlich. Viele Dinge treffen uns, für die wir als Menschen, die wir im vierten Prinzip unserer Konstitution leben – dem niedrigeren Teil von uns, dem Erdenkind, der menschliche Seele –, karmisch nicht voll verantwortlich sind. Ein Teil in uns ist jedoch verantwortlich, und das ist der Dhyān-Chohan in uns, das reinkarnierende Ego. Darin liegt also keine essentielle Ungerechtigkeit.
Ich will versuchen, dies zu verdeutlichen. Unser spiritueller Teil, unser reinkarnierendes Ego, das viele tausend Male gelebt hat, ist für alles, was uns trifft, voll verantwortlich. Das menschliche Ego jedoch, dieses Erdenkind, die gewöhnliche menschliche Seele, ist für viele Dinge, unter denen das spirituelle Ego leiden muß, nicht verantwortlich. Es erduldet sozusagen unverdientes Leid. Seltsames Paradoxon! Ich möchte die Aufmerksamkeit der Leser auf die Ausführungen von H. P. Blavatsky über unverdientes Leid richten. Sie sind in der deutschen Ausgabe ihres Buches Der Schlüssel zur Theosophie auf Seite 121/122 zu finden, besonders vielleicht auf Seite 122. Hier erläutert H. P. Blavatsky in ihrem unvergleichlichen Stil, daß im Gegensatz zum reinkarnierenden Ego, das für alles verantwortlich ist, was einem Menschen an Gutem, Schlechtem oder Indifferentem passiert, dem irdischen, rein persönlichen Menschen oft unverdientes Leid widerfährt. Auf Seite 122 jedoch führt sie aus, wie beim Tod der persönliche Mensch für einen kurzen Augenblick mit der spirituellen Individualität zu einer Einheit verschmilzt. Für diese Zeit sieht und begreift er, wie er tatsächlich ist, nicht beschönigt durch Schmeichelei oder Selbsttäuschung.
Er liest in seinem Leben und gleicht dabei einem Zuschauer, der auf die Arena hinabblickt, die er soeben verläßt; er fühlt und erkennt die Gerechtigkeit allen Leidens, das ihm zuteil wurde.
Wenngleich dem persönlichen, irdischen Menschen, seinen vier niederen Prinzipien, in diesem Leben tatsächlich unverdientes Leid widerfährt, weil dafür in früheren Leben Ursachen gelegt wurden, so erfährt er dafür in der Glückseligkeit von Devachan eine Art Wiedergutmachung. Das reinkarnierende Ego jedoch, der wahre Akteur im Drama des Lebens, ist als eigentlicher Auslöser von Karma voll für alles verantwortlich. Wenn daher der persönliche Teil des Menschen im Augenblick des Todes mit dem reinkarnierenden, spirituellen Ego verschmilzt, begreift selbst das Persönliche in uns die vollkommene Gerechtigkeit von allem, was sich ereignete – unverdientes Leid, das ihm in diesem Leben widerfuhr, aber karmisch die Auswirkung von Handlungen des Egos in vergangenen Leben war.
Sie sehen, ein Teil von uns ist verantwortlich für alles, wofür der niedrigere, unschuldige Teil nicht verantwortlich ist. Nach dem Tode wird dem niederen Teil von uns in Devachan für alle unverdienten Leiden, Kümmernisse, Sorgen und Wunden, die ihm im Laufe seines Lebens zustießen, und die er durchmachte, eine Wiedergutmachung zuteil. Anders ausgedrückt, alles, was dieser niedere Teil von uns in jenem Leben unwillentlich verursachte, passierte, weil das reinkarnierende Ego voll verantwortlich ist, anders als sein Kind, der niedere Mensch.
Es ist nicht verwunderlich, daß die Meister uns darauf hinweisen, daß eines der großartigsten Dinge im menschliche Dasein die Entwicklung von Mitleid, Mitgefühl, von Erbarmen und Sympathie für die menschlichen Seelen ist. Wenn wir dies tun, entwickeln wir uns von unserer irdischen Seele aus immer höher. Zu unserm eigenen Nutzen führt uns unser spiritueller Teil zuweilen in Sorge, Leid und Kummer. Er wird selbst dafür verantwortlich. Seien Sie deshalb nicht so sehr dazu bereit, andere zu verurteilen. Sagen Sie nicht: „Ach, das ist sein Karma!“ Gerade das ist die Gelegenheit, eine helfende Hand auszustrecken. Wenn Barmherzigkeit not tut, wird Untätigkeit zu einer Tat der Todsünde, wie H. P. Blavatsky in ihrer noblen Art erklärt. Sie werden darüber Rechenschaft ablegen müssen. Diese Forderung bedeutet nicht, in einem wilden Gefühlsausbruch von Mitleid sich blindlings und ungestüm in irgendwelche Dinge zu verstricken. Gebrauchen Sie stets Ihren Verstand. Die Welt ist voll von Schwindlern, die ein schreckliches Karma für alle heraufbeschwören. Wenn man aber darum weiß, daß jemand unsere helfende Hand benötigt und diese verweigert, dann ist das ein verbrecherischer Akt. Wir werden für unsere Untätigkeit karmisch zu bezahlen haben. Erinnern Sie sich, was es für uns bedeutet, wenn wir in einer verzweifelten Lage den wärmenden Druck einer helfenden Hand verspüren. Welche Ermunterung fließt in unser Herz. Wir fühlen, daß wir nicht allein sind in der Welt, und daß wenigstens eine Person da ist, die uns einen gütigen Gedanken schenkt. Eine Berührung des Göttlichen heilt und stärkt die ganze Welt.
Ich komme wieder auf die Frage zurück, ob Theosophie lehrt, alles sei vorherbestimmt. Unsere Antwort lautet mit Entschiedenheit „Nein“. Andererseits lehren wir in der Tat, daß jeder Mensch sein eigenes Schicksal für sich webt. Er kann ihm nicht entrinnen, denn es ist die Frucht der Saaten, die er freiwillig und aus eigenem Willen aussäte. Wir vertreten, wie gesagt, die erhabene und großartige Lehre, daß jeder Mensch, wenigstens relativ und dem Grad seiner Evolution angepaßt, über einen freien Willen verfügt. Wir lehren ebenso, daß unser Schicksal unabwendbar ist. Es folgt uns stets auf den Fersen, und es spendet den guten Menschen reichen Segen. Beide sind unausweichlich, die Vergeltung ebenso wie die Belohnung für die Aussaat guter Taten.
Es ist erhebend, darüber nachzudenken, daß am Beginn des Manvantaras in der göttlichen Ideenbildung gleichsam ein Plan seiner gesamten Zukunft enthalten ist, der nichts vorbestimmt und der nichts verdammt, und daß der Stille Wächter in seiner unermeßlichen Weisheit alles zu überblicken vermag, was seine Kinder in diesem Manvantara aus sich heraus entfalten werden, ihr gesamtes, in der Vergangenheit gewobenes Schicksal. Und wie großartig ist außerdem die Verwirklichung des in der göttlichen Ideenbildung enthaltenen Planes der Götter, daß die Avatāras der Götter von Zeit zu Zeit zu uns kommen, um unsere Vision auf die Gesetze des Seins zu richten und uns Menschenpilgern dabei Führung, Trost und Hilfe spenden.
Was ist Wahrheit?
Wie können wir herausfinden, was Wahrheit ist, oder zum Beispiel unter verschiedenen Lehren, die von sich behaupten, die Wahrheit zu sein, erkennen, welche von ihnen die richtige oder beste ist? Was ist Wahrheit? Erinnern Sie sich an Pontius Pilatus, als er Jesus hörte und ihn fragte: „Was ist Wahrheit?“ Ich frage ebenso: „Was ist Wahrheit?“ Glauben Sie, daß irgend jemand von uns die ganze Wahrheit innerhalb der schmalen Grenzen seines Denkens kennt? Erkennen Sie nicht, wie absurd diese Frage ist? Alles, was wir über die Wahrheit wissen können, ist ein Halbwissen über die Gesetze des Universums, ein stets zunehmendes Wissen, eine sich steigernde Ausdehnung des Bewußtseins und Verstehens, ein Wachsen an Weisheit und innerer Kraft. Könnte jedoch irgend jemand die ganze Wahrheit innerhalb der schmalen Grenzen seines Denkens, seines Gehirns, umfassen, welch trostloser Ausblick für seine gesamte Zukunft würde vor ihm liegen. Er wäre am Ziel angelangt, hätte alles erreicht und alles verstanden! Er würde unermeßliche Wahrheit besitzen! All das ist glücklicherweise unmöglich.
Die Wahrheit ist relativ, denn was die Menschen Wahrheit nennen, ist gerade so viel, wie jeder einzelne von den Gesetzen des uns umgebenden Universums verstehen, begreifen, aufnehmen und verarbeiten kann. Ich denke dabei weit mehr an das spirituelle Universum als an das grobstofflich-physische, von dem wir unsere Körper haben. Ich wiederhole: Wahrheit ist relativ, was einfach bedeutet, daß das, was für den einen wahr ist, für den anderen falsch sein kann. Der Dritte kann vielleicht erkennen, wo die ersten beiden fehlgehen, und eine Vision einer noch höheren Wahrheit haben. Und wieder ein anderer Mensch mit großer Hellsicht und noch durchdringenderer intellektueller Kraft vermag noch mehr zu erkennen und zu fühlen.
Seien Sie daher anderen gegenüber hochherzig. Lernen Sie, echte Überzeugungen zu respektieren, wenn diese wirkliche Überzeugungen sind. Und lernen Sie, den geringen Wert bloßer Meinungen zu erkennen, die so unbeständig und ungewiß wie das Mondlicht sind.
Wahrheit an sich ist unendliche Weisheit, und welcher Mensch besitzt sie? Selbst die Götter besitzen nur Teile davon, jedoch sind diese unermeßlich größer als unsere. Sie sehen, wie wertlos eine solche Frage letztlich ist; und wie schmerzlich es ist, daß solche Fragen unter den Menschen viel Unruhe ausgelöst haben, nicht nur in religiöser Hinsicht, sondern in allen Lebensbereichen der Menschen. Statt anderen Menschen gegenüber Güte und Sympathie aufzubringen und uns zu bemühen, den Standpunkt unseres Bruders zu verstehen, geraten wir fortwährend wegen unserer Meinungen aneinander und verwickeln uns in verbale Auseinandersetzungen; das macht uns zuerst unglücklich und bringt uns schlimmstenfalls in eine verzweifelte Lage. Das ist alles sehr töricht und tatsächlich kindisch, weil es unnötig ist. Die alte einfache Regel der Bruderschaft und Güte löst alle diese Probleme. Erinnern Sie sich daran, daß Ihr eigenes Wachstum an Weisheit stetig vorangeht und Ihr eigenes Wachstum an Verständnis beständig ist. Lernen Sie deshalb, anderen gegenüber nachsichtig zu sein.
Auf der anderen Seite enthalten natürlich einige Lehren mehr an Weisheit als andere. Das ist einleuchtend, denn es gibt Menschen, die in ihrer Entwicklung anderen voraus sind, die weiser und weitsichtiger sind oder einen schärferen Verstand haben. Lernen Sie deshalb, gütig zu sein, seien Sie jedoch stets bereit, eine neue Wahrheit anzunehmen und einem Lehrer zu folgen, den Sie im Besitz dieser Wahrheit wähnen, solchermaßen anerkennend, daß andere durchaus ein wenig mehr wissen können, als Sie selbst. Um einem anderen nachfolgen zu können, braucht es Größe. Ich meine damit nicht blinde, sklavische Hingabe oder unterwürfigen Gehorsam. Ich verabscheue beides. Ich meine vielmehr die ehrliche Überzeugung im Herzen, daß es irgendwo in der Welt jemanden gibt, der mehr weiß als Sie. Eine solche Überzeugung adelt den Menschen und umgibt ihn mit außerordentlicher Würde!
Die Wahrheit wohnt im Inneren, in Ihnen und in mir. In jedem Menschen gibt es eine verborgene Quelle der Wahrheit und stetiger Weisheit, aus der er trinken kann; und diese verborgene Quelle ist sein eigenes innerstes Wesen, seine Verbindung mit dem Göttlichen, die das Herz unseres Universums ist. Denn genau dieses Herz ist auch sein Herz, da wir von gleicher Substanz sind; wir sind Kinder seines Lebens und die Geschöpfe seiner Gedanken. Alle physischen Atome meines Körpers sind darin lediglich Gäste, ich bin nur Gastgeber. Sie kommen zu mir aus den fernsten Bezirken der Milchstraße, bleiben eine Zeitlang in meinem Körper, formen ihn und setzen ihre Wanderung fort. Sie kommen vertrauensvoll zu mir und ich erniedrige sie vielleicht, oder möglicherweise läutere ich sie zufällig. Wie dem auch sei: eines Tages, im Verlauf unzähliger Zeitalter, in denen sich das Lebensrad rastlos weiterdreht, werden dieselben Atome wieder zu mir zurückkehren, wieder und wieder, bis in alle Ewigkeit.
Die großen Räder werden durch die Gnade Gottes bewegt,
die kleinen jedoch ebenso!
Dieses alte Neger-Spiritual ist Ihnen bekannt – eine wundervolle Wahrheit in der Tat!
Wahrheit ist also nur das, was das spirituelle Wesen in Ihnen erfahren kann aus Ihrem Studium, aus Ihren Intuitionen, Ihrem Leben mit Ihren Mitmenschen und vor allem aus Ihrer inneren Inspiration. Enthält die Wissenschaft Wahrheit? Ist Wahrheit in den Kirchen zu finden? Die Antwort ist offenkundig, nicht wahr? Existiert Wahrheit in den Vortragssälen für Philosophie an unseren Universitäten? Genausowenig. In der Kirche, im Vortragssaal und im wissenschaftlichen Laboratorium ist nur so viel, wie einzelne Menschen dorthin bringen; und diese Individuen wissen nur so viel, wie sie in sich selbst entwickelt haben.
Sie sehen, wie nutzlos diese Frage zwischen den verschiedenen Sekten und Gesellschaften ist. Wo kann Wahrheit gefunden werden, und wie können wir sie als solche erkennen, wenn wir sie finden? Hier ist der Prüfstein: im Inneren. Denn die Wahrheit befindet sich im Herzen, im Kern Ihres Wesens, dem göttlichen Zentrum, das mit dem göttlichen Zentrum des Universums identisch ist, weil wir seine Kinder sind, aus seiner Essenz; und genau in dem Maße, in dem ein Mensch den in seinem Inneren brennenden, göttlichen Funken erkennt und dazu wird, wächst seine Erkenntnis der Wahrheit. Je mehr er in Einklang mit den Schwingungen dieser spirituellen Sonne in sich selbst vibrieren kann, mit diesem Funken, der das Licht der Gottheit der Galaxis ist, desto mehr erkennt er die Wahrheit.
Doch seien Sie im alltäglichen Umgang jenen gegenüber freundlich, die anderer Meinung sind, weil Sie erkennen, daß Ihr eigenes Verständnis auch begrenzt ist. Üben Sie keinen Sarkasmus aus, er ist ein sicheres Zeichen von Engstirnigkeit. Seine Sie ironisch, wenn Sie wollen, aber gebrauchen Sie keinen unfreundlichen Sarkasmus. Wer seine Zuflucht im Sarkasmus sucht, macht deutlich, daß ihm nichts Gescheites mehr einfällt. Seien Sie zu anderen gütig, respektieren Sie die Überzeugung der anderen. Suchen Sie unablässig im eigenen Inneren nach jener Weisheitsquelle, in deren Allerinnerstem, wie wir in der Tat sagen können, die Wahrheit in Fülle wohnt.
Wir haben keine Dogmen
Wir haben weder in der Theosophischen Gesellschaft noch in unserer Arbeit irgendwelche Dogmen oder Glaubensbekenntnisse. So finden sich unter uns sowohl Hindu-Theosophen, buddhistische, christliche, mohammedanische und jüdische Theosophen als auch Theosophen, die keinem Glauben angehören, außer der Theosophie als der Religion der Religionen. Es ist daher unsere heilige Pflicht, in unseren Herzen den Geist brüderlicher Liebe allen gegenüber zu pflegen, wie sehr sie sich auch in ihrer philosophischen, religiösen oder wissenschaftlichen Überzeugung von uns unterscheiden mögen. Während wir also in der Wahl unserer Religion oder Philosophie als Mitglieder völlig frei sind, bekennen wir uns alle zu der grundlegenden Voraussetzung für einen Theosophen, die in dem Glauben an die universale Bruderschaft und der Bindung an die erhabene Ethik besteht, welche die Theosophie lehrt.
Fußnoten
1. Plan in dem Sinne, daß der Große Atem, der das Universum aufbauen wird, beim aktiven Aufbau der Struktur und der Gliederung des Universums von den Ideen des Urbildes der kosmischen Ideenbildung geleitet und kontrolliert wird. Diese göttliche oder kosmische Ideenbildung enthält im Sinne eines ewigen JETZT, philosophisch gesprochen, gleichzeitig die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft in sich. In der göttlichen Ideenbildung ist daher sowohl das zukünftige Geschick als auch die Vergangenheit gegenwärtig. Beide entfalten sich am Beginn eines Manvantaras in Übereinstimmung mit Karma und mittels der Tätigkeit der Lipikas, die gezwungen sind, in ihrer Arbeit den Ideen der kosmischen Ideenbildung zu folgen. Wie gesagt enthält letztere alles, was zukünftig passieren wird, alles, was sich im Universum je ereignen wird, vom Schwirren eines Moskitoflügels bis zum Eintritt des Sonnensystems in sein Pralaya. Unser Schicksal ist somit nicht allein in den Sternen aufgezeichnet. Es wurzelt ebenso im kosmischen Gemüt, das Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges umfaßt. Trotzdem besitzt jede Monade, weil sie ein Abkömmling und ein essentieller Teil dieses kosmischen Gemütes ist, ihren eigenen, ihrer Entwicklung gemäßen Anteil an freiem Willen und benutzt ihn. Benutzt sie ihn falsch, dann trifft sie sofort die Vergeltung Karmas. Gebraucht sie ihn jedoch in einer Art und Weise, daß er auf Zusammenarbeit hinzielt, dann erfreut sie sich der daraus resultierenden Segnungen. „Hilf der Natur und arbeite mit ihr zusammen. Dann wird die Natur dich als einen ihrer Schöpfer betrachten und dir gehorsam sein“ (Die Stimme der Stille).
So ist also jede Monade allein ihrem eigenen Schicksal unterworfen und keinesfalls einem blinden Fatum, denn innerlich hat sie an dem göttlichen Willen und an der göttlichen Intelligenz Anteil und besitzt die Freiheit, davon beliebig Gebrauch zu machen. [back]