Junge Menschen und Theosophie

Meiner Erfahrung nach wird die Jugend schneller von Theosophie gefesselt als wir älteren Menschen, mit unserem verdorbenen Denken, oftmals erfüllt von großer Spitzfindigkeit, falscher Bildung und schlechten Gedanken. Diese innere Verdunkelung unseres Denkapparates verhindert, daß das Licht hereindringt. Wir sind erfüllt von den Nebelschleiern falschen Fühlens und falschen Denkens aus vergangenen Jahrhunderten, vergangenen Lebenszeiten; während unsere Körper vollkommener werden, befällt uns diese Blasiertheit; wir haben eine bestimmte innere Wolke von Bewußtsein aufgebaut, eine Psychologie, für die wir unglücklicherweise büßen müssen.

In meiner Arbeit mit den jungen Leuten in der T. G. hatte ich häufig den Eindruck, daß sie viel schneller als Ältere fähig waren, göttliche Wahrheiten zu erkennen. Wenn man erfolglos darin ist, die Jugend für Theosophie zu interessieren, liegt das sehr oft daran, daß man dafür einen falschen Weg wählte. Das trifft natürlich auch für alle Bereiche der Arbeit mit älteren Menschen zu. Wer von den Menschen verstanden werden will, muß mit ihnen in einer Sprache reden, die sie verstehen können. Vor allem müssen Sie sich an ihr Herz und an ihren Verstand wenden. Hier müssen Sie den Hebel ansetzen. Gesetzt den Fall, Sie haben mit jemandem zu tun, der sich besonders für Astronomie interessiert und Sie versuchen beständig, ihn davon zu überzeugen, daß das Studium von Folklore für ihn noch wichtiger wäre. Dann werden Sie schnell herausfinden, daß er außerstande ist, irgendeinen Zusammenhang zwischen diesen unterschiedlichen Interessensgebieten zu erkennen. Vielleicht gelingt es ihm sogar mit der Zeit. Aber um einen Freund und Bruder dafür zu gewinnen, sich in der gleichen Gedankenrichtung zu bewegen, muß man alles daran setzen, sich mit ihm in seiner eigenen Sprache zu verständigen. Ebenso muß man bei Kindern verfahren. Deren Denken funktioniert vollkommen natürlich, spontan, unkompliziert und arglos. Meistens haben sie für die großen Dinge des Lebens mehr Intuition als wir Erwachsenen. Wir sind diesen Dingen gegenüber fast blind und neigen zu vielen Trugschlüssen.

Wirklich groß ist der Mensch, dem es Zeit seines Lebens gelingt, sich nicht in den mentalen Gifthauch von Gedanken hineinziehen zu lassen, den der Zeitgeist für die jeweilige Generation darstellt; die bedrückende astral-physische und nur scheinbar geistvolle Atmosphäre, die sich aus falschen, verworrenen und ungenauen Gedankengängen zusammensetzt und die für die Wahrheit angenommen wird. Da ist es wirklich kein Wunder, daß sich Kinder und Jugendliche dagegen auflehnen. Mir ist es noch gut im Gedächtnis, wie ich mit meiner ganzen Seele rebellierte – nicht gegen die ältere Generation oder die Welt mit ihren wunderbaren Geheimnissen – wie ich mich auflehnte, als ich in die Schule geschickt wurde und fast dazu gezwungen wurde, Dinge zu lernen, die meine Seele haßte und die ich später als junger Mann dann wieder verworfen habe. Wenn es Probleme oder Schwierigkeiten dabei gibt, der jüngeren Generation ein Verständnis für Theosophie nahezubringen, dann liegt das daran, daß unser erster Schritt falsch ist. Vielleicht sprechen wir mit den jungen Leuten zu kompliziert.

Mir gefallen die jungen Leute, weil das menschliche Herz ewig jung bleibt. Es altert niemals. Unsere Verstandestätigkeit hingegen unterliegt einem Alterungsprozeß und kristallisiert mit der Zeit. Die Folge davon sind schwindendes Mitgefühl und die Unfähigkeit, den Hilferuf in den Augen der Kinder und Jugendlichen zu erkennen. Wir versuchen ihn zwar wahrzunehmen, sind dazu jedoch nicht fähig, weil wir auf falschen Denkgeleisen fahren und eine Atmosphäre verbreiten, die eine undurchdringliche Mauer zwischen ihnen und uns errichtet. Wenn ich mit jungen Menschen spreche, dann betrachte ich sie als ebenbürtige Gesprächspartner. Ich versuche, einem Jungen oder Mädchen gegenüber niemals so herablassend zu sprechen, als wäre ich ein besonders kluger Erwachsener. Weshalb ich das nicht tue? Weil sich mein Herz mit der Jugend verbunden fühlt, und weil es für sie schlägt. Jedes normale menschliche Herz empfindet das. Wir nähern uns der Wahrheit am besten, wenn es gelingt, uns von einer falschen Weltklugheit des Denkens frei zu machen. Sie verwirrt uns. Wir sollten zu jener Einfachheit des Denkens zurückfinden, die für das kindliche Herz charakteristisch ist.

„Lasset die kleinen Kinder zu mir kommen“, sagte der Avatāra Jesus. Sie sind lernfähig. Der Ausdruck „kleine Kinder“ bezieht sich nicht auf die Anzahl der Lebensjahre, die jemand erreicht hat. Wer das Herz eines kleinen Kindes hat, wer ohne Arg und offen nach allen Seiten ist, wer bereit ist, ohne Vorbehalt zu empfangen und seine Entscheidung zu treffen und wer völlig damit aufgehört hat, sich gedanklich kompliziert auszudrücken, der allein ist ein würdiger Gesprächspartner und geeignet, Verständnis zu entwickeln. Erweisen Sie der jüngeren Generation die gleiche Wertschätzung, die Sie auch Ihren Altersgefährten entgegenbringen. Wie schnell werden sie antworten! Zeichnen Sie die jungen Leute aus, indem Sie mit ihnen Dinge erörtern, die Ihnen am Herzen liegen! Sie werden dann stets Zuhörer finden.

Es kann mir niemand erzählen, die Jugend hätte kein Interesse an Dingen, die mit dem Universum, der Wissenschaft oder mit den wunderbaren Entdeckungen, die fast tagtäglich gemacht werden, zu tun haben. Sie interessiert sich außerordentlich für die Forschung und möchte bereitwillig alles verstehen. Es ist Sache der älteren Generation, sich von ihrem früheren Wissensstoff zu trennen. Ihr fällt es schwerer als der Jugend, neue Gedanken aufzugreifen und zu verarbeiten, weil ihr Denken auf vielen vorgefaßten Meinungen beruht.

Ich begegne der Jugend mit höflicher Wertschätzung und mit dem Verständnis, das ich Menschen in meinem Alter entgegenbringe. Ich wurde dabei niemals enttäuscht. Natürlich mangelt es ihnen an einer Gelehrsamkeit, die die Älteren haben; in mancher Hinsicht ist dies jedoch ein Segen, denn wir müssen uns von vielen liebgewordenen Gedankengängen befreien, wenn sie uns genügend Leid gebracht haben. Trotzdem befähigen uns von einer höheren Warte aus gesehen unsere Gedankengänge zu einer Stärkung des Selbst, damit wir hohe und ehrenwerte Ziele in der Welt erreichen können, zumindest in einem gewissen Grad, und damit wir bessere Dinge erreichen können und uns auch zutrauen, sie zu erreichen. Doch dies geschieht nur dann, wenn unsere Gedankengänge von dem hellen, klaren Licht der inneren spirituellen Sonne überstrahlt werden. Nicht die Gedankengänge an sich sind verkehrt. Falsch ist es jedoch, wenn unser Denken zu deren Sklave wird, denn sie sind nur unsere eigene Schöpfung und die der Welt um uns herum.

Wecken Sie das Interesse der jungen Leute, indem Sie ihnen Theosophie auf wissenschaftlicher Basis anbieten. Sie werden sehen, wie schnell sie diese innerlich verarbeiten und behalten. Sie können solche Gedanken einem Jugendlichen anbieten (es sei denn, er ist oberflächlich und liebt Wortklaubereien, die seinem Alter voraus sind), und werden einen Bruder und Freund in ihm finden: Erzählen Sie ihm, daß er selbst der Pfad zum Göttlichen ist, daß das Höchste Leben das Leben des Göttlichen ist, nie vollständig erreichbar, weil es unbegrenzt ist, und dennoch sich immer weiter ausdehnend und mit einem unaufhörlichen Zunehmen an Verständnis, Wachstum, Ausdehnung, bis hin zu etwas Wunderbarem in seinem Inneren. Geben Sie diesem Göttlichen keinen Namen. Das würde sein Denken einengen. Erwecken Sie nur die Intuition, den Gedanken: Etwas in uns, ein Teil von uns, ist ein Tropfen, ein Funke des Göttlichen. Deshalb ist er es selbst. Sagt uns die Wissenschaft nicht, daß selbst unser Körper aus den gleichen chemischen Elementen aufgebaut ist, die auch die Blumen, die Bretter des Fußbodens, die Luft, die wir atmen und sogar die Steine zusammensetzen, die unter unseren Füßen knirschen, wenn wir auf dem Heimweg sind? Selbst die Sterne bestehen aus den gleichen Elementen.

Wie oft sah ich in den Augen eines Jugendlichen das Aufleuchten des Verstehens, wenn ich mit ihm sprach. Oftmals flossen aus dem Denken eines jungen Menschen wunderbare Gedanken in mein eigenes Bewußtsein. Es waren spontane Intuitionen, die aufblitzten, bevor der Denkapparat Gelegenheit fand, zu kristallisieren, zu verhärten und falschen Vorstellungen zu folgen. Wir können zuweilen sogar etwas von kleinen Kindern lernen, wenn wir klug und offenherzig genug sind, zu empfangen und uns über unseren weltklugen Intellekt zu erheben.

Wenn man Fehler macht

Ich glaube nicht, daß es jemals falsch ist, einen Fehler aus einer ehrenhaften Gesinnung heraus zu machen. Es ist für einen Menschen unendlich besser, mit einem lauteren Motiv, mit dem Wunsch, das Richtige zu tun und gerecht und großherzig sein zu wollen, einen Fehler zu begehen – weil man nicht in der Lage ist, den richtigen Weg zu sehen, der eingeschlagen werden muß –, als sich davor zu fürchten, einen Fehler zu machen. Wenn innere Stärke fehlt, werden wir schnell blindlings Fehler machen. Ein schwacher Mensch wird kaum Erfolg haben. Es ist viel besser, einen Fehler zu machen, durch ihn zu lernen und die Konsequenzen mannhaft durchzustehen und danach ein wenig reifer zu sein.

Verbessern Sie Ihre Fähigkeiten, indem Sie diese üben. Lassen Sie sich nicht verdrießen, wenn Sie einen Fehler in einer ehrenhaften Gesinnung machen. Achten Sie nur darauf, daß Ihr Motiv richtig ist. Ist das der Fall, dann werden Ihre Fehler andere nicht kränken und Sie werden sie bald korrigieren. Sie werden durch sie nur stärker und gütiger. Lassen Sie Ihr Herz für die Fehler anderer voller Mitgefühl sein. Wünschen Sie das Richtige zu tun. Sie können dann nicht viel falsch machen. Immer, wenn Sie Ihre innere Urteilskraft üben, wird sie sicherer, zuverlässiger und klarer werden. Das Licht wird heller. Dann sind Sie ein Mensch, ein richtiger Mensch.

Die verlorene Sache des Materialismus

Die Theosophische Bewegung fand ihren Ursprung nicht aufgrund willkürlicher Beschlüsse der herrschenden Mächte, sondern infolge zyklischer Notwendigkeit. Folglich kam H. P. Blavatsky, als es notwendig war, die spirituellen Intuitionen in den Menschen lebendig zu erhalten und dadurch die Menschen davor zu bewahren, unter den Einfluß einer Welt zu geraten, die von brutaler Gewalt beherrscht wird, in der Macht als Recht gilt und in der die Beute des Stärksten die einzige Gerechtigkeit ist. Sie wußte, daß brutaler Machtwille die Menschheit beherrschen würde, wenn er nicht kontrolliert und aufgehalten wird durch jene angeborenen Regeln des Rechts, die in den Seelen der Menschen wohnen.

Wie entstand diese Situation in unserer Welt? Dafür gibt es zwei Gründe: eine Religion, die durch und durch materialistisch geworden war, und zwar so sehr, daß die Menschen nicht mehr daran glaubten, daß dieses Universum durch geistige Mächte regiert wird, die die Herrschaft des Rechts durchsetzen. Daher glaubten die Menschen handeln zu können, wie es ihnen gerade gefiel, wenn sie nur einer kirchlichen Organisation mit den Lippen huldigten. Diese Vorstellung, die sich aus dem religiösen Aspekt des menschlichen Wissens, aus seiner Erziehung und seinen sozialen Kontakten herleitete, wurde durch einen gleichermaßen üblen Einfluß, der von den Reihen moderner Wissenschaftler ausging, noch mehr als verstärkt. Letztere Kraft hatte einen unvergleichlich größeren Einfluß auf das Denken der Menschen als die Diktate der Kirche und ihrer Hierarchie. Warum? Weil die Menschen anfingen zu glauben, daß die vortreffliche Erforschung der Natur, wie sie von der Wissenschaft unternommen wurde, uns Wahrheit brächte. Dieser menschliche Glaube war auch gerechtfertigt, denn es ist die eigentliche Aufgabe der Wissenschaftler, die Tatsachen zu erforschen und in einer leicht zu verstehenden philosophischen Form zusammenzufassen. Sehr viele Wissenschaftler arbeiten mit größter Ernsthaftigkeit, mit Energie und höchster Ausdauer für dieses edle Ziel. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn Menschen, die selbst beinahe jeden Glauben an ein spirituell kontrolliertes Universum verloren haben, anfangen, Theorien zu bilden und theoretisch-spekulative Gesetze aufstellen über den Ursprung des Universums und den Ursprung des Menschen, über die Wirkungsweise des Universums und den Fortbestand der Menschheit darin und über die Zukunft des Universums und die Zukunft des Menschen in ihm. Das waren keine wissenschaftlichen Fakten, die durch Forschung entdeckt wurden. Das waren lediglich Theorien, nur Spekulationen und Hypothesen, die der Vorstellung von Menschen entstammten, die den Glauben an eine geistige Führung des Universums verloren hatten. Natürlich waren es ernsthafte Bemühungen, aber sie beruhten nicht auf spirituellem Glauben, und daher konnten diese Wissenschaftler die Tatsachen, die sie in der Natur entdeckt hatten, nicht zu einem umfassenden Ganzen, zu einem philosophischen Ganzen, zusammenfassen.

Betrachten Sie die Anfänge des totalen Materialismus, die um die Zeit Voltaires und anderer entstanden. Ich nehme Voltaire als ein Beispiel, nicht weil er diese Zeit hervorgebracht hat, sondern weil er eines ihrer frühesten Produkte war, und eines ihrer edelsten. Er war ein Kämpfer gegen Dogmatismus jeglicher Art. Dafür gebührt ihm noch mehr Ruhm! Aber auch sein Werk zerstörte den Glauben an ein spirituelles Universum.

Wie sahen nun diese wissenschaftlichen Theorien einerseits und die religiösen Theorien andererseits aus? Daß dieses Universum sich selbst entwickle, daß es keine geistige Kraft in ihm gäbe, die es kontrolliert oder führt, und daß die Dinge zufällig und nicht gesetzmäßig geschähen. Aber die Wissenschaftler sprachen mit gespaltener Zunge; auf der anderen Seite behaupteten sie nämlich leidenschaftlich: das Universum sei durch die Naturgesetze verursacht. Auf der einen Seite predigten sie Willkür und Zufall, auf der anderen die Gesetze. Es scheint ihnen nie aufgefallen zu sein, daß diese beiden Predigten sich gegenseitig aufheben.

Was waren also die Faktoren, die nach Darwins Behauptungen die Evolution bestimmten, oder was waren die Bedingungen, unter denen die Evolution stattfand, oder wiederum, was verursachte die Evolution? Es war ein Kampf – es war ein Kampf, in dem der Tauglichste überlebte, nicht der Beste, nicht der Edelste, sondern der Stärkste. Das wurde für ein Naturgesetz gehalten. Kein einziges Wort, kein einziger Hinweis steht bei Darwin, Lamarck, bei Haeckel, Huxley oder einem dieser sogenannten großen Männer des vergangenen Jahrhunderts, daß diese Welt durch ein innewohnendes moralisches Gesetz regiert würde, kein einziger Hinweis. Es war eine Herrschaft brutaler Gewalt, in der der Stärkste überlebte, ein Kampf, in dem der Tauglichste überlebte, und der Tauglichste war der brutal Stärkste, nicht der Beste. Daher: Ein Mensch und ein Hai im Meer – welcher ist zum Überleben geeigneter, wenn sich zwischen ihnen ein Konflikt ergeben sollte? Der Hai wird überleben, da er in seinem Element ist. Er ist der Tauglichere in diesem Element, und er wird den Menschen töten. Dennoch ist der Mensch das edlere Geschöpf, das bessere, das weiter entwickelte.

Das ist Darwinismus: zufällige Handlung der Natur in einem verzweifelten Kampf ums Überleben, in dem die Schwachen gefressen oder an die Wand gedrückt werden, und in dem nur brutale Kraft Ursache des Sieges ist. Diese Vorstellungen sind für das Seelenleben der Menschheit zerstörend, ganz gleich, ob sie von der Theologie oder von der Wissenschaft stammen. Erfassen Sie diese Tatsachen ganz klar und prüfen Sie die logischen Fehlschlüsse in unseren wissenschaftlichen Werken, die Fehlschlüsse in der Beweisführung unserer Wissenschaftler.

In eine solche Welt, die von dem Glauben geleitet war, daß Brutalität der einzige gangbare Weg der Natur sei, kam durch H. P. Blavatsky die Gottesweisheit, und ihre erste Arbeit war es, wie sie erklärte, die spirituellen Intuitionen im Menschen lebendig zu erhalten, damit er sich gegen die sogenannte oder falsch benannte „Regel“ wende, gegen diesen „Zufall“ in der Natur, gegen diese Regel brutaler Gewalt. Betrachten Sie die Handlungen der Völker der Erde während der letzten hundert Jahre – nein, der letzten drei- oder vierhundert Jahre. Sehen Sie sich die heutige Welt an. Das Ergebnis des Seelenverlustes, der Unterdrückung der spirituellen Instinkte des Menschen. Theosophen haben machtvoll gegen diese Lehre reagiert, ob sie nun von der theologischen oder wissenschaftlichen Seite kam. Wir haben die Schmähungen und den Spott einer Zeit auf uns genommen, in der es üblich war, daß bereits die Erwähnung der Seele gesellschaftliche Ächtung bedeutete.

Betrachten Sie, was H. P. Blavatsky tat. Fast allein und ohne Unterstützung forderte sie das Gedankenleben der Welt heraus und brachte durch ihren Mut und ihre Lehren die Gründung der Theosophischen Gesellschaft zuwege, indem sie jedermann laut verkündete, daß die Welt durch moralisches Gesetz geleitet würde, und daß derjenige, der dieses Gesetz verletzt, sei es unter der heuchlerischen Maske der Tugend oder offen und verzweifelt wie ein Verbrecher – daß der, der das Gesetz verletzt, bezahlen muß. Heute glaubt die Welt nicht mehr daran. Sie glaubt, der einzige Weg, eine ihrer Ansicht nach verbrecherische Schuld zu begleichen, bestünde darin, noch mehr brutale Gewalt anzuwenden als jeder andere. Die Menschen glauben nicht mehr an die Herrschaft spiritueller Gesetze. Sie glauben nicht mehr, daß unser Universum durch ein moralisches Gesetz geleitet wird. Sie nehmen das Gesetz in ihre eigenen Hände.

Ist das die Wahrheit? Ist das Religion? Ist das Philosophie? Ist das Wissenschaft? Das ist nicht Religion. Das ist nicht Philosophie. Das ist nicht Wissenschaft. Alle drei verkünden in ihrer Essenz die Herrschaft des Gesetzes in der Natur; daß dieses Gesetz spirituell und daher moralisch ist; daß es eine Ursache gibt, und daß diese eine Wirkung hervorruft; und diesen können wir nicht entrinnen, wir können sie nicht vermeiden. Sie sollen, können und werden Ihre Schritte verfolgen, wie der Wagen dem Fuß des Ochsen folgt, der ihn zieht – eine großartige, alte buddhistische Feststellung im Dhammapada, das zu einer Zeit geschrieben wurde, in der die Menschen glaubten, daß das Universum durch spirituelle und moralische Gesetze geleitet wird.

Tun wir etwas Böses, so wird uns so sicher, wie der Wagen dem Fuß des Ochsen folgt, der ihn zieht, diese böse Tat verfolgen und in diesem oder einem künftigen Leben einholen. Das ist Religion, das ist Philosophie, das ist Wissenschaft; ganz besonders Wissenschaft, die ja ihre Lehre von Ursache und Wirkung hat, ihre Lehre, daß die Wirkung der Ursache folgt und ihrer ursprünglichen Ursache entspricht. Die Welt glaubt nicht mehr an diese Dinge. Die Menschen glauben nicht mehr daran. Nur jene feinen Geister, deren Intuition heller brennt als bei der Mehrzahl unserer Mitmenschen, glauben nicht an diese jetzt verblassenden materialistischen Lehren, die in der Religion, in der Philosophie und in der Wissenschaft verlöschen, deren bösartige Folgen uns jedoch peinigen, so wie das atlantische Karma selbst heute noch schwer auf uns lastet.

Daher ist es wichtig, in der Wissenschaft unserer Zeit all jene Elemente zu unterstützen, die den Glauben an eine geistige Führung in der Welt hochhalten. Es ist wichtig für uns, in der Philosophie jene Elemente, jene philosophischen Elemente zu unterstützen, die lehren, daß das Universum durch ein innewohnendes moralisches Gesetz kontrolliert wird. Es ist wichtig für uns, mit höchster Sympathie und tiefstem Verständnis jene Elemente in der Religion zu unterstützen, die den Materialismus der letzten circa 1800 Jahre ablehnen und lehren, daß die Göttlichkeit alle Gefäße füllt, ob es würdige oder unwürdige Gefäße sind, denn für die Göttlichkeit ist weder das eine noch das andere unwürdig. Jene Göttlichkeit ist der universale Geist, aus dessen Schoß alle Wesen und Dinge kommen und an dessen himmlischen Zufluchtsort im Laufe der zyklischen Zeitalter alle Dinge und Wesen eines Tages wieder zurückkehren werden.

Folgendes ist für uns heute das Wichtigste: unser Äußerstes zu tun, um im Bewußtsein der Menschen eine Erneuerung und eine Wiedergeburt der Wahrheit zustandezubringen, daß unser Universum unter dem strengsten kosmischen Moralgesetz steht; mit anderen Worten, unter dem Gesetz der Harmonie, denn was im Universum Harmonie ist, nennen wir in der menschlichen Seele den ethischen Instinkt. Denken Sie daran, daß der Mensch, der aufrichtig davon überzeugt ist, daß seine Gedanken und Gefühle sich in Handlungen äußern, und daß er für diese Handlungen verantwortlich ist, nachdenken und lange eindringlich überlegen wird, bevor er handelt. Das ist es. Nur dieses einfache Gesetz, ein Glaube von uns Menschen, daß dieses Universum kein Zufallsprodukt ist; daß es von moralischer Kraft erfüllt ist, daß diese moralische Kraft in der menschlichen Seele uns bei unserem täglichen Verhalten leiten sollte. Wenn die Menschen nur dieser einfachen Regel folgen würden, wäre unser Leben hier auf der Erde ein Himmel im Vergleich zu dem, was es jetzt ist. Allzulange ist der denkende Mensch der māyāvischen Täuschung erlegen, er könne die Naturgesetze in seine eigenen Hände nehmen und in seiner kraftlose Art und mit seinem schwachen und unzuverlässigen Intellekt versuchen, kosmisches Recht zu sprechen.

Wie die Götter über uns lachen müssen! Und wenn sie weinen, wie manche sagen, wie müssen ihre himmlischen Augen manchmal mit Tränen göttlichen Mitleids für den Menschen erfüllt sein!

Die jungfräuliche Geburt

Das Weihnachtsfest und die Lehren, die seit frühchristlicher Zeit damit zusammenhängen, sind keineswegs christlichen Ursprungs. Sie wurden durchaus nicht von christlichen Theologen oder Gläubigen erfunden, vielmehr beruhten sie alle auf gebräuchlichen heidnischen Vorstellungen vom Allerheiligsten. Das war in der christlichen Geschichte durchaus nicht selten, es kam sehr häufig vor. Gerade von den damaligen Philosophien und Religionen, die später beschimpft und abgelehnt wurden, übernahmen die Christen die Mehrzahl jener Ideen, die später als christliche Theologie bekannt wurden.

Die ersten Christen wuchsen in der heidnischen Welt auf, in der es eine anerkannte Tatsache war, daß eine exoterische Religion oder eine Reihe solcher Religionen existiert und eine geheime Lehre, die nur jenen vorbehalten war, die sich als geeignet und würdig erwiesen, die Lehren der Mysterienschulen zu empfangen, die Geheimnisse des Göttlichen. Alle exoterischen Religionen bargen etwas Wundervolles in sich, etwas höchst Erhabenes, das in den Heiligtümern gelehrt wurde. Diese Tatsache müssen wir klar sehen, sie ist historisch. Frühchristliche Geschichtswissenschaftler haben diese Idee immer übersehen, vergessen oder übergangen, ohne auch nur auf sie hinzuweisen, obwohl sie gerade die Atmosphäre kennzeichnet, in der das Christentum entstand. Wenn wir diesen Schlüssel erfassen und im Gedächtnis behalten, dann besitzen wir etwas, mit dem wir Dinge entschlüsseln können, die selbst für christliche Theologen nicht nur schwer zu verstehen, sondern auch schwer erklärbar sind.

Die „jungfräuliche Geburt“ hat ihren Ursprung nicht im Christentum. Der Begriff ist seit undenklicher Zeit überall in der Welt Allgemeingut. Viele Völker lehrten in archaischer Zeit von Jungfrauen, die große Weise und Seher gebaren. Sie können die Geschichte Jesu, des Avatāra, genauso in anderen Sprachen und anderen Varianten lesen, die aber alle essentiell die gleiche fundamentale Wahrheit enthalten: wie ein großer Mensch durch eine neue Geburt menschliche Göttlichkeit erlangt. Diese Idee war so allgemein bekannt, daß sie sogar in der volkstümlichen exoterischen Sprache auf den Straßen und Märkten geläufig war.

Die Hindus sprachen von einem Dvija, einem „Zweimalgeborenen“. Die Idee ist, daß er wie alle Menschensöhne physisch zur Welt kam, von einer Mutter geboren wurde, daß er aber, wenn er nach der Schulung bereit ist, die innere Geburt und die innere Erleuchtung empfängt. Dies ist die zweite Geburt des Menschen, eine Neugeburt in das Licht des Geistes. Man sieht, wie erhaben diese Sache ist, sobald wir sie theosophisch beleuchten. Sie bleibt nicht länger eine christliche Angelegenheit, sondern sie wird universal. Erkennen Sie, wie das menschliche Herz und der menschliche Geist davon angesprochen werden! Wie hell scheint das Licht der Wahrheit auf das Gesicht des Menschen, dessen Herz erleuchtet ist von dem Gefühl seines Einsseins mit allem; und welches Leiden spiegelt sich darin, wenn ihn das Gefühl des Sonderseins aus seiner Einheit mit anderen Menschen hinwegträgt.

Was besagte diese Lehre im frühen Christentum? Das gleiche, was sie in allen anderen, großen heidnischen Ländern besagte. Sie stellte Szenen dar, die sich im Heiligtum abspielten, wo der Neophyth oder Schüler nach langer Schulung sein inneres Wesen, seine innere Wahrnehmung so entwickelt hatte, daß er an der Schwelle stand, Christos zu werden, ein Christus oder, wie der Mahāyāna-Buddhismus sagt, ein Bodhisattva. Der nächste Schritt wäre die Buddhaschaft. Selbst in exoterischen Schriften wurde diese wunderbare Wahrheit aus dem Heiligtum als jungfräuliche Geburt bezeichnet, als zweite Geburt; und alle Erlöser der Menschheit, gleich in welchem Land oder welcher Gegend oder in welcher Zeit, all diese Großen, die Weisen und Seher, die Buddhas und Bodhisattvas höchsten Ranges, die Größten, alle waren von der Mutter geboren, von dem inneren Heiligen Geist. Wie wunderbar, wie wahr! Es spricht uns sofort an und stimmt selbst mit dem wenigen exakt überein, was die moderne wissenschaftliche Forschung uns durch ihre sogenannte Psychologie berichtet. Wir alle anerkennen es, wenn das Leben eines Menschen durch eigenes Bemühen und Streben danach, größer zu werden, verbessert und erhabener wird. Es ist der erste schwache Schein im mystischen Osten, sozusagen der Beginn der heiligen Geburtswehen, wodurch ein Mensch zu einem Übermenschen wird. Mit der Zeit wird er ein inkarnierter Gott, der innere Gott, und danach manifestiert er sich durch das Christuskind, und der Mensch aus Fleisch wird empfänglich für die innere Flamme, für das innere Licht, für das innere Feuer. Sehen Sie nicht, welche Würde uns Menschen das verleiht? Welche Zukunftshoffnung für jene, die wagen, die streben, die stillschweigen!

Es gibt etwas sehr Bedeutsames in den frühchristlichen Schriften. Wenn Maria Jungfrau war, wie hätte sie dann Kinder gebären können? In der frühchristlichen Literatur kommt in den griechischen christlichen Schriften eine bemerkenswerte Stelle vor, die ins Deutsche übersetzt besagt: „Meine Mutter, der Heilige Geist (denn der Heilige Geist war bei den ersten Christen immer weiblich, nie männlich wie späterhin) meine Mutter, der Heilige Geist, nahm mich an meinem Haarschopf und brachte mich zum heiligen Berg Athor.“ Begreifen Sie? Hier ist der Geist in mir, der Heilige Geist, meine Mutter, von der ich geboren wurde, neu geboren, nicht länger vom Fleisch geboren, sondern vom Geist geboren: zuerst aus dem Wasser geboren, dem Fleisch entsprechend; dann aus dem Feuer geboren, dem Geist entsprechend: die erste Geburt und die zweite Geburt. Dies ist in Wirklichkeit die jungfräuliche Geburt; denn der Geist des Menschen, ein Strahl aus dem Göttlichen, aus dem Unaussprechlichen, ist ewig jungfräulich und doch ewig fruchtbar, ewig erzeugend. Der kosmische Christus wird geboren aus dem kosmischen Geist, der in alten Zeiten ebenfalls weiblich war, und in gleicher Weise ist der spirituelle Mensch weiblich, und in der heiligen Handlung gebiert er den Bodhisattva, das Christuskind, und von da an ist der Mensch erfüllt von der Heiligkeit des Geistes, der ihn aus der göttlichen Quelle durchströmt.

Welchen Zusammenhang hat dies mit der Sonne? Seit undenkbarer Zeit wurde Vater Sonne verehrt: nicht unbedingt der physische Globus, der in Schönheit und Licht und Glanz und vitaler Energie erstrahlt, der Lichtspender für sein eigenes Reich ist, sondern die Gottheit, die, wie bei allen anderen Sternen, im Innern und über und hinter jeder Sonne steht. Unsere Sonne war ein Sinnbild für den kosmischen Geist, denn durch diese Sonne ergießen sich diese Fluten vitalen Glanzes und Lebens und Lichts: Licht für den Geist und Liebe für das Herz, ohne die kein Mensch ein Mensch ist.

Selbst die Christen pflegten Hymnen an die Sonne zu singen, worüber es noch Aufzeichnungen gibt; neben anderen Hinweisen in einer Mitteilung von Plinius, dem Statthalter von Bithynien und Pontus, an den Kaiser Trajan in Rom. Er sagte, daß in seinem Amtsbezirk die Christen unschuldige und harmlose Leute zu sein scheinen, denn sie würden sich jeden Morgen bei Sonnenaufgang versammeln und Hymnen an diese Gottheit singen. Und in einer Sammlung altchristlicher Gesänge befindet sich immer noch eine jener Hymnen an die Sonne, die ich oft zitiert habe. Sie kann wie folgt übersetzt werden:

„Oh Du wahre Sonne,
Scheine für immer, leuchte mit ewigem Licht.
Erscheinungsform des Heiligen Geistes
[nicht nur eine Schöpfung des Heiligen Geistes, sondern seine Erscheinungsform],
Erfülle uns ganz.“

Kein Parse oder sogenannter Sonnenanbeter schuf eine typischere Hymne an die Sonne als diese frühen Christen. Die Frühchristen wußten, was sie meinten. Sie beteten nicht die physische Sonne an, es war das göttliche Licht. Sie lehrten, wofür die Sonne stand. Die Sonne war das Sinnbild, die Erscheinungsform des kosmischen Christus, keine Schöpfung Gottes, sondern die Verkörperung des Göttlichen. Oh, Du wahre Sonne – und es war unter den Christen gang und gäbe, ihren Retter Jesus, den Avatāra, mit der Sonne zu vergleichen.

Ich wünschte, daß ich die Zeit hätte und Ihnen mehr von den tiefgründigen Mysterien dieser Lehre erzählen könnte, aber ich will nur noch folgendes hinzufügen: daß sich in der Konstitution des Menschen ein solares Element befindet. Könnte es anders sein? Es gibt dort ein lunares Element und je ein Element von jedem der anderen Planeten. Selbst die Wissenschaft sagt uns, daß wir nicht nur am kosmischen Licht teilhaben, das uns von Vater Sonne erreicht, sondern daß selbst die Wärme, die wir aus der Kohle gewinnen, die wir verheizen, und aus dem Holz, das wir verbrennen, ursprünglich aus der Sonne kam; daß die Atome, die sie zusammensetzen, die gleichen sind, die durch uns wandern; daß der Sonnenkörper nicht nur die Erde erreicht, sondern alle anderen Planeten. Natürlich ist ein solares Element in uns und ein lunares Element und ein Element von jedem Planeten. Sonst wären wir unvollständig. Der Mensch hat alles in sich, was das Universum hat!

Selbst wenn ein Mensch alles Wissen hätte, aber keine Liebe in seinem Herzen, würde es ihm nichts nützen. Es würde einfach zeigen, daß dieser Mensch unvollständig ist, unentwickelt, weil er ja, da er ein Teil des Universums ist, nicht all das aufweist oder manifestiert, was im Universum ist, alles, was das Ganze hat. Ich könnte die ganze Wahrheit der Welt besitzen, aber ich könnte sie nicht richtig verstehen. Ich könnte daraus Schlüsse ziehen und darüber nachdenken, aber ich würde nicht den Zusammenhang mit der Wirklichkeit finden, weil das Herz in mir noch nicht wach ist. Der magische Schlüssel der Liebe glüht noch nicht in meiner Brust.

Stellen Sie einfach diese Frage: Sie kennen zwei Menschen. Der eine besitzt alles Wissen der Welt, aber er ist herzlos. Und der andere ist ein einfach denkender Mensch. Er ist nicht gelehrt, aber sein Herz ist groß, erfüllt von universaler Liebe und allumfassender Sympathie. Welchen von beiden würden Sie sich als Gefährten wählen, und an welchen könnten Sie sich in Zeiten der Not wenden?

Laßt das Christuskind leben

Theosophen sehen im Weihnachtsfest zwei Dinge: erstens, die Aufzeichnung einer erhabenen Tatsache in der okkulten Geschichte und dem Leben – eine erhabene Tatsache, die jeder Menschensohn eines Tages in seiner eigenen spirituellen Geschichte wiederholen wird, wenn er erfolgreich aufsteigt. Und das andere bedeutet mir noch mehr: in der Seele eines jeden von uns ist der ungeborene Christus, der Christos, der Fürst des Friedens und der Liebe. Wenn die zyklische Wiederkehr der Jahreszeiten die Tage der Weihnachtszeit näherbringt und die christliche Welt die angenommene Geburt des physischen Körpers ihres Meisters, ihres Oberhauptes, ihres Heilands feiert, dann können wir die Worte des Avatāra, des Christus, in ihrem höheren Sinne verstehen: daß wir Menschen die „Söhne Gottes“, des Göttlichen, sind und daß der Geist der Liebe und das Bewußtsein des Höchsten im Tempel jedes Menschenherzens wohnen – das heißt, daß in meinem Herzen und in Ihrem Herzen ein Christuskind ist. Gewisse Orientalen nennen ihn den Buddha, den Himmlischen Buddha in unserem Herzen. Die Idee stimmt überein, wenn auch nicht die Worte.

Wenn also die Weihnachtszeit naht, erkennen wir, daß es eine gute Zeit ist, das Christuskind in unserem Herzen sprechen zu lassen, zu versuchen es zu verstehen, ja noch mehr, eins mit ihm zu werden, so daß wir mit jedem neuen Weihnachten Christus mehr gleichen, Buddha ähnlicher werden, noch spirituellere, edlere Vorbilder des Christus, der in dem Herzen eines jeden von uns lebt, so daß eines Tages, zur richtigen okkulten Zeit, das Christuskind als Christusmensch geboren werden kann. Dann wird die heilende Sonne aufgegangen sein; sie wird Gesundheit und Ganzheit in ihren Schwingen bringen und unsere Sorgen und Nöte heilen, unseren Kummer tilgen und die Tränen des Grams in unseren Augen trocknen, weil wir als Individuen mit dem Geist des Universums eins geworden sind, von dem ein Strahl, ein leuchtender Strahl, im Herzen eines jeden von uns wohnt. Dies verstehen wir unter der wahren Geburt des Christus – ganz abgesehen von den anderen Fakten dieser Geschichte.

Das Christuskind lebe in uns! Wissen Sie, daß wir Menschen im Westen es gar nie versucht haben? Wir reden davon und träumen und debattieren darüber, aber wie wenige von uns Menschen verwirklichen es, leben es, versuchen es, und kommen unter seinen himmlischen Einfluß? Der Mensch, der es tut, ist zehnmal der Mensch, der er zuvor war, klarer im Intellekt, lebendiger im Geist, größer im Denken; denn er wird von genau den Kräften inspiriert, die das Universum im Gleichgewicht halten, indem er das Christuskind in seinem Herzen wird.

Die exoterische und die esoterische H. P. B.

Anstatt darüber zu sprechen, worin H. B. Blavatskys Werk bestand und was sie tat mag der Versuch von Interesse sein, einige bedeutsame Gedanken über H. P. B. selbst zu sagen: wer und was sie war, und warum sie kam. Ich werde versuchen, dies kurz zu tun.

Zunächst möchte ich über die exoterische H. P. B. sprechen. In dieser großen Frau existierten zwei Bewußtseinsseiten: eine äußere, die sich mit der Welt und ihren Verhältnissen, in denen sie zu arbeiten hatte, auseinandersetzen mußte, und eine innere, die eine lebendige Flamme der Liebe und Intelligenz war, eine Flamme der Inspiration und des heiligen Lichts. Letztere war H. P. B.s esoterische Seite.

Betrachten Sie ihr Gesicht und studieren Sie es. Vertiefen Sie sich in die russischen Merkmale, in die Gesichtszüge, die die Steppen des riesigen Rußland zeigen. Wenn Sie es dabei bewenden lassen, werden Sie kaum mehr sehen als ein Gesicht, in dem nicht einmal viel menschliche Schönheit ist. Aber jene, die Augen zum Sehen haben und hinter den Schleier der physischen Persönlichkeit zu blicken vermögen, können in der Tat noch etwas anderes wahrnehmen. Sie können Schönheit erkennen, eine intensive Ergriffenheit und eine große Traurigkeit – nicht die Traurigkeit und Ergriffenheit von jemandem, der ein großes Werk zu vollbringen hatte und daran scheiterte oder es nicht zustandebringen konnte, sondern ein Sehnen, ein Ergriffensein, ein Bekümmertsein, wie es immer mit dem Typus des Christos, wie man im Westen sagt, in Zusammenhang gebracht wurde. Genau so! Denn hinter diesen äußerlichen Gesichtszügen, die einige Künstler sogar häßlich nannten, läßt sich eine vergeistigte Schönheit erkennen, die sich nicht leicht durch Worte beschreiben läßt. Jedes Herz kann sie fühlen, jedes für spirituelle Dinge geöffnete Auge kann sie wahrnehmen. In diesem Gesicht liegt eine Inspiration, und es ist wunderbar, es zu betrachten. In diesem Gesicht ist Selbsthingabe. Göttliche Gedanken durchleuchten es, geboren aus der Wahrnehmung der Wahrheit, und diese Wahrheit ist das göttliche Herz der Natur. Es sind diese spirituellen Qualitäten, die aus dem Gesicht von H. P. B. herausleuchten, wenn wir ihr Bild betrachten, und die uns zeigen, daß hinter der äußeren Person ein inneres, lebendiges, esoterisches Feuer existierte.

Keiner, der die Weisheitsreligion des Altertums studiert hat, glaubt auch nur für einen Moment, daß H. P. Blavatsky zufälligerweise in den Westen kam und nicht in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen und einer unerbittlichen Verkettung von Ursache und Wirkung, die alle Dinge in die richtige Ordnung bringt. Glaubt jemand, daß es etwas gibt, das nicht seinen richtigen und ihm angemessenen Platz in der kosmischen Harmonie einnimmt? Natürlich ist das nicht so. Das bedeutet also, daß sie kam um dem Gesetz Genüge zu tun, einem der Naturgesetze, von denen die unwissenden Menschen des Westens viel zu wenig wissen. Sie sind deshalb voller Zweifel und als weitere Folge davon blind, denn der Zweifel verschleiert immer die innere Vision.

H. P. B. kam, weil es für sie an der Zeit war, zu kommen. Sie war ein Lehrer aus einer Kette von Lehrern, die im Verlauf der menschlichen Geschichte zu ganz bestimmten festgelegten Perioden auftreten. Ein Lehrer folgt dem anderen, und immer, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen und die Zeit reif ist, und niemals zufällig. Sie war eines der Glieder in der lebendigen Kette des Hermes, ein Glied der Goldenen Kette, wie die Initiierten des alten Griechenlands diese nannten. Sie wird mit der Weitergabe des mystischen und esoterischen Lichtes und einer erneuten Darlegung der Wahrheit in Verbindung gebracht. H. P. B. kam als reguläre Nachfolgerin der Lehrer, die ihr vorausgegangen waren. Jeder einzelne von ihnen wurde von der großen Vereinigung der Weisen und Seher ausgesandt, die verschiedentlich die Mahatmas, die Älteren Brüder der Menschheit oder anders genannt wurden. Diese Lehrer, diese Leiter und Lenker der Menschheit, kommen und lehren gemäß dem Gesetz, gemäß dem esoterischen und natürlichen Gesetz, wenn die Zeit für ihr Auftreten da ist. Wie könnte man sonst ihr periodisches Auftreten logischer erklären?

Die Zeitalter lösen einander ab. Jedes Zeitalter hat eine neue Generation, und jede Generation empfängt ihr Licht von den ihr vorausgegangenen Generationen, von ihren Vätern. Aber die Generationen steigen auf und gehen wieder unter, sowohl physisch in bezug auf die Zivilisation als auch spirituell auf die Ebenen des Lichtes bezogen, und auf die intellektuellen, ethischen und mentalen Gleise, denen die Menschen folgen, wenn sie die veredelnden Einflüsse des menschlichen Lebens hervorbringen. Und diese aufeinanderfolgenden Generationen bedürfen immer führender Denker, benötigen ein Licht, das von Zeitalter zu Zeitalter erneuert wird, um die alten Feuer phönixgleich zu entflammen. Es sind diese Überbringer des Lichtes, die die Goldene Kette des Hermes bilden.

Was bringen diese Lehrer der Menschheit? Lehren, die den Lehren und Unterweisungen der Vorgänger entgegengesetzt sind, ihnen widersprechen und etwas vollkommen anderes sagen? Nein, das ist niemals der Fall, wenn diese Lehren richtig verstanden werden. Wenn man die Lehren aller großen Weisen und Seher überprüft, die unter den Menschen lebten, wird man erkennen, daß sie essentiell alle eins sind, obwohl sie in verschiedenen Sprachen, in verschiedenen Formen und unterschiedlichen Gedankenformulierungen abgefaßt wurden, den verschiedenen Zeitaltern angepaßt, in denen der jeweilige Lehrer erschien. Obwohl sie in verschiedene Gewänder gekleidet und eingehüllt sind, ist der Kern der Wahrheit, die sie lehrten und lehren, ein und derselbe.

Was diese Weisen brachten, brachte auch H. P. Blavatsky. Überprüfen Sie, testen Sie diese Behauptung, prüfen Sie sie für sich selbst – die Literatur der Welt steht Ihnen dazu zur Verfügung und ermöglicht es Ihnen, dies zu tun. Wenn Sie finden, sie hätte etwas gelehrt, was ihre Vorgänger, die großen Seher, nicht gelehrt haben, wäre es für mich ein Wunder. Aber ich glaube nicht, daß Sie das können. Sie erinnern sich, was Konfuzius im wesentlichen sagte: „Ich lehre nichts Neues. Ich lehre, was meine Vorgänger lehrten. Ich liebe die Alten und deshalb lehre ich, was sie lehrten.“ Details der Lehre mögen verschiedenartig sein, notwendigerweise variieren auch die Formen der Lehren, aber die Lehre an sich ist die Wahrheit von der und über die Natur, über ihr wirkliches Wesen, ihren Aufbau, ihre Arbeits- und Funktionsweisen, über ihre charakteristischen Merkmale und über ihre Gesetze. Wenn ein Theosoph Natur sagt, ohne weitere Spezifizierungen vorzunehmen, dann begrenzt er dieses Wort nicht auf die physische Welt allein. Er bezieht sich dann auf die Gesamtheit des Universums. Das schließt die göttliche, spirituelle, intellektuelle, physische und astrale Natur mit ein; er bezieht sich auf all die spirituellen und feinstofflichen Bereiche, Sphären, Welten und Ebenen, die zusammen den Geist, die Seele und den Körper des Universums bilden, wie die großen Denker des Westens und des Ostens es ausdrückten.

Das lehrte sie. Das lehrten die großen Weisen und Seher: eine offene, äußere Lehre und eine innere, verborgene Lehre; eine exoterische Lehre für die Öffentlichkeit, und eine esoterische Lehre für diejenigen, die sich selbst als fähig erwiesen hatten, sie zu begreifen und daher auch bereit waren, sie geheimzuhalten und als heilig zu betrachten. Denn wenn es angebracht wäre, diese esoterischen Lehren der Öffentlichkeit mitzuteilen, würde dies geschehen. Erinnern Sie sich, daß die archaische Weisheitsreligion der Zeitalter das natürliche Erbe der Menschen ist. Sie gehört ihnen rechtmäßig. Aber als Einzelne haben wir kein Anrecht darauf, ehe wir nicht erwachsen sind, ehe nicht unser Verstand gereift ist, und wir nicht länger in spiritueller und intellektueller Hinsicht wie Kinder sind, bereit, das zu mißbrauchen, was uns zwar rechtmäßig gehört, aber den irrenden Menschen von der Natur, den Göttern und den Meistern aus Mitleid, Liebe und Weisheit so lange vorenthalten wird, bis die Menschen gelernt haben, sich selbst zu beherrschen. Dann werden sie auch imstande sein, das, was ihnen aufgrund des natürlichen Rechtes zusteht, in der richtigen Weise anzuwenden. Dann wird auch keine Gefahr mehr für eine falsche Anwendung und für einen Mißbrauch bestehen.

Große und erhabene ethische Lehren bilden die Grundlage dafür, was diese edle Botin der Meister, H. P. B., lehrte. Sie zeigte uns, daß ethische und moralische Forderungen sich letztlich auf den Aufbau und die Gesetze der Natur gründen, und daß Ethik und Moral nicht nur ein Ergebnis menschlicher Übereinkunft sind. Sie zeigte uns, daß das Richtige für alle Ewigkeit richtig ist, ganz gleich, wie die Menschen über Details argumentieren, und daß das Falsche auch ewig falsch bleibt. Das Richtige ist identisch mit Harmonie, das Falsche mit Disharmonie. Harmonie ist das natürliche Herz der Liebe, der Musik und des Friedens, denn sie ist Gleichgewicht. Disharmonie ist gleichbedeutend mit Dissonanz, Unfrieden und Mißklang in der Natur, wie auch im Leben der Menschen. Denn die ganze Natur ist beseelt, so wie der Mensch; und diese Lehre über Ethik ist eine der edelsten, die sie uns brachte. Sie lehrte uns unsere untrennbare Einheit, unser Einssein mit dem Herzen des Seins, so daß der Tod nicht länger als ein gräßliches Phantom gesehen wird, sondern als eines der wunderbarsten Abenteuer, dem man sich als Mensch unterziehen kann, als eine erhabene und herrliche Initiation in andere Welten, in ein edleres, größeres und vortrefflicheres Leben.

Als einer der aufeinanderfolgenden Lehrer kam sie in rhythmischer Übereinstimmung mit den Gesetzen, die unseren Planeten kontrollieren. Sie kam tatsächlich gerade am Beginn eines Messianischen Zyklus, der 2160 Jahre umfaßt, und deshalb auch am Ende des vorhergehenden Zyklus derselben Kategorie. Sie war die Botin für ihr Zeitalter, d. h. für das kommende Zeitalter. Sie hatte einen neuen Grundton anzuschlagen, obwohl dieser, mystisch gesprochen, so alt ist wie die Zeitalter selbst. Sie war in einem gewissen, aber wenig bekannten Sinne ein Avatāra einer ganz bestimmten Art oder eines ganz bestimmten Typus, denn es gibt verschiedene Arten von Avatāras. Jeder Lehrer, der seine Lehrtätigkeit aufnimmt, besteht nicht nur aus seinem Körper und seinem ungewöhnlich aufgebauten psychologischen Apparat, sondern ist zusätzlich zeitweise mit dem heiligen Feuer einer größeren Seele erfüllt und deshalb de facto ein Avatāra einer speziellen Art. Genau wie Jesus, der Christus, ein Avatāra einer besonderen Art für sein Zeitalter war, so war auch H. P. Blavatsky ein Avatāra einer anderen Art für das ihre.

In der modernen westlichen Welt ist es besonders bei den Künstlern üblich, Jesus von Nazareth als einen Mann von wunderbarer physischer Schönheit, hervorstechender Männlichkeit und faszinierender Erscheinung darzustellen. Aber stimmt das? Entspricht dieses Bild den Tatsachen? Diese Darstellungsweise orientiert sich an einer Vorstellung oder an einem Ideal des Mittelalters und der Gegenwart. Es wird erzählt, daß die christlichen Kirchenväter häufig voller Stolz der Welt lautstark die Idee verkündeten, daß Jesus ein Mann von durchschnittlicher Erscheinung war, seinem Körper und seinem physischen Erscheinungsbild nach sogar unbedeutend. Doch was hat das, ob wahr oder falsch, mit dem inneren Feuer zu tun, mit der Flamme des Geistes, die durch die sterbliche Hülle leuchtet, so daß letztere gleich einer Lampe strahlt und glüht und den Menschen im Umkreis Licht spendet? Worauf es ankommt ist allein die wahre spirituelle Wesenheit im Inneren.

Ich will Ihnen den Grund dafür sagen, warum H. B. P. – dieser gegenwärtige Avatāra von jener speziellen Art, von der ich sprach – in einer nicht gerade physisch schönen Erscheinungsform auftrat. Bei ihr hat das bislang ja erfolgreich funktioniert. Bei Jesus, dem syrischen Avatāra, hatte der gleiche Versuch in den nachfolgenden Jahrhunderten jedoch seine Wirkung verfehlt. Was war und ist der Grund dafür? Die Lehrer waren bemüht, wie immer, wenn ein neuer Lehrer erscheint, jemanden zu finden, der der Welt seinen spirituellen und intellektuellen Stempel allein durch das Feuer des inneren Genius, der inneren Gottheit aufdrückt; jemanden, bei dem spätere Generationen nicht eventuell vor dem physischen Körper des Betreffenden aus instinktiver Liebe zur Schönheit niederknien und ihn anbeten würden. Es widerspricht den Gefühlen des menschlichen Herzens, eine häßliche Person als Gott anzubeten und zu verehren. Im Falle von Jesus gewannen in späteren Zeiten blinder Glaube und eine falsch verstandene Verehrung die Oberhand. Bei H. P. B. hat ihr unbedeutendes frauliches Erscheinungsbild uns und vor allem sie vor einem ähnlichen Schicksal bewahrt. Niemand, ob Mann oder Frau, läßt sich dazu verleiten, jemanden anzubeten, der häßlich ist. In einem gewissen Sinne ist das auch verständlich. Es ist nicht falsch, denn die menschliche Seele weiß instinktiv, daß innere Schönheit äußere Schönheit bewirkt, vielleicht nicht, was die äußere Gestalt betrifft, aber zumindest hinsichtlich der Gesamterscheinung. Vor allem drückt sich diese Art von Schönheit in einer an kein Geschlecht gebundenen Würde aus. Die Schönheit des inneren Lichtes äußert sich in Liebe, Weisheit, Wohlwollen und Güte. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich mit diesen kurzen Ausführungen zu sagen versuche.

Zweitausendeinhundertundsechzig Jahre vor H. P. Blavatskys Geburt begann ein Messianischer Zyklus besonderer Prägung. Er führte im Verlauf der Jahrhunderte die europäischen Länder in das dunkle Mittelalter. Ungefähr 2160 Jahre später begann mit ihrer Geburt ein neuer Zyklus, ein aufgehender Zyklus, der den Menschen Licht, Frieden, Wissen und Weisheit bringen sollte. Es ist die Pflicht der Theosophen, als gewöhnliche Mitglieder der Theosophischen Bewegung, dafür zu sorgen, daß die Botschaft, die sie brachte und als einen heiligen Auftrag in unsere Hände legte, rein und unverfälscht bleibt und unseren Nachkommen in späteren Generationen genauso weitergegeben wird, wie wir sie empfangen haben. Wie ich sie empfangen habe, genauso muß ich sie weitergeben, nicht anders. Iti mayā śrutam – „So habe ich gehört.“

Ich denke, der größte Tribut, den unser Herz und unser Denken H. P. B. geben kann, sollte darin bestehen, uns genaue Kenntnis darüber zu verschaffen, wie sie und was sie wirklich war und nicht dabei stehenzubleiben, was irgendwer über sie gesagt hat. Der beste Weg dazu ist, sie und ihre Bücher, in denen sie sich spiegelt, zu studieren. Erst dann werden wir die wirkliche H. P. B. kennenlernen. Wir werden unsere Intelligenz und unser Herz benutzen müssen, um darüber zu urteilen, was sie war und was sie hervorbrachte. Wir werden dann nicht mehr auf das angewiesen sein, was irgend jemand über sie erzählt. Wir wollen die Fackel des Lichtes, die sie in unsere Hände legte, weiterreichen.

H. P. Blavatsky kam in eine Welt, die gerade in einen wahren „Totentanz“ verfiel, einen Danse Macabre, bei dem man, um die mittelalterliche Idee fortzuspinnen, das Klappern der Gebeine der Toten hören konnte, das Rufen der Eulen der Verzweiflung und die feuchten, üblen Gerüche des Friedhofes spürte, in dem die Menschen ihre Hoffnungen beerdigt hatten. Das war die Welt, in die sie kam und die Zeit, in der sie sprach. Es war eine Zeit, in der die Menschen im Grunde allen Glauben daran verloren hatten, daß es so etwas wie ein Wissen über spirituelle Dinge überhaupt gibt, eine Zeit, in der es als ein Merkmal von intellektuellem Schwachsinn betrachtet wurde, wenn sich jemand erkühnte, über die Gottheit, über eine uns verbleibende Hoffnung oder über andere Dinge spirituellen Charakters auch nur zu sprechen. Selbst das Wort Seele war tabu.

Ganz allein auf sich gestellt, bewirkte diese starke Frau eine Veränderung im Denken des Menschen und zwar durch die Kraft ihres spirituellen Wissens, das sie befähigte, auf den menschlichen Geist, auf die menschlichen Seelen einzuwirken. Sie tat dies, indem sie in die menschlichen Gemüter Gedankensamen säte, die durch den menschlichen Verstand wie feurige Funken stoben. Infolge ihrer enormen intellektuellen Energie lehrte sie die Menschen, in einer neuen Weise über das Leben und die Natur nachzudenken indem sie ihnen zeigte, daß die Lehren des sterbenden Materialismus, die damals so modern waren und denen die Menschen in ihren Herzen Vertrauen geschenkt hatten, nichts waren als hohl tönendes Messing und klingende Schellen. Sie zeigte ihnen, daß sie törichterweise dabei waren, nicht nur ihre edelsten Hoffnungen auf dem Friedhof der materiellen Existenz zu Grabe zu tragen, sondern sich selbst innerlich zu dieser Grabstätte zu machen, zu denen sie ihre Füße trugen.

Eine gewaltige Kraft kam in die Welt und wirkte und machte ihre Einflüsse geltend. Und das Netz, das sie knüpfte, spielte eine große Rolle dabei, die besseren Bedingungen herbeizuführen, die wir heute vorfinden. Die heutige Welt fängt gerade an, theosophisch, d. h. in einer theosophischen Art, zu denken, denn dem makabren Tanz ihres Zeitalters wurde Einhalt geboten, jenem Totentanz, der taumelnd, seelen- und gedankenlos auf den Gräbern der menschlichen Hoffnungen getanzt wurde. Das alles hat aufgehört!

In H. P. B. liegt ein psychologisches Wunder, ein Mysterium, denn H. P. B. war ein Mysterium. Was sagen uns unsere größten Wissenschaftler und Denker heute, viele Jahre nachdem sie auftrat und lehrte? In skizzenhaften Umrissen bestätigen sie viele der Lehren, die sie übermittelte: Lehren, soweit es diese Wissenschaftler betrifft, die auf Schlußfolgerungen basieren, die sich aus der Forschung in der physischen Natur ergaben, dem Arbeitsgebiet dieser Wissenschaftler. Bevor die Wissenschaftler die Fakten überhaupt entdeckten, hatte sie diese bereits gelehrt, und zwar trotz des Widerstandes der Kirche einerseits und der Wissenschaft andererseits. Beide versuchten, sie lächerlich und verächtlich zu machen. Zusätzlich hatte sie noch die sogenannten Privilegierten und Bevorrechtigten aller Schattierungen aus ihrer Umgebung gegen sich, ob auf dem sozialen, religiösen, philosophischen oder wissenschaftlichen Sektor.

In ihr war Stärke, spirituelle Stärke, und sie setzte die Seelen der Menschen in Flammen. In ihr war intellektuelle Kraft, und darum konnte sie die Menschen unterweisen, in einer neuen Richtung zu denken und neue Visionen zu haben. Und dann besaß sie außerdem noch eine psychologische Kraft, die sie befähigte, den māyāvischen, psychologischen Wall niederzureißen, in den die Menschen in ihrer Torheit ihr Bewußtsein eingemauert hatten.

Nun überlegen Sie, was dies alles bedeutet. Hätten Sie das tun können? Hätten Sie den Mut zu dieser Herausforderung aufgebracht? Würden Sie es wagen, auf sich allein gestellt, heutzutage der Welt in einer ähnlichen Art und Weise gegenüberzutreten? Es gibt eine Ursache und einen Grund für die Arbeit, die sie leistete. Wir sehen heute nur die Auswirkungen, das historische Phänomen ihres Lebens und ihres Werkes. Aber worin lag letztlich die innere Ursache? Es war das lebendige, spirituelle und intellektuelle Feuer in ihr. Es war die esoterische Seite von H. P. Blavatsky, die sie zu dem befähigte, was sie tat.

Glauben Sie auch nur für einen Augenblick, daß H. P. B. eine ganz gewöhnliche Frau war? Glauben Sie, daß die Geschichten, die über sie erzählt wurden, z. B. in Herrn Sinnetts Incidents in the Life of H. P. Blavatsky, alle wirkliche Tatsachen ihres Lebens darstellen? Nehmen Sie an, daß die dort aufgestellten Behauptungen ausreichend genug sind, um sie vollständig zu erklären? Glauben Sie das ja nicht! Die Tatsachen allein widerlegen einen solchen Glauben. Eine derartige Frau, wie sie Sinnett in seinen Incidents beschreibt, hätte niemals die Welt so verändern können, wie es H. P. B. tat. Denken Sie, dies wäre der jungen russischen Dame gelungen, die er schildert, oder der angeblichen russischen Priesterin, die Solovyoff, ihr ehemaliger Freund und späterer grimmigster Feind zu schildern suchte? Glauben Sie, daß eine Heuchlerin, eine Betrügerin, ausgestattet mit mittelmäßiger Intelligenz, fähig gewesen wäre, intellektuelle und in ethischer Hinsicht oft äußerst anspruchsvolle Menschen um sich zu versammeln? Natürlich nicht.

Betrachten Sie die Fakten in H. P. Blavatskys Leben. Lassen Sie Ihr Denken nicht durch Märchen ablenken, die man über sie erzählt hat. Bilden Sie sich selbst eine Meinung, denn aufmerksames Nachdenken ist eine der ersten Pflichten eines Theosophen. Dann ziehen Sie Ihre eigenen Schlußfolgerungen. Tatsächlich interessieren uns die über H. P. B. erzählten Geschichten lediglich insofern, als sie ein psychologisches Phänomen der Schwäche des menschlichen Denkens offenbaren. Sie beschreiben das ungenügende Fassungsvermögen jener Menschen, die versuchten, sie zu erklären. Wenn Sie denken, daß Sie den Charakter, die Konstitution von H. P. B., aus den angeblich biographischen Abhandlungen, die über sie geschrieben wurden, erschließen können, dann könnten Sie ebensogut den Versuch unternehmen, den Ozean in eine Teetasse zu gießen. Bestenfalls enthalten diese Abhandlungen gewisse Fakten, an die man sich zufälligerweise in ihrer eigenen Familie erinnerte – die diese, nebenbei bemerkt, vielleicht weniger gut verstand als ihre theosophischen Freunde – und das Ganze hat man gesammelt und in bestimmten Geschichten aufgezählt. Ist das Lesen solcher Erzählungen der Weg zu einem Verständnis dafür, was sie sie getan hat?

H. P. Blavatsky war natürlich körperlich eine Frau, das sollte man nicht vergessen. Dieser Körper mit seinem Verstandesteil wurde von der inneren göttlichen Sonne, dem inneren Buddha, dem im Inneren lebenden Christus, wie es die Mystiker unter den heutigen Christen ausdrücken, belebt und entflammt. Aber zwischen diesem göttlichen Feuer und dem aufnehmenden, mystisch-trainierten und ausgebildeten Gehirn dieser Frau existierte ein psychologischer Apparat; in westlicher Ausdrucksweise nennt man ihn gemeinhin die menschliche Seele, der in ihrem besonderen Fall – sie war eine Initiierte des Ordens der Buddhas des Mitleids und des Friedens – zu gewissen Zeiten beiseite treten konnte, um so einer menschlichen Seele, die noch viel erhabener war als die ihre, den Eintritt in diese Lücke zu gestatten.

So war sie also ein Avatāra ihrer Art. Dieser buddhische Glanz war es, der die leere Stelle ausfüllte, die sie so bereitwillig als Wirkungsfeld zur Verfügung stellte. Zum großen Teil bewirkte dieser buddhische Glanz die wundersamen Dinge, die H. P. B. vollbrachte. Sie werden sich daran erinnern, daß sie in ihren Schriften oft einen Unterschied zwischen dem machte, was sie H. P. B. nannte und dem, was sie als H. P. Blavatsky bezeichnete. H. P. Blavatsky war die Frau, der Chela, der strebende, lernende, großartige, edle und mutige Chela. H. P. B. hingegen war der Meister, der durch sie sprach. Es gab einen Körper, einen Geist, eine Wesenheit und den dazwischenliegenden Apparat, den man gemeinhin die Seele nennt, und der zeitweilig willentlich zurückgezogen werden konnte. Wenn H. P. B. als der Sendbote sprach, blieb dieser psychologische Apparat zum großen Teil vollkommen im Hintergrund. Diese Tatsache erklärt die sogenannten Gegensätzlichkeiten und Widersprüche ihres Charakters, welche die Leute, die über sie zu schreiben versuchten, natürlich bemerkten, und zwar sehr deutlich, denn man konnte es nicht übersehen. Aber sie vermochten sie nicht zu deuten, und deshalb beurteilten sie H. P. B. oft falsch und verstanden sie nicht. Wenn jedoch die heilige Flamme die leere Stelle eingenommen hatte, dann wurde H. P. B. zu dem Lehrer, dem Weisen, dem Seher, zu dem Lehrer der großen naturwissenschaftlichen Wahrheiten, welche die heutige Wissenschaft gerade als wahr zu begreifen beginnt, dann ist sie der Lehrer, der der Menschheit die große Hoffnung gibt, der Übermittler einer Vision, der Urheber und Gestalter einer neuen Philosophie-Religion-Wissenschaft für die Menschen.

Sollten wir in H. P. Blavatsky lediglich eine Russin aus guter Familie sehen? Wenn, dann war sie eine höchst außergewöhnliche Dame! Die einfache Theorie verträgt sich nicht mit den Tatsachen – sie war eine Russin, die genau genommen keinerlei Ausbildung genossen hatte, keine wissenschaftliche, keine religiöse und ebenso keine philosophische. Aber sie war in mystischen Dingen erfahren. Die wirkliche H. P. B., die lebte und lehrte, war ein Adept, und ihre Lehren waren in all diesen Bereichen menschlichen Wissens meisterhaft!

Sollen wir sie als einen inkarnierten Mahatma betrachten? Die Fakten sprechen alle dagegen, genau wie sie gegen die vorige Theorie sprechen. Wir sollten H. P. Blavatsky genauso nehmen, wie sie war und nicht so, wie man sie fälschlicherweise interpretiert. Wir sollten sie so nehmen, wie wir sie kennen. Wir sollten sie so nehmen, wie wir sie in ihren Büchern finden. Beschränken wir uns auf die Fakten, und lassen wir die Theorien beiseite, die die Menschen über sie aufgestellt haben. Wenn wir weise genug sind, werden wir sehen, werden wir verstehen, wer und was sie war.

Es gab Zeiten in ihrem gesellschaftlichen Leben, da war sie die charmante Gastgeberin, eine grande dame. Bei anderen Gelegenheiten war sie eine Pianistin von bewundernswerter und exzellenter Fertigkeit. Bei weiteren Gelegenheiten faszinierte sie die Anwesenden mit der Fähigkeit ihrer brillanten Konversation. Sie faszinierte einen ganzen Saal und hielt ihr Publikum im Bann. Gelehrte, Arbeiter, Leute der oberen Schichten, Prinzen und einfache Bauern strömten zusammen, um sie zu hören. Dann wiederum gab es Zeiten, da scharten sich bei ihr zu Hause, wenn es ruhig geworden war, ihre Schüler um sie, und sie unterwies sie in einigen der Wahrheiten aus den erhabenen Mysterien der Weisheitsreligion der Vergangenheit. Und zu wieder einer anderen Zeit saß sie an ihrem Schreibpult und schrieb und schrieb vom Morgen bis in die einbrechende Nacht, um sich dann endlich hinzulegen und, wie sie von sich sagte, für eine kleine Weile „heimzukehren“. Erst dann fand sie Ruhe!

Zu anderen Zeiten gab sie bei sich daheim Empfänge, bei denen sie mit Wissenschaftlern, Philosophen, geistig interessierten Menschen, Debattierern verschiedenster Art aus den Bereichen der Philosophie, der Wissenschaft oder der Religion zusammentraf, mit ihnen plauderte und sie in Erstaunen setzte. „Woher hat diese Frau dieses wunderbare Wissen?“ sagte man. „Wieso kann sie mir unbekannte Dinge aus meinem eigenen Beruf, die ich vorher selbst nicht gewußt habe, erzählen? Woher nimmt sie die Fähigkeit, mir klarzumachen, daß sich das so verhält?“ Sie verfügte über alle diese Aspekte und alle diese Charakterseiten, und alle sollten bedacht werden. Allein die Erklärung dieser reinen Fakten wird es uns ermöglichen, sie zu verstehen. Manchmal war sie die empfindsame und mitfühlende Frau, die Ringe, gutes Parfüm und angenehme Freunde liebte. Bei einer anderen Gelegenheit konnte sie der Lehrer sein, der Weise; wieder zu einer anderen Zeit konnte sie sich kraftvoll und männlich geben, so daß es schien, wie ihre Freunde sagten, als wenn sich ein Mann durch sie manifestieren würde – nicht irgendein Mann, sondern ein wahrhaftiger Mann.

So war sie, wie gesagt: körperlich eine Frau, eine Dame, gut geschult, aus gutem Hause, mangelhaft gebildet; im Inneren eine göttliche Flamme, die gelegentlich sozusagen von ihrem Gehirn Besitz ergriff – dann sprach sie wie eine Pythia, wie eine Prophetin, wie ein Delphisches Orakel. Und ähnlich verhielt es sich, wenn sie, wie ein Avatāra, von der heiligen Flamme eines der Großen Erhabenen erfüllt war. Dann war sie der Weise, der Seher. Dann schrieb sie ihre Bücher. Sie nahm darin das vorweg, was später erst entdeckt werden sollte und zeigte den Menschen, wie gefährlich ein Glaube ist, der mit den ethischen Regeln nicht übereinstimmt.

Lassen Sie uns daher in H. P. Blavatsky das sehen, was sie wirklich war. Und, wohlgemerkt, meine Freunde: wir, die wir H. P. B. studiert haben, sie lieben und ihr in Herz und Verstand treu sind, wir werden uns eisern vor jedem Versuch verwahren, sie anzubeten und aus ihr einen neuen Jesus zu machen. Sie wissen, was die erhabenen Großen Brüder uns gesagt haben: mehr als irgend etwas anderes ersehnen wir eine Bruderschaft unter den Menschen, eine Bruderschaft, die imstande ist, die Menschheit vor den Katastrophen zu bewahren, die durch eigenes Verschulden auf sie zukommen. Diese Katastrophen, moralische und selbst physikalische Kataklysmen, die wir bereits jetzt wahrnehmen können, werden uns mit Bestimmtheit treffen, es sei denn, die Menschen ändern ihre Denkgewohnheiten und als Folge davon ihre Handlungen und ihre Lebensführung. Wir werden uns standhaft gegen jeden Versuch, eine neue Religion einzuführen, wehren. Unsere großen Lehrer haben schon früher darauf hingewiesen, was der größte Fluch und das tödlichste Gift ist, dem sich die Menschheit gegenwärtig gegenübersieht: es ist der Glaube an einen äußeren Retter anstatt dem göttlichen Geist in unserem Inneren treu zu sein. Denn dort im Inneren liegt wirklich alle Wahrheit, alle Harmonie, alle Weisheit, alle Liebe und aller Frieden. Der innere Gott in jedem einzelnen von uns stammt aus dem innersten Herzen des Universums, und dieses Herz sind wir. Jeder einzelne von uns ist es.

H. P. B. war in der Tat ein Mysterium, aber obwohl sie das war, war sie es dennoch nicht in dem Sinne, wie dieses Wort gewöhnlich im Westen gebraucht wird. Sie war ein Mysterium im Sinne der alten Griechen, wenn sie von den alten Mysterien und den alten Mysterienschulen sprachen – sie meinten damit etwas, was verborgen ist, aber erkannt werden kann, etwas, das okkult und heilig ist, aber gleichzeitig auch erfahren werden kann.

Man kann H. P. B. verstehen. Wenn wir dies können, lieben wir sie um so mehr. Je mehr wir sie verstehen, um so tiefer wächst unsere Liebe, unsere Verehrung für sie. Möge es deshalb niemals geschehen, daß Theosophen das uns von ihr entgegengebrachte Vertrauen enttäuschen und dem Mystischen Osten, auf den sie immer zeigte, den Rücken kehren und anfangen, den Avatāra anzubeten. Erweisen wir uns des in uns gesetzten Vertrauens würdig. Wir können ihr Beispiel lieben, das sie uns an großartigem Mut und unerschütterlicher Hoffnung gab, es bewundern und versuchen, ihm nachzueifern. Wir können versuchen, dieser großen Frau ähnlich zu werden, ähnlich den vielen anderen, die wie sie, in der Vergangenheit erschienen waren oder in der Zukunft erscheinen werden, den viel größeren vielleicht, als sie es war. Aber wir sollten sie niemals auf ein hohes Podest stellen, wie es leider im Falle eines Lehrers in den frühen Jahren des Christentums geschah.

Wir können unserer geliebten H. P. B. keinen größeren Tribut zollen, als in Liebe zu ihr das Werk getreulich fortzusetzen, das sie so großartig begann.

Die Vision Buddhas des Herrn

Als zwölfjähriger Junge stieß ich auf ein buddhistisches Zitat, das meine Imagination, mein Denken und mein Herz faszinierte. Ich glaube, daß es eines der Dinge war, die mich in diesem Leben stärker zu Bewußtsein erweckten als alles andere, an das ich mich erinnere. Das Zitat ist reine Theosophie und echte buddhistische Lehre. Es lautete: Buddha, der Herr spricht, und ich fasse seine Worte etwas zusammen, um sie noch klarer zu machen: „Oh Jünger, laßt nie Entmutigung in eure Seelen eindringen! Seht ihr das Leiden in der Welt, seht ihr das Unglück, den Schmerz und die Unwissenheit, das Elend und die Sorge, die das Herz bedrücken? Jünger, allen Dingen ist es bestimmt, Buddhaschaft zu erlangen: den Steinen, den Pflanzen, den Tieren, allen Atomen, aus denen sie sich zusammensetzen, allem und jedem, Sonne und Mond und Sternen und Planeten – alles wird in zukünftigen Zeitaltern Buddha werden. Jedes wird ein Buddha werden.“

Welch wunderbares Bild! Wie es das Herz besänftigt und den Verstand beruhigt. Denn wenn ein einzelnes Atom oder ein Mensch ein Buddha wird, dann wird alles zum Buddha, denn dieses Universum ist eine Einheit, die während des Manvantara oder während der Manifestation in Vielheiten zerfiel, aber diese wurzeln in jenem Einen und leben von ihm und durch es. In ihm leben wir und bewegen wir uns und haben wir all unser Sein. Deshalb ist es all den einzelnen bestimmt, die jetzt die Vielheit bilden – Sonnen und Sterne, Planeten, Kometen, Götter, Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, Atome, Elemente und Welten –, eines Tages in den unberechenbaren Äonen dessen, was wir die Zukunft nennen, Buddhaschaft zu erlangen.

Als ich das las, lief ich für nahezu drei Monate in einem Taumel spiritueller Entrückung und inneren Wiedererwachens umher. Bis heute könnte ich nicht sagen, ob ich gegessen, getrunken oder geschlafen habe. Ich weiß, daß ich es getan haben muß, aber ich habe keine Erinnerung mehr daran, ich erinnere mich nur an Licht und daran, daß ich mein inneres und äußeres Sehen nach oben und innen hin erhob. Gerade dieser Gedanke öffnete die Tore, die sich geschlossen hatten, nachdem ich von den Wassern des Flusses Lethe getrunken hatte, den Wassern des Vergessens, als ich das letzte Mal starb. Die Tore öffneten sich, und das Licht kam herein und breitete sich aus.

Ich denke, daß dieses Zitat uns ein höchst wunderbares Bild vermittelt. Nehmen wir das Mineralreich: es setzt sich vollständig aus unbewußten Monaden zusammen, das heißt aus Monaden, die auf dieser Ebene unbewußt sind, jedoch durchaus nicht unbewußt in ihren eigenen Sphären. Aber was wir im Mineralreich als Monaden bezeichnen, ist sozusagen der Ausdruck der essentiellen, spirituellen Monaden, die hier unten auf dieser Ebene wirken und sich entwickeln und durch diese Gilgūlīm gehen – wie die hebräische Qabbālāh sie nennt, womit sie die niederen Hallen des Lebens und der Erfahrung meint –, diese Welten der unaufhörlichen evolutionären Reise. Dennoch ist jede (der unbewußten Monaden) essentiell ein Gott, ist jede einzelne in der Essenz ein Buddha, ein Strahl des Ādi-Buddha oder des Kosmischen Buddha. Und so ist es mit allen Dingen.

Deshalb sagte Buddha der Herr: „Jünger, wenn Leid euer Herz betrübt, wenn Schmerz und Leiden unerträglich sind, wenn ihr seht, daß andere sterben, weil sie nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen können: Seid nicht entmutigt. Blickt in die Zukunft. Jeder einzelne aus diesen Massen wird eines Tages ein Buddha, Ādi-Buddha und deshalb ein Buddha: Steine und Pflanzen und Tiere und Menschen und Götter, Sonnen und Sterne und Kometen und alle ihre Elemente.“

Dennoch sollte diese Erkenntnis der essentiellen Göttlichkeit aller Dinge und der ihnen bestimmten, zukünftigen Buddhaschaft unsere Hände hier und jetzt keinen Augenblick lang abhalten von den Werken des liebenden und helfenden Mitleids. Denn im Hier und Jetzt liegt unsere erhabene Pflicht, alles uns Mögliche zu tun, die Leiden und Nöte der Welt zu lindern, die den Monaden auf ihrer evolutionären Reise begegnen und die für sie notwendig sind.