Vorwort

„Handelt wie die Götter, wenn sie verkörpert sind. Empfindet euch als Vertreter der ganzen Menschheit als einen Teil von euch und handelt entsprechend.“ Das sind aufrüttelnde Worte. Sie bilden den Grundton einer Reihe von Briefen, die H. P. Blavatsky im Laufe der vier letzten Jahre ihres Lebens an die amerikanischen Theosophen richtete. Während diese Briefe außerhalb der theosophischen Kreise kaum bekannt sind, sind sie aus sich selbst heraus klassisch; erstens wegen ihres historischen Wertes, da sie während einer Zeit intensiver Aktivitat geschrieben wurden, als sich die Theosophische Gesellschaft aus einer kleinen Schar im Jahre 1875 von Amerika aus nach Europa und Asien ausgebreitet hatte; und zweitens – nicht weniger wichtig – wegen ihrer außerordentlichen Bedeutung für den gegenwärtigen Zyklus. Wenn man ihre Worte liest, hat man das Gefühl, sie wären im Hinblick auf dieses [20.] Jahrhundert geschrieben worden, so zwingend befassen sie sich mit der Notwenigkeit einer sicheren Führung im spirituellen und psychischen Umbruch unserer Tage.

H. P. Blavatsky ist die Sphinx des 19. Jahrhunderts genannt worden, und sie ist auch heute noch ein Rätsel. Dass sie viel mehr war, als sie selbst ihren nahen Gefährten zu sein schien, ist offensichtlich. Das ist Grund genug, ihre Schriften mit dem Auge der Intuition zu studieren. Ihr Lebensweg und der Aufbau ihres Werkes verliefen keineswegs glatt. Während bemerkenswerte Fortschritte gemacht wurden, mussten sowohl von HPB wie auch von der Gesellschaft schwere äußere und innere Krisen überwunden werden. Die Theosophie hatte jedoch tiefe Wurzeln in den Boden des menschlichen Bewusstseins gesenkt, so dass keine Verleumdung und kein Verrat die Kraft hatten, das zu zerstören, was zu leben bestimmt war.

Es war eine geistige Bewegung, zu der die Lehrer H. P. Blavatskys als Freunde der Menschheit in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts den Anstoß gegeben hatten. Ihr Hauptanliegen war es, in der modernen Welt ein lebensfähiges Gebilde zu gründen, das widerstandsfähig genug sein würde, um in den nachfolgenden Jahrhunderten fortzuwirken. Dafür benötigten sie ein Instrument, einen Gehilfen, der bereit und fähig war, die Weisheitslehren der Zeitalter in einer vollständigeren und umfassenderen Weise zu übermitteln, als es seit Jahrtausenden möglich gewesen war. Darüber hinaus mussten sie jemanden finden und schulen, der erfüllt war mit allesverzehrender Liebe für die seelisch, körperlich und geistig Enterbten.

Diese Briefe zeigen H. P. Blavatsky in ihrem wahren Licht – als die Stimme ihrer Lehrer, die Trägerin einer Botschaft von höchstem spirituellem Wert: dass Göttlichkeit kein isoliertes, nur auf einen Christus begrenztes Phänomen ist, sondern das innere Wesen in jedem Lebensfunke im ganzen Kosmos; dass die Menschen und die ganze Natur im Wesen, im Ursprung und im Ziel eine Einheit sind; dass folglich alle Wesen durch zyklischen Wechsel und Erneuerung der Form die gleiche Möglichkeit des Wachsens und Entfaltens haben und – als Wichtigstes – dass Bruderschaft universal ist und dass alle Nationen und Rassen sie im Leben ausüben müssen, wenn die gegenwärtige Zivilisation ihre Verheißung erfüllen soll.

Als sie den ersten Brief schrieb, waren wenig mehr als ein Dutzend Jahre seit 1875 vergangen, doch schon wurden die theosophischen Ideen von Schriftstellern und Denkern aufgegriffen und bewirkten einen deutlichen Wechsel im Zeitgeist. Nichtsdestoweniger hatte die Theosophie in ihrer einfachen Reinheit noch einen „Bergauf-Kampf“ vor sich, und die amerikanischen Mitglieder wurden daran erinnert, dass die Theosophische Gesellschaft, deren erstes Prinzip universale Bruderschaft ist, gegründet wurde, um die Menscheit zu spirituellem Erwachen anzuregen, und nicht „als eine Schule, um unbedingt Nachschub an Okkultisten zu erhalten“. H. P. Blavatsky und ihre Lehrer hatten die wachsende Kraft des Transzendentalismus vorhergesehen, welcher der Welle des bloßen Phänomenalismus folgen, die kommenden Dekaden erfassen und eine spirituelle Wiederbelebung beschleunigen würde. Sie hatten erkannt, dass es für den Fortschritt eine Gefahr bedeuten würde, wenn man den sich jetzt in Amerika schnell entwickelnden Psychismus ausarten ließe und ihn nicht unter der Kontrolle der edleren Fähigkeiten des Menschen hielte. Sie erklärte, dass ethische Grundsätze, die großen moralischen Wahrheiten der Thesophie, „für die Menschheit noch notwendiger sind, als die wissenschaftlichen Aspekte der psychischen Fakten über die Natur und den Menschen“, da ihre Ausübung zu den inneren Bereichen der Seele dringt und in der ewigen Essenz verbleibt, während die alleinige Kultivierung des Psychischen von vergänglichem Wert ist.

Wie prophetisch sind ihre Worte angesichts der Auswüchse astraler und psychischer Ausschweifungen, die heute von einem begierigen Publikum gesucht werden. Sie verleiten dazu, einen Schatten des Misstrauens auf die „echten Erforscher der psychischen Wissenschaften“ zu werfen, unter denen heute eine Anzahl gut motivierter, schöpferischer Menschen zu finden sind, welche die inneren Ebenen des menschlichen Bewusstseins erforschen. Immer und immer wieder ermahnt H. P. Blavatsky ihre amerikanischen Mitarbeiter, ihre Gelegenheiten zu ergreifen und zusammenzuarbeiten, um die aufkommende Flut psychischer Sensibilität lenken zu helfen, die in dieser Entwicklungsperiode unserer Menschheit erwartet wird: damit „es schließlich gut und nicht übel ausgehen möge“.

Wenn man diese Briefe, einen nach dem anderen liest – die beiden letzten wurden genau dreieinhalb Wochen vor ihrem Tod geschrieben –, empfindet man etwas von der Dringlichkeit, welche die Mahatmas fühlten, diese erhebenden Wahrheiten in den Jahren nach 1875 wieder einmal unter Menschen aller Gesellschaftsschichten in Umlauf zu bringen. Sie wussten, dass die Ideale des Mitleids und der Einheit aller Lebewesen Zeit benötigen würden, um das Bewusstsein des 20. Jahrhunderts zu durchdringen, noch bevor die Flutwelle psychischen Interessen und psychischer Entwicklung die Menschheit überwältigen würde.Wir fühlen auch intuitiv, warum sie nach fast einhundertjähriger Suche H. P. Blavatsky als ihren Beauftragten auserwählten zur Gründung einer Bewegung, deren heilige Pflicht es sein würde, „die selbstsüchtige Grundlage des menschlichen Lebens in eine selbstlose zu verandern“.

In ihre anfängliche Wahl schlossen sie Henry S. Olcott als ersten Präsidenten ein. Ohne sein Organisationstalent und ohne seine tiefe menschenfreundliche Gesinnung bei der Schaffung eines Trägers für den dynamischen Genius H. P. Blavatskys hätte die theosophische Bemühung vermutlich nicht den Erfolg gehabt, während ihrer Lebenszeit zu einer Organisation zu erblühen, die ihren Einfluss in allen Erdteilen des Globus ausdehnen konnte. Bis zum Ende seines Lebens blieb er „der gemeinsamen Sache, der Menschheit zu helfen“, treu ergeben.

Als jedoch im Jahr 1888, als Antwort auf einen Ruf der Mitglieder und als ein Mittel, den Kern der Theosophischen Gesellschaft zu stärken, die Esoterische Abteilung gegründet werden sollte, wandte sich H. P. Blavatsky an ihren amerikanischen Bruder und Mitgründer William Q. Judge. Um diese Maßnahme und weitere Maßnahmen in Zusammenhang mit den Ereignissen ihrer letzten Lebensjahre verständlich zu machen und auch, um den Hintergrund für die Briefe selbst zu liefern, hat der Archivar der Theosophischen Gesellschaft (Pasadena), Kirby Van Mater, einen historischen Überblick erstellt. Um bestimmte herausragende Elemente der Geschehnisse während des Aufbaustadiums der Gesellschaft zuverlässig aufzuzeigen, hat er die Dokumente mit großer Sorgfalt zusammengestellt. Damit enthüllen die Tatsachen selbst den kraftvollen Fluss der Inspiration, der die Anstöße für die theosophischen Anstrengungen durch HPB gab.

Es war nicht einfach, die Wahrheiten, für die andere in vergangenen Zeiten gestorben waren, in eine von Dogmen besessene Welt zu bringen. Eben das hat H. P. Blavatsky jedoch erreicht. Seit ihren Tagen haben Generationen von Theosophen aus dem Heroismus und Opfer H. P. Blavatskys Mut geschöpft und es freiwillig auf sich genommen, einen Teil der Verantwortung des Zeitalters zu übernehmen: das mentale und spirituelle Klima des Bewusstseins der Welt zu verändern und zu verbessern. Durch ihre Treue und Wahrnehmungsfähigkeit lebt die von den Adepten im Jahr 1875 eingeleitete Bemühung weiter. Und die lebenspendenden Wahrheiten, die sie erneut ausgaben, werden heute von einer wachsenden Zahl von Suchern begehrt, die nach einer Philosophie fragen, die inspiriert und ständig herausfordert.

GRACE F. KNOCHE

15. Juni 1979
Pasadena, Kalifornien


 

 

I – 1888

Zweiter Jahreskonvent – 22./23. April
Amerikanische Abteilung der Theosophischen Gesellschaft
Sherman House, Chicago, Illinois.

Brief von H. P. Blavatsky, datiert 3. April,
vorgelesen von William Q. Judge in der Nachmittagssitzung
am 22. April.

Vom maschinengeschriebenen Original in den Archiven der Theosophischen Gesellschaft, Pasadena, wortgetreu reproduziert.

Abbildung 1

 

AN WILLIAM Q. JUDGE
General-Sekretär der Amerikanischen Abteilung der Theosophischen Gesellschaft

 

LIEBSTER BRUDER UND MITGRÜNDER DER THEOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT:

Ich richte diesen Brief an dich mit der Bitte, ihn dem zum 22. April einberufenen Konvent zu verlesen. Zunächst übermittle ich den versammelten Delegierten und treuen Gefährten unserer Gesellschaft und dir – dem Herz und der Seele dieser Körperschaft in Amerika – meine herzlichen und aufrichtigsten Glück- und Segenswünsche. Wir waren mehrere, als wir sie 1875 ins Leben riefen. Seit damals bist du allein übrig geblieben, der ihr Leben durch gute und schlechte Zeiten behütet hat. Die Theosophische Gesellschaft verdankt ihr Bestehen im Jahr 1888 hauptsächlich, wenn nicht ganz, dir. Lass mich also dir dafür zum ersten und vielleicht zum letzten Mal öffentlich aus dem Grund meines Herzens danken, das nur für die Sache schlägt, die du so gut vertrittst und der du so treu dienst. Ich bitte dich auch, daran zu denken, dass meine Stimme bei dieser wichtigen Gelegenheit nur das schwache Echo anderer, heiliger Stimmen ist, und die Zustimmung Jener übermittelt, deren Gegenwart in mehr als einem treuen theosophischen Herzen lebendig ist und die, wie ich weiß, ganz besonders in deinem lebt. Möge die versammelte Gesellschaft den herzlichen Gruß so ernsthaft empfinden, wie er gegeben wird und möge jeder anwesende Gefährte, der es wirklich verdient hat, aus den übermittelten Segenswünschen Nutzen ziehen.

Die Theosophie hat vor kurzem in Amerika einen neuen Anfang gemacht, der den Beginn eines neuen Zyklus in den Angelegenheiten der Gesellschaft im Westen kennzeichnet. Die Methode, die du jetzt anwendest, ermöglicht in vortrefflicher Weise die weiteste Ausbreitung der Bewegung. Sie ermöglicht, auf einer soliden Basis eine Organisation aufzubauen, die bei gleichzeitiger Förderung von brüderlicher Sympathie, sozialer Einheit und Solidarität, genügend Raum lassen wird für individuelle Freiheit und Betätigung in der gemeinsamen Sache: der Menschheit zu helfen.

Die Vermehrung örtlicher Zentren sollte in euren Erwägungen vorrangig sein. Wenn die innere Entwicklung eines Menschen einen bestimmten Punkt erreicht hat, wird er ganz natürlich jene, mit denen er Kontakt hat, dem gleichen Einfluss nahebringen. Ein Kern wird sich bilden, um den sich andere Leute sammeln werden. So entsteht ein Zentrum, von dem Informationen und spiritueller Einfluss ausstrahlen und auf das höhere Einflüsse gerichtet werden.

Aber lasst niemanden anstelle von Theosophie ein Papsttum errichten, denn das wäre selbstmörderisch und hat schon immer äußerst verhängnisvoll geendet. Wir sind alle mehr oder weniger fortgeschrittene Studiengefährten, aber kein Angehöriger der Theosophischen Gesellschaft sollte in sich bestenfalls mehr sehen als einen Lehr-Schüler, der kein Recht hat zu dogmatisieren.

Seit der Gründung der Gesellschaft hat sich der Geist unseres Zeitalters deutlich geändert. Jene, die uns mit der Gründung der Gesellschaft betrauten, sahen diese jetzt schnell wachsende Woge transzendentalen Einflüssen voraus, die der anderen Woge eines bloßen Phänomenalismus folgt. Selbst die spiritistischen Zeitschriften lassen allmählich die Phänomene und Wunder beiseite und ersetzen sie durch Philosophie. Die Theosophische Gesellschaft bildete die Vorhut dieser Bewegung; aber obwohl theosophische Ideen in alle Entwicklungen und Formen der erwachenden Spiritualität eingegangen sind, hat die reine und einfache Theosophie noch einen schweren Kampf um ihre Anerkennung zu erkämpfen. Die alten Tage sind dahin und kehren nicht mehr wieder, und es gibt viele Theosophen, die sich, durch bittere Erfahrungen belehrt, gelobt haben, aus der Gesellschaft nicht länger einen „Mirakelclub“ 1 zu machen.

Die Kleinmütigen haben zu allen Zeiten nach Zeichen und Wundern gesucht. Und wenn diese nicht gegeben wurden, weigerten sie sich zu glauben. Diese Menschen werden niemals die reine und einfache Theosophie verstehen. Aber es gibt andere unter uns, die intuitiv erkennen, dass die Anerkennung der reinen Theosophie – die Philosophie der vernünftigen Erklärung der Dinge und nicht die Lehrsätze – in der Gesellschaft höchst lebenswichtig ist, da nur sie das Leuchtfeuer unterhalten kann, das gebraucht wird, um die Menschheit auf ihrem wahren Pfad zu leiten.

Das sollte niemals vergessen, noch sollte die folgende Tatsache übersehen werden. An dem Tag, an dem die Theosophie ihre heiligste und wichtigste Aufgabe erfüllt haben wird – nämlich einen Kern von Menschen aller Nationen in brüderlicher Liebe und in einem rein altruistischen Werk fest zu vereinen, nicht in einer Arbeit mit selbstsüchtigen Motiven – an jenem Tag erst wird Theosophie mehr werden als irgendeine formelle menschliche Bruderschaft. Das wird in der Tat ein Wunder und ein Mirakel sein, denn es wäre die Verwirklichung dessen, worauf die Menschheit seit den letzten achtzehn Jahrhunderten vergeblich wartet, und was jeder Vereinigung zu erreichen bisher misslang.

Orthodoxie ist in der Theosophie weder möglich noch erwünscht. Gerade die Vielfalt der Ansichten innerhalb gewisser Grenzen ist es, welche die Theosopische Gesellschaft lebendig und gesund erhält, ungeachtet ihrer vielen anderen hässlichen Züge. Bestünde nicht auch ein beträchtliches Maß an Ungewissheit in den Köpfen der Studierenden der Theosophie, dann wären solche gesunde Divergenzen unmöglich und die Gesellschaft würde zu einer Sekte degenerieren, in der der lebendige und atmende Geist der Wahrheit und ein stets wachsendes Wissen durch einen engen und stereotypen Glauben ersetzt würde.

Neue theosophische Lehren werden in dem Maß erteilt werden, in dem die Menschen für ihren Empfang vorbereitet sind. Aber es wird nicht mehr gegeben werden, als die Welt auf ihrem gegenwärtigen spirituellen Niveau Nutzen daraus ziehen kann. Von der Verbreitung der Theosophie – von der Annahme dessen, was schon gegeben worden ist – hängt es ab, wie viel noch enthüllt werden wird und wie bald.

Es muss daran erinnert werden, dass die Gesellschaft nicht als ein Treibhaus zur beschleunigten Züchtung von Okkultisten gegründet wurde – als eine Werkstatt zur Herstellung von Adepten. Die Absicht war, den Strom des Materialismus, der spiritistischen Phänomene und der Totenanbetung einzudämmen. Sie sollte das jetzt beginnende spirituelle Erwachen leiten und nicht psychischen Süchten Vorschub leisten, die nur eine andere Form des Materialismus sind. Denn mit „Materialismus“ ist nicht nur eine anti-philosophische Verneinung des reinen Geistes gemeint und, was schlimmer ist, Materialismus im Verhalten und Handeln – Brutalität, Heuchelei und vor allem Selbstsucht –, sondern auch die Folgen aus dem ausschließlichen Glauben an materielle Dinge, ein Unglaube, der während des letzten Jahrhunderts enorm zugenommen hat und der viele Menschen, nachdem er jede andere Existenz außer der materiellen leugnet, zu einem blinden Glauben an die Materialisierung des Geistes führte.

Die Tendenz der modernen Zivilisation ist eine Reaktion auf den Animalismus, auf die Entwicklung jener Eigenschaften, die dazu beitragen, das Leben des Menschen, wie ein Tier beim Kampf um die tierische Existenz, erfolgreich zu gestalten. Die Theosophie erstrebt – über das Animalische hinaus – die menschliche Natur im Menschen zu entwickeln, unter Verzicht auf die überflüssige Animalität, die durch das moderne Leben und durch die materialistischen Lehren in einem Maß gefördert wurde, das für den Menschen im heutigen Stadium seines Fortschritts abnormal ist.

Nicht alle Menschen können Okkultisten, aber alle können Theosophen sein. Viele, die nie etwas von der Gesellschaft gehört haben, sind Theosophen, ohne es selbst zu wissen; denn das Wesentliche der Theosophie ist, das Göttliche mit dem Menschlichen im Menschen vollkommen in Einklang zu bringen. Seinen gottgleichen Eigenschaften und Bestrebungen Richtung zu geben und sie über die irdischen oder animalischen Leidenschaften herrschen zu lassen. Freundlichkeit, das Nichtvorhandensein von allen üblen Gefühlen oder von Selbstsucht, Nächstenliebe, Wohlwollen gegenüber allen Wesen und vollkommene Gerechtigkeit anderen und sich selbst gegenüber sind die Hauptmerkmale. Wer Theosophie lehrt, predigt das Evangelium des Wohlwollens; und das Gegenteil ist auch richtig – wer das Evangelium des Wohlwollens predigt, lehrt Theosophie.

Dieser Aspekt der Theosophie ist auf den Seiten von The Path – eine Zeitschrift, auf welche die amerikanische Abteilung mit Recht stolz sein kann – stets gebührend und voll berücksichtigt worden. Sie wirkt als Lehrer und ist eine Kraft. Die Tatsache, dass eine solche Zeitschrift in den Vereinigten Staaten herausgegeben und unterstützt wird, spricht für den Herausgeber und ihre Leser beredtes Lob.

Amerika ist auch für die zur Zeit zunehmende Zahl von Zweigen oder Logen zu beglückwünschen. Es ist ein Zeichen dafür, dass die große amerikanische Republik sowohl in spirituellen als auch in weltlichen Dingen zur Unabhängigkeit und Selbstorganisation sehr befähigt ist. Die Gründer der Gesellschaft wollen, dass jede Abteilung, sobald sie stark genug geworden ist, um sich selbst zu verwalten, so unabhängig ist, wie es sich mit ihrer Treue zur Gesellschaft als Ganzem und zur Großen Idealen Bruderschaft, deren niederste formelle Stufe die Theosophische Gesellschaft repräsentiert, vereinbaren lässt.

Hier in England erwacht die Theosophie zu neuem Leben. Die Verleumdungen und absurden Erfindungen der Gesellschaft für Psychische Forschung haben sie, wenn auch nur für eine sehr kurze Zeit, fast gelähmt, und das Beispiel Amerikas hat die englischen Theosophen zu neuer Aktivität aufgerüttelt. Luzifer ließ den Weckruf ertönen und die erster Frucht ist die Gründung der „Theosophical Publication Society“ gewesen. Diese Gesellschaft ist von großer Bedeutung. Sie nahm die seit langem notwendige Arbeit in Angriff, die Schranken der Vorurteile und des Unwissens niederzureißen, welche die Verbreitung der Theosophie so stark behinderten. Sie wird als Werbeagentur für die Gesellschaft wirken, indem sie einführende Literatur über Theosophie unter den Menschen verbreitet, die in irgendeiner Weise für die Aufnahme vorbereitet sind. Die bereits eingegangene Korrespondenz zeigt das wachsende Interesse an dieser Sache und beweist, dass es in jeder großen Stadt in England genügend einzelne Theosophen gibt, um eine Gruppe oder Loge im Rahmen der Statuten der Gesellschaft zu gründen. Aber gegenwärtig wissen diese Schüler noch nicht einmal voneinander, und viele unter ihnen haben bis jetzt nie von der Theosophischen Gesellschaft gehört. Ich bin durchaus von der Nützlichkeit dieser neuen Gesellschaft überzeugt, die zum großen Teil aus Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft besteht und unter der Leitung solch hervorragenden Theosophen steht, wie du mein lieber Bruder W. Q. Judge, Mabel Collins und die Gräfing Wachtmeister.

Ich bin überzeugt, dass das heute so weitverbreitete Vorurteil gegen die Theosophie aussterben wird, wenn ihre wahre Natur verstanden worden ist. Theosophen sind notwendigerweise Freunde aller Bewegungen in der Welt, die intellektuell oder einfach praktisch für die Verbesserung des Zustands der Menschheit eintreten. Wir sind die Freunde aller, die gegen Alkoholsucht, Tierquälerei, Ungerechtigkeit Frauen gegenüber, Korruption in der Gesellschaft oder der Regierung kämpfen, mischen uns aber nicht in Politik ein. Wir sind die Freunde jener, die praktische Nächstenlieben ausüben und versuchen, die schreckliche Last des Elends zu erleichtern, welche die Armen niederdrückt. Aber in unserer Eigenschaft als Theosophen können wir uns nicht speziell in irgendeiner dieser großen Aufgaben engagieren. Als Einzelne können wir das tun, aber als Theosophen haben wir eine größere, wichtigere und viel schwierigere Aufgabe zu erfüllen. Die Leute sagen, dass die Theosophen zeigen sollten, was in ihnen steckt, dass „der Baum an seinen Früchten erkannt wird“. Lasst sie Wohnungen für die Armen bauen, wird gesagt, lasst sie „Volksküchen“ eröffnen usw., dann wird die Welt glauben, dass an der Theosophie etwas dran ist, Diese gute Leute vergessen, dass die Theosophen selbst arm sind und dass die Gründer selbst ärmer sind als irgendjemand, und dass auf jeden Fall einer von ihnen, die bescheidene Schreiberin dieser Zeilen, kein Eigentum besitzt und für ihr tägliches Brot hart arbeiten muss, wann immer sie neben ihren theosophischen Pflichten Zeit dazu findet. Aufgabe der Theosophen ist es, das Herz und Verständnis der Menschen für Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Großzügigkeit zu öffnen – Eigenschaften, die speziell zum Menschenreich gehören und dem Menschen angeboren sind, wenn er die Qualitäten eines Menschen entwickelt hat. Die Theosophie lehrt den tierischen Menschen, ein menschlicher Mensch zu sein; und wenn die Menschen so denken und fühlen gelernt haben, wie wirkliche Menschenwesen denken und fühlen sollten, dann werden sie menschlich handeln, und die Werke der Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Großmut werden von allen spontan ausgeübt werden.

Nun zur Geheimlehre, um deren Veröffentlichung mich einige von euch vor einiger Zeit so dringend und mit so herzlichen Worten baten. Ich bin für die versprochene aufrichtige Unterstützung und für die Art und Weise, wie das zum Ausdruck kam, sehr dankbar. Die Manuskripte der ersten drei Bände sind jetzt druckfertig: Ihre Veröffentlichung wird nur dadruch verzögert, weil es schwierig ist, die erforderlichen Mittel zu beschaffen. Obwohl ich sie nicht im Hinblick auf Geld geschrieben habe, muss ich doch, nachdem ich Adyar verließ, leben und für meinen Aufenthalt in der Welt bezahlen, solange ich darin verbleibe. Außerdem benötigt die Theosophische Gesellschaft für viele Zwecke dringend Geld, und ich meine, dass ich nicht berechtigt bin, mit der Geheimlehre ebenso zu verfahren, wie mit Isis entschleiert. Für mein früheres Werk habe ich persönlich, alles in allem, lediglich ein paar hundert Dollar erhalten, obwohl neun Auflagen erschienen sind. Unter diesen Umständen suche ich nach Wegen, die Veröffentlichung der Geheimlehre dieses Mal unter besseren Bedingungen zu erreichen; und hier bietet man mir nur so gut wie nichts. So müsst ihr mir denn, meine verehrtesten Brüder und Mitarbeiter in den transatlantischen Ländern, die Verzögerung verzeihen und dürft nicht mich dafür tadeln, sondern die unglücklichen Umstände, in denen ich mich befinde.

Ich würde Amerika gerne wieder besuchen und werde es vielleicht eines Tages tun, wenn es meine Gesundheit erlauben sollte. Ich habe dringende Einladungen erhalten, meinen Wohnsitz in eurem großen Land zu nehmen, das ich seiner edlen Freiheit willen so sehr liebe. Oberst Olcott drängt mich ebenfalls sehr, nach Indien zurückzukehren, wo er fast allein den großen und schweren Kampf für die Sache der Wahrheit führt; aber ich glaube, dass meine Pflichten gegenwärtig in England und bei den westlichen Theosophen liegen, wo im Augenblick der härteste Kampf gegen Vorurteil und Unwissenheit gekämpft werden muss. Aber ob ich in England oder in Indien bin, ein großer Teil meines Herzens und viele meiner Hoffnungen für die Theosophie weilen bei euch in den Vereinigten Staaten, wo die Theosophische Geselschaft gegründet wurde und auf deren Staatsbürgerschaft ich stolz bin. Ihr müsst jedoch daran denken, dass es zwar örtliche Zweige der Theosophischen Gesellschaft geben muss, dass es aber keine örtlichen Theosophen geben kann; und so wie ihr alle zur Gesellschaft gehört, so gehöre ich zu euch allen.

Ich werde es meinem lieben Freund und Kollegen Oberst Olcott überlassen, euch alles über die Angelegenheiten in Indien zu berichten, wo nach meiner Information alle Dinge günstig aussehen; denn er wird zweifellos ebenfalls seine gute Wünsche und Gratulationen zu eurem Konvent gesandt haben.

Inzwischen nimm du, mein ferner und lieber Bruder, die herzlichsten und ernsthaftesten Wünsche für das Wohlergehen eurer Gesellschaften und für dich persönlich entgegen; und versichere allen deinen Mitarbeitern, während du ihnen meine brüderlichen Grüße übermittelst, dass ich – sofern ich noch lebe – in dem Augeblick, da du diese Zeilen verlesen wirst, in Geist, Seele und Gedanken bei euch allen sein werde.

In der Wahrheit der GROSSEN SACHE
für die wir alle arbeiten,

immer die Ihre
H. P. BLAVATSKY

London, 3. April 1888
17 Lansdowne Road

Abbildung 2

 

 

 



 

 

II – 1889

Dritter Jahreskonvent – 28./29. April
Amerikanische Abteilung der Theosophischen Gesellschaft
Palmer House, Chicago, Illinois

Brief von H. P. Blavatsky, datiert vom 7. April.
Vorgelesen von William Q. Judge in der Morgenversammlung
des 28. April.

Wörtlich wiedergegeben aus dem gedruckten Report of Proceedings, S. 14–20.

 

 

17. LANSDOWNE ROAD, HOLLAND PARK, LONDON W.
7. April 1889

Theosophische Freunde und Brüder:

Sie sind nun wieder einmal zum Kovent versammelt und wieder sende ich Ihnen meine herzlichsten Grüße und Wünsche, dass der gegenwärtige Konvent einen noch größeren Erfolg zeitigen möge als der letzte.

Es ist jetzt das 14. Jahr, seit die Theosophische Gesellschaft von uns in New York gegründet worden ist. Seitdem wuchs sie mit steter Beharrlichkeit und unbezwingbarer Kraft unter widrigen Umständen weiter, teils gut und teils schlecht beleumundet. Jetzt haben wir das letzte Jahr unserer zweiten Sieben-Jahres-Periode begonnen. Da ist es passend und richtig, gemeinsam die von uns erreichte Lage zu begutachten.

In Indien bilden sich unter Obhut von Oberst Olcott weiterhin Zweige, und wo auch immer der Präsident Vorträge hält oder eine Besuch abstattet, wird mit Sicherheit ein neues Interessenzentrum geschaffen. Durch den Geist, der ihn beseelt, sind seine Besuche wie ein Regen für den durstigen, von der Sonne ausgedörrten Boden; Blumen und Gräser sprießen im Überfluß, und die Saat einer gesunden Vegetation wird gesät. Jetzt ist er in Japan, wohin er von einer großen und einflussreichen Abordnung eingeladen wurde, um über Theosophie und Buddhismus zu sprechen, bei einem Volk, das sich krank und wie verrückt danach sehnt, sich die westliche Zivilisation anzueignen; das glaubt, sich nur dadurch zu erhalten, indem es das Christentum in selbstmörderischer Weise als nationale Religion übernimmt. O weh! Sie vernachlässigen ihre eigene natürliche nationale Religion zugunsten eines parasitären Gewächses – und zugunsten der westlichen Zivilisation mit ihren nur zu gut bekannten Segnungen!

Wahrlich, das junge Japan gleicht dem selbstgefälligen Griechen von Troja:

„Wir rühmen uns, viel bessere Männer zu sein als unsere Väter.“

Mit Bedauern habe ich vernommen, dass einem Besuch und einer Vortragsreise in Amerika, die Oberst Olcott im Anschluss an seinen Japanbesuch erwog, unumstößliche Hindernisse entgegenstanden.

Hier in England haben wir hart gearbeitet; wir sind auf einige Schwierigkeiten gestoßen und haben sie überwunden. Aber, wie die Köpfe der Hydra-Schlange bei den Arbeiten Herkules, scheinen bei jedem Schritt weitere Schwierigkeiten aufzutauchen. Ein entschlossener Wille und eine standhafte Hingabe an unsere große Sache der Theosophie müssen und werden jedoch jedes Hindernis niederreißen, bis der Strom der Wahrheit seine Dämme sprengt und jede Schwierigkeit mit seiner Flut hinwegschwemmen wird. Möge Karma diesen Tag beschleunigen.

Aber Sie in Amerika. Ihr nationales Karma hat Ihnen die Theosophie heimgebracht. Das Leben der Seele, die psychische Seite der Natur, ist für viele von Ihnen offen. Das altruistische Leben ist weniger ein hohes Ideal als eine Sache der Praxis. Instinktiv findet die Theosophie in vielen Herzen und Gemütern eine Heimat und erzeugt einen harmonischen Widerhall, sobald sie die Ohren jener erreicht, die bereit sind, zu hören. Hierin also liegt ein Teil Ihrer Arbeit: die geistige Freiheitsfackel der Wahrheit hochzuhalten, damit alle sie sehen und von ihrem Licht Nutzen ziehen können.

Deshalb ist die Ethik der Theosophie für die Menschheit noch notwendiger als die wissenschaftlichen Aspekte der psychischen Gegebenheiten von Natur und Mensch.

Es ist nur natürlich, dass die Gesellschaft unter so günstigen Bedingungen, wie sie zur Zeit in Amerika für die Theosophie herrschen, schnell wächst und dass ein Zweig nach dem anderen entsteht. Aber während die Organisation für die Ausbreitung der Theosophie stark wächst, müssen wir an die notwendige Festigung denken. Die Gesellschaft muss angemessen wachsen und nicht zu schnell, damit das Wachsen nicht wie bei manchen Kindern ihre Kräfte übersteigt und dadurch eine Periode der Schwierigkeiten und Gefahren eintritt, in der das natürliche Wachstum gestoppt wird, um die Zerstörung des Organismus zu verhüten. Das ist eine sehr reale Tatsache beim Wachstum der Menschen, und wir müssen sehr sorgfältig darauf achten, dass das „größere Kind“ – die Theososphische Gesellschaft – nicht aus dem gleichen Grund Schaden erleidet. Schon einmal wurde ihr Wachstum in Zusammenhang mit den psychischen Phänomenen gehemmt, und es kann noch eine Zeit kommen, in der die moralischen und ethischen Grundlagen der Gesellschaft in ähnlicher Weise zerstört werden könnten. Jeder Gefährte der Gesellschaft kann zur Verhütung eines solchen Geschehens etwas tun, indem er die Theosophie zu einem lebendigen Faktor in seinem Leben macht – sie verwirklicht, ihre Prinzipien fest mit seinem Leben verschweißt – kurz, sie zu seiner eigenen Angelegenheit macht und die Theosophische Gesellschaft so behandelt, als ob er sie selbst wäre. Eng verbunden damit ist die Notwendigkeit der Solidarität unter den Gefährten der Gesellschaft, der Entwicklung eines Identitätsgefühls mit jedem und allen unseren Brüdern, so dass ein Angriff auf einen von ihnen als Angriff auf alle empfunden wird. Denn vereinigt und verschweißt in solch einem Geist der Bruderschaft und Liebe werden wir wie Archimedes, ohne Hebel zu benötigen, die Welt bewegen.

Wir brauchen alle unsere Kräfte, um den Schwierigkeiten und Gefahren um uns herum zu begegnen. Wir müssen äußere Feinde in Form von Materialismus, Vorurteil und Verbohrtheit bekämpfen; Feinde in der Form von Herkommen und religiösem Brauch; Feinde, zu zahlreich um sie aufzuzählen, aber fast so dicht wie die Sandwolken, die der sengende Schirokko in der Wüste aufwirbelt. Bedürfen wir nicht unserer ganzen Kraft gegen diese Feinde? Doch, es gibt noch heimtückischere Feinde, die „unseren Namen leichtfertig verwenden“ und die Theosophie zum Gegenstand der Verachtung im Munde der Menschen und die Theosophische Gesellschaft zur Zielscheibe der Verleumdung machen. Sie verleumden die Theosophen und die Theosophie und verwandeln Moral und Ethik in einen Mantel, mit dem sie ihre eigenen, selbstsüchtigen Zwecke verhüllen: Und als ob das nicht genug wäre, gibt es noch die schlimmsten aller Feinde – die aus den eigenen Reihen – Theosophen, die der Gesellschaft und sich selbst untreu sind. So leben wir in der Tat inmitten von Feinden. Vor und um uns liegt das „Tal des Todes“, und wir müssen unsere Feinde angreifen – vielmehr ihre Geschütze, wenn wir siegreich sein wollen. Die Kavallerie – Menschen und Pferde – kann trainiert werden, bei einem Angriff auf irdischem Feld fast geschlosssen zu reiten. Sollen wir nicht kämpfen und die Schlacht der Seele gewinnen, kämpfend im Geiste des Höheren Selbst, um unser göttliches Erbe zu erringen?

Lassen Sie uns für einen Augenblich auf das hinter uns liegende Gelände zurückblicken. Wir hatten uns, wie schon erwähnt, im Namen der Wahrheit und der Spirituellen Wissenschaft gegen die Spiritisten zu behaupten. Nicht gegen die Forscher des echten psychischen Erkennens, auch nicht gegen die aufgeklärten Spiritualisten; aber gegen die geringere Gruppe der Phänomenalisten – die blinden Verehrer illusorischer Gespenster der Toten. Diese haben wir um der Wahrheit willen und auch im Interesse der Welt, die von ihnen irregeleitet wurde, bekämpft. Ich wiederhole nochmals:Wir haben nie gegen die echten Forscher der psychischen Wissenschaften „gekämpft“. Professor Coues trug letztes Jahr in seiner Ansprache an die Westliche Gesellschaft für psychische Forschung viel dazu bei, unsere wirkliche Position deutlich zu machen. Mit offenen Worten schilderte er die wirkliche Bedeutung psychischer Studien, wobei er auch in hervorragender Weise nachdrücklich auf die Schwierigkeiten, die Gefahren und vor allem auf die Verantwortung bei der Beschäftigung mit diesen Dingen hinwies. Wie er zeigte, besteht – besonders in unbefugten Händen – nicht nur eine Ähnlichkeit zwischen einer solchen Beschäftigung und der Herstellung gefährlicher Sprengstoffe, sonder die Versuche werden – wie der Professor richtig sagte – an, mit und von einer menschlichen Seele ausgeführt. Wenn der Experimentator nicht durch ein langes und spezielles Studium sorgfältig vorbereitet ist, setzt er nicht nur die Seele des Mediums aufs Spiel, sondern auch seine eigene. Die zur Zeit mit Hypnose und Mesmerismus unternommenen Experimente sind Experimente unbewusster, wenn nicht bewusster schwarzer Magie. Der Weg zu einer solchen Vernichtung ist weit und breit; und er ist allzuleicht zu finden; und nur zu viele gehen unwissend auf ihm ihrer eigenen Vernichtung entgegen. Es gibt jedoch ein praktisches Mittel dagegen, und zwar den Weg des Studiums, den ich vorhin erwähnte. Es klingt sehr einfach, aber es ist äußerst schwierig, denn das Mittel heißt „ALTRUISMUS“. Er ist der Grundton der Theosophie und das Mittel gegen alle Übel; er ist das, was die wirklichen Gründer der Theosophischen Geselschaft als deren Hauptziel unterstützen: UNIVERSALE BRUDERSCHAFT.

So muss die Theosophische Gesellschaft, selbst wenn sie nur dem Namen nach eine Körperschaft von Altruisten ist, alle diejenigen bekämpfen, die unter ihrem Schutz magische Kräfte zu gewinnen suchen, um sie für ihre selbstsüchtigen Ziele und zum Schaden anderer zu verwenden. Viele traten unserer Gesellschaft nur aus Neugierde bei. Sie suchten nur psychologische Phänomene und waren nicht gewillt, ein Jota ihrer eigenen Vergnügungen und Gewohnheiten aufzugeben, um Erfolg zu haben. Sie gingen sehr schnell mit leeren Händen fort. Die Theosophische Gesellschaft ist nie eine Schule für verworrene theurgische Riten gewesen, noch wird sie es je sein. Es gibt jedoch Dutzende kleiner okkulter Gesellschaften, die sehr leichtfertig über Magie, Okkultismus, Rosenkreuzer, Adepten usw. reden. Sie beteuern vieles, sogar dass sie den Schlüssel zum Universum besäßen. Am Ende führen sie jedoch die Menschen an eine leere Wand, statt zum „Tor der Mysterien“.

Sie zählen zu unseren heimtückischsten Feinden. Unter dem Deckmantel der Philosophie der Weisheitsreligion gelingt es ihnen, einen mystischen Jargon zu schaffen, der sich zur Zeit wirkungsvoll erweist, und es ihnen mit Hilfe eines geringen Hellsehvermögens ermöglicht, zum Mystischen neigende, aber unwissende Aspiranten des Okkulten zu schröpfen und sie wie Schafe in fast jede Richtung zu führen. Zeugen dafür sind die jetzt berüchtigte H B. von L. und die jetzt berühmte G. N. K. R. 2 Aber wehe jenen, die unter dem Mantel der Theosophie eine edle Philosophie in einen Hort widerlicher Unmoral, selbstsüchtiger Macht und Geldgier umzuwandeln versuchen. Karma wird sie einholen, wenn sie es am wenigsten erwarten.

Aber kann unsere Gesellschaft bereitstehen und geachtet bleiben, wenn ihre Mitglieder nicht wenigstens in Zukunft vorbereitet sind, geschlossen zusammenzustehen und solche Verleumdungen über sich als Theosophen und eine solch schändliche Karikatur ihrer höchsten Ideale, zu der diese zwei sie gemacht haben, zu bekämpfen?

Um nun aber imstande zu sein, diese Arbeit im Interesse unserer gemeinsamen Sache wirksam zu gestalten, müssen wir alle privaten Differenzen begraben. Viele tatkräftige Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft wollen arbeiten und arbeiten hart. Der Preis für ihre Unterstützung ist jedoch, dass jede Arbeit auf ihre Weise und nicht auf die eines anderen getan werden soll. Und wenn das nicht so gemacht wird, verfallen sie wieder in Apathie oder verlassen die Geselschaft ganz, laut verkündend, sie seien die einzigen wahren Theosophen. Oder sie bemühen sich, wenn sie bleiben, ihre eigene Arbeitsmethode auf Kosten aller anderen ernsthaften Arbeiter zu verherrlichen. Das ist Tatsache, aber keine Theosophie. Es kann nicht anders enden, als dass das Wachstum der Gesellschaft bald in so viele verschiedene Sekten aufgesplittert wird, wie es Führer gibt, und ebenso hoffnungslos sinnlos, wie die 350 kuriosen, zur Zeit allein in Englang existierenden christlichen Sekten. Ist das eine Aussicht, auf die sich die Theosophische Gesellschaft freuen sollte? Ist diese „Zersplitterung“ mit dem gemeinsamen Altruismus der Universalen Bruderschaft vereinbar? Ist das die Lehre unserer Erhabenen MEISTER? Brüder und Schwestern in Amerika, die Entscheidung, ob es so kommen wird oder nicht, liegt in Ihrer Hand. Sie arbeiten und arbeiten hart. Aber bei der Arbeit für unsere große Sache ist es notwendig, alle persönlichen Meinungsverschiedenheiten über die anzuwendende Arbeitsweise zu vergessen. Lassen Sie jeden von uns auf seine eigene Weise arbeiten und uns nicht bemühen, unsere Arbeitsvorstellungen unseren Nächsten aufzuzwingen. Denken Sie daran, wie der Initiierte Paulus seine Briefpartner von einer sektiererischen Haltung in der frühen christlichen Kirche warnte: „Ich bin paulisch, ich bin apollisch“, und lassen Sie uns aus dieser Warnung Nutzen ziehen. Theosophie ist im Wesentlichen unsektiererisch und die Arbeit für sie dient als Eingang zum inneren Leben. Aber niemand kann dort eintreten, außer der Mensch im höchsten und aufrichtigsten Geist der Bruderschaft. Jeder andere Eintrittsversuch ist entweder aussichtlos oder wird schon an der Schwelle vereitelt werden.

Karma wird jedoch alle andere Meinungsverschiedenheiten schlichten. Über unsere tatsächliche Arbeit wird genau Buch geführt, und die verdienten „Löhne“ werden unserem Habenkonto gutgeschrieben. Aber ebenso genau wird über die Arbeit Buch geführt, von der jemand seinen Nächsten vielleicht abhielt, weil er persönlich Groll hegte. Glauben Sie, es wäre leicht, die Kraft der Theosophischen Gesellschaft, wie sie in der Person irgendeines ihrer Leiter repräsentiert wird, von der Ausführung der ihr bestimmten Arbeit abzuhalten? So gewiss es eine Karmische Macht hinter der Gesellschaft gibt, wird diese Macht den Ausgleich für ihre Behinderung erzwingen, und der Mensch, der ihr sein winziges Ich bei der Ausübung der ihr bestimmten Arbeit entgegenstellt, ist unbesonnen und dumm.

Darum also: „EINIGKEIT IST STÄRKE“; und aus diesem Grund müssen private Differenzen in der gemeinsamen Arbeit für unsere große Sache begraben werden.

Worin bestand nun unsere Arbeit im vergangenen Jahr? Bei uns haben wir mit Hilfe und im Auftrag des Gründungspräsidenten, Oberst Olcott, die Britische Abteilung der Theosophischen Gesellschaft organisiert. Anstelle einer Loge sind kleinere örtliche Zweige gebildet worden, die größere Wirkungskräfte bieten und Zusammenkünfte erleichtern. Was in Indien getan worden ist, haben Sie wahrscheinlich schon gehört. Und Sie haben gehört oder wissen, was in Ihrer eigenen Abteilung geleistet worden ist und wie sehr deren Stärke zugenommen hat.

Bezüglich der Medien zur Verbreitung unseres Wissens haben wir im Westen Luzifer, The Path und die T. P. S.-Schriften. Diese haben uns mit zahlreichen Personen in Verbindung gebracht, von deren Existenz wir sonst nichts erfahren hätten. Sie sind daher alle für die Sache notwendig, desgleichen auch der Versuch, die öffentliche Meinung mit Hilfe der allgemeinen Presse zu beeeinflussen. Ich bedauere, feststellen zu müssen, dass mehrere Mitarbeiter des Luzifer das Magazin und die Gesellschaft wegen eben solcher persönlicher Differenzen verlassen haben, wie sie oben angedeutet wurden, und sich jetzt nicht nur gegen mich persönlich, sondern auch gegen das Gedankensystem, das die Theosophische Gesellschaft vertritt, gewandt haben.

Wegen einer persönlichen Einstellung gegen Oberst Olcott hat sich auch der Lotus – die französische Zeitschrift – von der Theosophie getrennt;aber wir haben jetzt gerade La Revue Théosophique in Paris gegründet, um sie zu ersetzen. Sie wird von mir selbst herausgegeben und von der Herzogin d’fiAdhémar, einer amerikanischen Dame, geleitet, sie ist eine Freundin unseres Bruders Dr. Buck und wird von allen, die sie kennen, geschätzt und geachtet.

Wie viele von Ihnen wissen, haben wir die „Esoterische Abteilung“ gebildet. Ihre Mitglieder sind unter anderem verpflichtet, unter meiner Leitung für die Theosophie zu wirken. Wir haben uns bemüht, durch sie einige Solidarität in unserer gemeinsamen Arbeit zu sichern: eine starke Körperschaft zu bilden, die widerstandsfähig ist gegen Schädigungsversuche im Bereich der äußeren Welt und gegen Vorurteile über die Theosophische Gesellschaft und über mich persönlich. Mit ihrer Hilfe kann viel dazu beigetragen werden, um den in der Vergangenheit zugefügten Schaden an der Arbeit der Gesellschaft wieder gutzumachen und um ihre zukünftige Arbeit gewaltig zu fördern.

Ihren Namen würde ich gerne ändern. Die Bostoner Skandale haben den Begriff „Esoterisch“ völlig in Verruf gebracht; aber das ist eine Sache späterer Überlegung.

Unsere Hauptfeinde sind also, wie ich schon sagte: öffentliches Vorurteil und krasse Halsstarrigkeit einer materialistischen Welt, die starke „Persönlichkeit“ einiger unserer eigenen Mitglieder, die Verfälschung unserer Ziele und unseres Namens durch geldgierige Scharlatane, und vor allem die Abtrünnigkeit einstmals ergebener Freunde, die jetzt unsere erbittertsten Gegner geworden sind.

Jene weisen Worte, die Jesus in den Evangelien zugeschrieben werden, sind wahr. Wir säen unsere Samenkörner und einige fallen auf den Wegesrand und finden kein Gehör; einige fallen auf steinigen Boden, wo sie in einem Ausbruch emotionaler Begeisterung aufgehen und, da sie keine Wurzeln schlagen, bald absterben und „dahinwelken“. In anderen Fällen ersticken die „Dornen“ und Leidenschaften einer materialistischen Welt die Entwicklung einer ansehnlichen Frucht, die stirbt, wenn sie den „Lebensnöten und der Falschheit des Reichtums“ ausgesetzt wird; denn, leider, findet die Saat der Theosophie nur in wenigen Menschen guten Boden und trägt hunderfache Frucht.

Aber unsere Einigkeit ist und wird immer unsere Stärke sein, wenn wir unser Ideal der Universalen Bruderschaft bewahren. Der alte Spruch „in hoc signo vinces“ [unter diesem Zeichen wirst du siegen], sollte unsere Losung sein. denn unter seiner heiligen Flagge werden wir siegen.

Und nun ein letztes Abschiedswort:Meine Worte werden vergehen und mögen vergessen werden. Aber bestimmte Sätze aus den Briefen der Meister werden niemals vergehen, weil in ihnen die höchste praktische Theosophie verkörpert ist. Ich muss sie für Sie übersetzen:

„… Lasset nicht die Frucht guten Karmas Euer Motiv sein; denn da Euer Karma, ob gut oder schlecht, mit dem der gesamten Menschheit zusammenfällt und ihr gemeinsamer Besitz ist, kann Euch nichts Gutes oder Schlechtes widerfahren, das nicht von vielen anderen mitgetragen wird. Daher kann Euer Motiv, wenn es selbstsüchtig ist, nur eine doppelte, eine gute und eine schlecht Wirkung erzeugen; es wird entweder Eure gute Tat unwirksam machen oder sie einem anderen zugutekommen lassen.“ … „Es gibt kein Glück für einen Menschen, der immer an sich selbst denkt und alle anderen Selbste vergisst.“

„Das Universum stöhnt unter der Last solcher Handlung (Karma), und nichts anderes als selbstaufopferndes Karma erleichtert sie … Wieviele von Euch haben der Menschheit geholfen, auch nur ihre leichteste Bürde zu tragen, dass Ihr Euch alle als Theosophen ansehen dürftet. O Menschen des Westen, die Ihr Euch als Retter der Menschheit aufspielen wollt, ehe Ihr nicht einmal das Leben einer Schnake schont, deren Stachel Euch bedroht! Wollt Ihr göttlicher Weisheit teilhaftig werden oder wahre Theosophen sein? Dann handelt wie die Götter, wenn sie inkarniert sind. Fühlt Euch als Träger der ganzen Menschheit, empfindet die Menschheit als einen Teil von Euch selbst und handelt entsprechend ….“

Das sind goldene Worte; mögen Sie sie in sich aufnehmen! Das ist die Hoffnung derjenigen, die aufrichtig und als ergebene Schwester und Dienerin eines jeden echten Anhängers der theosophischen Meister unterzeichnet.

Brüderlich, Ihre
H. P. BLAVATSKY

 

Fußnoten

1. [Im Mai 1875 versuchte Oberst Olcott „ein privates Forschungskomitee unter dem Namen ‘Mirakel-Club’“ zu organisieren, das psychische Phänomene studieren sollte. Der Plan misslang. In ihrem Scrap-Books (Band I, S. 27) schrieb H. P. Blavatsky, dass dieser Versuch auf Weisungen unternommen worden war, die sie zu dieser Zeit erhalten hatte, „um der Öffentlichkeit die Wahrheit über die Phänomene und ihre Medien zu sagen“. Siehe Old Dairy Leaves, Band 1, S. 25; auch H. P. Blavatsky: Collected Writings, Band I, S. 88–9, – K. V. M.] [back]

2. [„H. B. von L.“ ist die Abkürzung von „Hermetic Brotherhood of Luxor“, eine pseudo- „esoterische“ Gesellschaft, die etwa 1884 in England aufkam und sich später nach Amerika ausbreitete. „G. N. K. R.“, deren Initialen „Genii of Nations, Knowledge(s), and Religion(s)“ bedeuten, war eine weitere Schwindelorganisation, die in der Bostoner und New Yorker Presse Februar 1889 als betrügerisch entlarvt wurde. Siehe „Astral Plague and Looking-Glass“ von G. R. S. Mead, Lucifer, September 1889, S. 54–64, und auch The Path, August 1889, S. 150–152. – K. V. M.] [back]