Evolution & Schöpfung
W. T. S. Thackara
III – Eine theosophische Synthese
Das netto Ergebnis der Untersuchung jeder beliebigen wissenschaftlichen Theorie oder religiösen Lehre, welche behauptet, den Ursprung des Universums und des Menschen zu erklären, ist die Erkenntnis, dass das Universum weit mehr verbirgt als es offenbart und dass dogmatische Ansprüche öfter tiefere Einsichten behindern. Es ist noch nicht lange her, dass ‘vergleichende Religionen’ die Bedeutung hatten, die Überlegenheit der eigenen Religion darzustellen, indem ihre besten Merkmale den schlechtesten der anderen gegenüber gestellt wurden. Eine weitaus bessere Methode besteht darin, das Beste mit dem Besten zu vergleichen und zu versuchen, jede Tradition als eine Fläche eines Diamanten zu betrachten, wobei jede dazu beiträgt, das innere Feuer des Jewels vollständiger zu reflektieren, zu verstärken und zu offenbaren. Diese Methode ist besonders bei dem Versuch hilfreich, die ursprünglichen Lehren einer Tradition festzustellen, die aufgrund der Unvollkommenheiten der menschlichen Natur und der erodierenden Kräfte von Zeit und Politik beinahe ausnahmslos mit einer trüben Kruste konventioneller Auslegung überdeckt werden.
Wenn die Weltreligionen mit einem gemeinsamen Faden der Weisheitslehren vereint sind, dann könnte man erwarten ein Glitzern von jenem inneren Feuer zu finden, das sich in ihnen allen widerspiegelt. Das ist die Erfahrung von vielen, die ein solches Studium unternommen haben. Joseph Campbell zum Beispiel baute auf den Archetypen des kollektiven Unbewussten von Carl Jung und seinen eigenen intensiven Studien auf und kam zu dem Schluss, dass es nur „eine Weltmythologie“ gibt, wobei jede Kultur sie in ihrem eigenen einzigartigen Zyklus von Erzählungen variiert. Auf gleiche Weise haben Steuch, Leibniz, Huxley und andere über die „immerwährende Philosophie“ geschrieben, die den größten gemeinsamen Nenner bei der Vereinigung der spirituell-philosophischen Traditionen der Welt darstellt. Diese vereinigenden Fäden sind erkennbar, weit verbreitet und gut dokumentiert und zeigen, dass keine Religion ein Monopol auf Wahrheit besitzt, sondern dass jede eine Ausdrucksweise unseres universalen spirituellen Erbes ist.
Viele Traditionen erzählen eine Geschichte, die mit dem namenlosen Mysterium beginnt und endet, in dem die gesamte Schöpfung und Evolution stattfindet. „Das Tao, das beschrieben werden kann, ist nicht der ewige Weg … Namenlos ist die Quelle des Himmels und der Erde“ (Tao Te King). Um uns bei der Vorstellung von Jenem behilflich zu sein, in dem „wir leben uns bewegen und unser Dasein haben“, hat es die Theologie Gott oder Höchstes Wesen genannt. Um uns dabei zu helfen, hinter die Stereotypen zu gelangen, bezeichnet es die Theosophie als eine abstrakte Sein-heit: ein allgegenwärtiges, ewiges, grenzenloses, unveränderliches Prinzip, das – wie die Idee des Guten von Plato – „jenseits des Seins“ liegt und sie fügt hinzu, dass es „die Quelle und der Ursprung von Kraft und allem individuellen Bewusstsein ist und die leitende Intelligenz in dem weiten Plan kosmischer Evolution darstellt“ (Die Geheimlehre 1:43; The Secret Doctrine 1:15). Dennoch schafft oder evolviert Es oder Jenes kein einziges Ding – etwas, das nur einem endlichen Wesen zugeschrieben werden kann. Vielmehr emanieren aus seiner abstrakten essenziellen Bewusstsein-Substanz die Scharen von intelligenten Kräften, eine beinahe Unendlichkeit von Architekten und Bauleuten, deren Aufgabe die Gestaltung und Entwicklung des manifestierten Universums ist.
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ – so wird in der Sprache der jüdisch-christlichen Theologie gesagt und behauptet, dass Gott alles aus dem Nichts schuf. Die jüdische Theosophie bringt das ursprüngliche Hebräische wieder etwas anders zum Ausdruck, weitet es aus und deutet darauf hin, was mit dem Nichts oder ‘Kein-Ding’ gemeint ist. Gemäß dem berühmten Gelehrten des jüdischen Mystizismus des 20. Jahrhunderts, dem verstorbenen Gershom Scholem
stellt der Zohar und tatsächlich die Mehrheit der alten Kabbalisten die Bedeutung des ersten Verses der Torah – Bereshith bare Elohim, „Am Anfang schuf Gott“ – in Frage; was bedeutet das eigentlich? Die Antwort ist ziemlich überraschend. Es wird uns gesagt, es bedeute Bereshith – durch das Medium des „Anfangs“, das heißt durch jene ursprüngliche Existenz, die als die Weisheit Gottes definiert wurde – bara, schuf, was heißt, dass das verborgene Nichts, welches das grammatische Subjekt des Wortes bara bildet, emanierte oder entfaltete – Elohim, das heißt seine Emanation ist Elohim. Es ist das Objekt und nicht das Subjekt des Satzes … Elohim ist der Name, der Gott gegeben wurde, nachdem die Entkoppelung von Subjekt und Objekt stattgefunden hatte, wobei jedoch diese Kluft unaufhörlich überbrückt oder geschlossen wird. Das mystische Nichts, das vor der Teilung der ersten Idee in den Erkennenden und das Erkannte liegt, wird von den Kabbalisten nicht als das wahre Subjekt betrachtet. Die niederen Bereiche der Manifestation Gottes bilden den Gegenstand der ständigen menschlichen Überlegung, aber die höchste Ebene, welche die Meditation überhaupt erreichen kann … kann nicht mehr sein als ein gelegentlicher oder intuitiver Blitz, der das menschliche Herz erleuchtet … .
– Major Trends in Jewish Mysticism, S. 221
Wenn diese Interpretation in einem einzigen grammatischen Satz zusammengefügt wird, könnte Bereshīth bārā elohīm so wiedergegeben werden: „Am Anfang emanierte oder entfaltete durch das Medium der ursprünglichen Weisheit das verborgene Nichts die Elohīm“, die dann den Himmel und die Erde gestalteten. Ungeachtet seiner Verwendung mit Singular-Zeitwörtern in der gesamten hebräischen Bibel ist Elohim trotzdem ein Plural-Hauptwort und kann in der Bedeutung eines kollektiven Aggregats oder Pantheons von kreativen Kräften interpretiert werden, wie unverhohlen in Genesis 1, 26 und 3, 22 angedeutet wird („Und Elohim sagte: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich“) und implizit in Hiob 38, 4-7, wo über den Ratschluss der Götter berichtet wird, die bei der Schöpfung anwesend waren.
Die Idee der Pluralität ist in den ältesten Texten der mandäischen Theosophie erhalten, die aus der gleichen Strömung stammt, die der alten jüdischen Esoterik zugrunde liegt. Die Mandäer (die ‘Wissenden’, die auf Johannes den Täufer als einen ihrer ‘gekrönten’ oder initiierten Priester Anspruch erheben), die vor mehr als 1 800 Jahren von Jerusalum in das südliche Mesopotamien emigrierten, verweisen auf das höchste göttliche Prinzip als Hiia, „Großes Leben“ – sowohl die ursprüngliche Quelle als auch die kreative und erhaltende Kraft von allem im Universum. Das Große Leben wird als Nukraiia beschrieben, buchstäblich „als andere“ im Sinne von „weit weg, unbegreiflich, unaussprechlich“. Aufgrund seines Mysteriums sprechen die Mandäer darüber im unpersönlichen Plural – das Große Leben ist nicht ein „Er“ oder „Es“, sondern ein abstraktes „Sie“. Aus dem Großen Leben emaniert die belebende duale Kraft von Strahlung-Bricht-Hervor und Denkvermögen, die in der Folge ihren Sohn Yamar („Blender“ oder „Erwecker“) hervorrufen und ausstrahlen und ihn und seine Brüder mit der schöpferischen Arbeit der Wiedererschaffung des Kosmos beauftragen. Man bemerke, dass sie ein wiedererschaffende Kraft haben, was den Samen eines früheren Universums impliziert. Das Große Leben, das den Lehren zufolge früher für Anwärter reserviert war, ist in dem zyklischen kosmischen Drama nacheinander aktiv und passiv: Nach dem Zurückziehen in einer Periode der Untätigkeit manifestiert es (oder „sie“) sich erneut in den zwei großen Lebenskräften und in der erneuten Schöpfung des Universums – was jährlich auf unserem irdischen Globus in Korn, Halm, Blatt und Frucht nachgespielt wird. Wie oben, so unten. 1
In den sumerisch-babylonischen Traditionen, auf denen die Genesis bekanntlich beruht, ist die Schöpfung die Aufgabe von verschiedenen Gottheiten, welche die Himmel und die Erde aus präexistierender Substanz gestalteten. Beim Vergleich der jüdischen und babylonischen Schöpfungsgeschichten bemerkt der mesopotamische Gelehrte Alexander Heidel, dass Schöpfung des Universums◊√ einschließlich der Materie aus einem vakuumartigen Nichts durch den höchsten Willen und die Kraft Gottes „nicht vom hebräischen Zeitwort bārā, ‘schöpfen’, abgeleitet werden kann … es gibt keinen eindeutigen Beweis im gesamten Alten Testament, dass das Zeitwort selbst jemals die Idee einer Schöpfung aus dem Nichts zum Ausdruck bringt. … [Es stellt nur] eine Assoziation dar, die als bārā gelesen wurde (The Babylonian Genesis, 1963, S. 89-90). Gleicherweise ist die Identifizierung von Elohīm mit Yahweh (Jehovah) eine Assoziation, welche schließlich die ursprüngliche und weit philosophischere Bedeutung des Begriffs als einer Pluralität der schöpferischen Kräfte ablöste und verbarg. 2
Die Bedeutsamkeit dieser Verstellungen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn ihr Gegensatz – die Vorstellung eines einzigen maskulinen eifersüchtigen Gottes, der unschuldige Seelen ex nihilo ohne eine vorherige Existenz, bestimmt zu Ungleichheit, Ungerechtigkeit und unverdientem Leid, schafft – hat nur dazu gedient, „Materialismus und Atheismus als einen Protest gegen die angebliche göttlichen Ordnung der Dinge“ (Geheimlehre 1:205; The Secret Doctrine, 1:183) hervorzurufen. Hätten die Priester und Theologen geradeaus erklärt, dass Elohīm ein Plural-Hauptwort ist; hätten sie die biblischen Querverweise als Schilderung erwähnt, die aussagen, dass wir Menschen in unserer innersten Essenz auch Elohīm sind, weil wir von ihnen abstammen, wie Jesus es tat, als er sein Volk daran erinnerte: „Heißt es nicht in eurem Gesetz. Ich habe gesagt, Ihr seid Götter?’“ 3; hätten sie die allegorische Natur der Schriften betont und dass die Mysterien und die verborgene Weisheit Gottes letztendlich erfassbar sind 4; und wären sie – indem sie der Versuchung, tief metaphysische Vorstellungen zu stark zu vereinfachen, standhalten – zu den alten esoterischen Wurzeln zurückgegangen und hätten sie vielleicht die schöpferischen Götter mit einem Chor verglichen, wie es im Buch Iiob (38, 7) und in der Tradition der Navajoindianer heißt, wo die „Heiligen“ das Universum in die Existenz singen, dann könnte die Kontroverse um Schöpfung-Evolution weit weniger polarisiert und trennend sein und und für denkende Forscher lediglich ein kleines Hindernis darstellen. Gemeinsam mit dem kraftvollen Zeugnis von Planung in der Natur läge hier zumindest eine Basis für einen zusammenhängenden spirituellen und wissenschaftlichen Dialog über unsere Ursprünge und Abstammung und über die wichtigeren Themen von Bedeutung, Sinn, Gerechtigkeit und Mitleid.
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Die Geschichte über die Schöpfung und die Evolutionsreise der Seele ist von Völkern überall auf der Welt unzählige Male nacherzählt worden. Mythen haben die Aufgabe Gedächtnistützen und Befreier vergessene Wahrheiten zu sein. Und eine sehr kompakte Version, eine moderne Nacherzählung eines Mythos der Aborigines, die sich hier auf das Essenzielle beschränkt, ist sehr vielsagend. 5 Uns dann in die Stille unserer Imagination zurückziehend, in die Abgeschiedenheit der Wüste im australischen Outback, erhellt vom Lagerfeuer und beschützt von den Sternen, hören wir erneut die zeitlose Erzählung:
Lange, lange Zeit vor unserem Traum hatte die Erde zu unseren Füßen keine Form, sie war farblos, es gab kein Licht, nichts wanderte auf ihr. Sie war Staub ohne Wasser, kein Strom floss, die Erde war leer. In die Dunkelheit kamen die Birirrk. Sie kamen von weither und zogen ihre Spuren auf dem Boden. Die Birirrk waren unsere großen spirituellen Ahnen. Ihre Spuren auf der Erde bezeichneten die Traumpfade und färbten sie mit Licht und Schatten.
Die Birirrk konnten in den Felsen eindringen. Sie bliesen auf seine Oberfläche und die Felsen öffneten sich um ihnen Einlass zu gewähren. Aus dem Staub formten sie unsere Berge und auf dem Land machten sie große Flüsse. Nach dieser Arbeit machten die Birirrk die Tiergestalten, um in ihnen zu leben. Mit dem Wasser kamen das Gras und die Bäume und die Tiere, um das Gras zu fressen, um unter den Bäumen Schutz zu suchen und an den Flüssen zu trinken. Die Birirrk gestalteten die Formen der Wasserlilien und der Süßkartoffel. Sie zeigten ihren Kindern, unserem Volk, wie man Süßkartoffeln findet und isst und sagten: „Das sind Süßkartoffeln. Süßkartoffeln sind auch Menschen.“
Als all das geschaffen war, lehrten die großen Vorväter ihre Kinder, unser Volk, über die Gestalt des Kängurus. „Kängurus sind auch Menschen.“ Als das Licht den Himmel erfüllte, machten die Birirrk die Formen der Vögel und lehrte sie zu fliegen. „Sie sind auch Menschen,“ erzählten sie uns.
Sie zeigten uns die Holzkohle aus dem Feuer ihrer großen Traumpfade und sagten uns: „Mit diesen Farben könnt ihr das Träumen erhalten. Wir werden bald gehen, jedoch mittels eurer Lieder und Tänze, eurer Malerei und euren Erzählungen zu den Traumplätzen zurückkehren“.
Die Birirrk verschwanden. Sie wurden die Wasserlöcher, Hügel, Flüsse und Felsen der Erde, unserer Mutter. Sie hinterließen die Erzählungen des Kanubauens und die Unterweisung unserer Kinder. Diese Erzählungen sind in der Erde. Sie bilden die Gesetze, die wir bewahren müssen und die uns bewahren.
Die Birirrk, unsere Ahnen, sind in der Erde, unserer Mutter. Sie sind in uns und in unseren Kindern bei den Traumplätzen. Diese Felsen und Hügel, diese Flüsse und Wasserlöcher sind unsere großen Ahnen. Sie sind die Birirrk, unser Geist.
Diese wunderbare Version ist umso interessanter, weil ihre Vorstellung so uralt ist. Gleich der Genesis fängt sie am Anfang an, als die Erde formlos war, „leer“ und ohne Licht. Dennoch wurde die Erde nicht aus dem Nichts geschaffen, sondern aus einem ursprünglichen „Staub“ von göttlichen Wesen, die von „weither“ kamen und die Traumpfade über die ätherischen Spuren unserer vorembryonalen Erde anlegten. Sie malten Licht und Schatten in ihre Silhouette, sie belebten die Elemente, hauchten ihnen Leben ein, traten in sie ein und wurden sie tatsächlich. Und so geschah es auch mit dem Wasser. Die Birirrk projezierten die Formen der Lebewesen („Tiere“), der Wasserkreaturen, um in den Flüssen zu leben. Und mit dem Wasser kamen auch die Pflanzen und die Fauna. Man erkennt hier eine evolutionäre Biologie, die aus dem ersten Anstrich von intelligentem Licht emaniert, das bewusst das Universum erträumt.
Dann kommt eine außergewöhnliche Aussage: Nach der „Gestaltung der Formen“ von Wasserlilien und Süßkartoffeln sagten die Birirrk: „Süßkartoffel sind auch Menschen.“ Kängurus sind auch Menschen, genauso wie die Vögel. Obwohl die Tradition der Aborigines die Reinkarnation lehrt, beinhalten diese Feststellungen nicht die Reinkarnation von Menschenseelen in die niederen Reiche, sondern deuten auf etwas anderes hin. Die Erzählung spricht hier sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit: Pflanzen, Beuteltiere und Vögel sind Menschen und – noch feinsinniger – „die Menschen“ – unser Volk, die Kinder der Götter – waren hier von Anfang an.
Die Theosophie bietet einen umfassenden erklärenden Zusammenhang für diese essenzielle Ideensammlung und verwendet häufig Beispiele aus den verschiedenen Traditionen, sowohl um ihre Bedeutung zu veranschaulichen als auch um ihre Universalität darzustellen. Wie bei der Hindulehre über die Tage und Nächte Brahmās, dessen ‘Tag’ eine Spanne von mehr als 4 Milliarden Jahren umfasst, gefolgt von einer ebenso langen Nacht, wird über unser Universum gesagt, dass es nur eines in einer unendlichen Reihe ist, die in endloser Dauer zyklisch zwischen Aktivität und Ruhe wechseln. Da das Universum sein eigener Vorfahre ist, bringt jedes Universum aus seinem Bewusstsein und seiner Substanz den Samen und das Denkmuster für alle seine Reiche hervor – vom Elementalen zum Menschen und zum Göttlichen. Zu der Zeit der letzten universalen Auflösung wurden die Lebenssamen, die diese Reiche eingekapselt hatten, an Bord des ‘Schiffes des Wissens’ verfrachtet. Wie die Arche Noahs durchkreuzte es die Fluten des Chaos, bis Brahmā wieder erwachte und die Erde erneut für einen neuen evolutionären Zyklus erstand. Die Gottheit, sich als die Dreieinigkeit von Brahmā-Vishnu-Śiva manifestierend, brachte eine Reihe von kreativen Impulsen hervor, die von den zehn Avatāras oder ‘Nachkommen’ Vishnus dargestellt werden. Diese inkarnierten als Fisch, Reptil, Säugetier und schließlich als Menschen von zunehmend wachsendem Selbstbewusstsein und streben immer danach, eine vollkommenere Menschheit zu gestalten – genauso wie die Menschen immer danach streben, in der Substanz, im Denkvermögen und im Geist gottähnlicher zu werden: ein dreifaches evolutionäres Schema.
In all diesen Traditionen, ob offen gelehrt, mittels Hinweisen oder im Verborgenen, ist der ‘Mensch’ das Alpha und Omega, der Anfang und das Ende, denn der Mensch hat immer existiert. Die Menschheiten von früheren Universen haben dem Gewebe des Denkvermögens der Natur ihre Prägung hinterlassen und liefern die architektonischen Kräfte, die nicht nur den modernen Menschen gestalten, sondern das gesamte sich entwickelnde Leben. Als eine evolvierende Art erschien der ‘Mensch’ zu Beginn unseres gegenwärtigen Weltzyklus und aus seinen frühen prototypischen Formen – auf den ätherischen Spuren unseres Gartenplaneten nur umrissen – gingen alle geringeren Reiche, die unsere Erde bevölkern, hervor und evolvierten. Aus diesem Grund wird gesagt, dass der Mensch der Ursprung und die Quelle aller unter ihm befindlichen Reiche ist, die Wurzel und der Stamm des Lebensbaums, wenn nicht der Baum selbst – ein Mikrokosmos im Makrokosmos. Das ist eine Lehre, die in den Traditionen überall auf der Welt wiedergegeben wird und uns innehalten lässt, um über das Warum nachzusinnen. 6
Der Abstieg des Geistes in die Materie und der Aufstieg der Materie zum Geist, Involution und Evolution, bilden ein fundamentales Thema der immerwährenden Philosophie: den ‘Fall’ von Engeln und Menschen, von Adam und Eva, gekleidet in ‘Häute aus Fell’, von Christus, der in die Unterwelt absteigt, von Prometheus, der die werdende Intelligenz entfacht, von dem steilen und rauhen Aufstieg aus der Höhle der Unwissenheit, von der Suche nach dem heiligen Graal – die ewige Wiederkehr des ‘großen antiken Herzens’, die mystische Vereinigung und Kameradschaft mit unserer inneren Göttlichkeit – von Samadhi, Erleuchtung, Nirvana und Paranirvana – nur erlangt, um aufgegeben, jedoch innerlich als eine leitende mitleidsvolle Weisheit zum Wohl aller beibehalten zu werden.
Nach der theosophischen Tradition begann die Geschichte unserer eigenen Individualität mit dem Wiedererwachen des Univesums – als erneut das Eine die vielen hervorbrachte – und sich der majestätischeren Behausungen erinnerte, die jeder von uns erbauen kann. Woge nach Lebenswoge von monadischen Wesen strahlte in einem klangvollen „Es-werde-Licht“ hervor, durch Verkörperung um Verkörperung die Unendlichkeiten von Tempeln, Naturreichen und Welten planend und gestaltend – alle erbaut ohne den Klang eines Hammers, einer Axt oder Metallwerkzeugs. Deshalb die Sufilehre:
Ich starb als Mineral und wurde eine Pflanze,
Ich starb als Pflanze und stieg auf zum Tier,
Ich starb als Tier und war ein Mensch.
Als Menschen erreichen wir ein Gleichgewicht, eine Balance von Geist und Materie und einen Wendepunkt in unserer Evolution. Angefeuert von einem erwachenden Selbstbewusstsein und der befreiten Kraft der willentlichen Wahl entdecken wir nicht nur die Macht des Denkvermögens, sondern auch den Zeitbegriff: eine Vergangenheit, die wir irgendwie geschaffen haben, und eine Zukunft, die von uns zu gestalten ist – vielleicht eine erschreckende Aussicht, verspürten wir nicht die helfende und leitende Gegenwart jener, die diesen alten und ewigen Pfad bereits gegangen sind. Der Dichter fährt fort:
Warum sollte Angst ich haben, wann war ich geringer durch Sterben?
Und doch werd’ ich wieder sterben als Mensch, um zu segeln
mit den gesegneten Engeln; aber sogar aus Engelschaft
muss ich weitergehen …
– RUMI, Mathnawī
In der theosophischen Philosophie gibt es keine Wunder oder kein Eingreifen, welche die Gesetze des Universums aufheben. Wir ernten, was wir säen, und weder Menschen noch Götter können das verändern. Aber wir können unseren Kurs und unser Schicksal zu jeder Zeit ändern, denn wir haben die Kraft uns etwas vorzustellen und intelligent zu wählen; und so können wir mithelfen, eine bessere, weisere und mitleidsvollere Zukunft für uns alle zu schaffen und zu evolvieren. Was den Menschen zum Menschen macht, definiert eigentlich das Wort an sich. Es hat nichts mit dem Geschlecht zu tun, es stammt von dem Sanskrit Zeitwort man, „denken“. Aber als Verbindung von Erde und Sternenhimmel sind wir weit mehr als unser Intellekt, unsere Begierden oder sogar unsere edelsten Inspirationen. Als Emanationen – Nachkommen – jenes namenlosen Mysteriums, das jenseits unseres menschlichen Fassungsvermögens liegt, haben wir in uns – immer und ewig entfaltend – jenes unendliche Nicht-Ding, genannt Erinnerung und Möglichkeit: die Erinnerung, was wir essenziell sind und werden können, und die Möglichkeit, unsere evolutionäre Verpflichtung kreativ zu erfüllen.
Wenn wir in die Zukunft schauen – nicht nur zu dem weiten Horizont der wissenschaftlichen und spirituellen Imagination, sondern auf die direkten Realitäten, die sich täglich vor uns entfalten –, dann helfen uns die Erzählungen über unseren Ursprung, unsere Abstammung und unser inneres Potenzial, das in den Mittelpunkt zu stellen, was in unserem Leben am wichtigsten ist, die Werte, die während unseres gesamten Wachsens und Veränderns, unseres Lebens und Sterbens bestehen. Wenn unsere evolutionäre Reise – wie gesagt wird – mit Liebe beginnt und mit Weisheit endet, wie das Wort Philosophie impliziert, gibt es doch noch eine andere grenzenlose Qualität, vertieft und verstärkt durch das zunehmende Bewusstsein der Einheit des Lebens. So wie die alten Mysterien die „Vereinigung und Freundschaft mit Gott“ als die Frucht der höchsten Initiationsriten erkannten, so drücken es Buddhisten in menschlicheren Worten aus: das erleuchtete Ideal, personifiziert durch den künftigen Buddha, genannt Maitreya, dessen Name „Freund“ bedeutet. Wie Sokrates andeutete, müssen noch viele lernen – und vertrauen –, dass „keine Gottheit jemals den Menschen schlecht gesinnt ist“, noch geschieht jemals irgendeine Handlung ihrerseits aus Unfreundlichkeit. Wenn alles gesagt und getan ist, ungeachtet, was wir in einem einzigen Leben oder in einer Ewigkeit von Leben vollbringen oder nicht, haben wir alle die Macht, ein Freund und Bruder zu sein: eine rücksichtsvolle, fürsorgliche Gegenwart für jeden und alle in dieser gewaltigen, herausfordernden, unvollkommenen, jedoch immer harmonischen Symphonie des universalen Lebens.
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Zu weiteren Studienzwecken siehe die angegebenen Werke und Websites; ebenso Fundamentals of the Esoteric Philosophy von G. de Purucker. Zusätzlich zur theosophischen Literatur (auch online verfügbar unter theosociety.org) werden zwei Websites und ihre entsprechenden Links empfohlen: talkorigins.org (Darwinian evolution) und arn.org (intelligent desing – intelligente Planung).
Fußnoten
1. E. S. Drower, The Secret Adam: A Study of Nasorean Gnosis, 1960, S. 1-11, 88-9; Canonical Prayerbook, 1959, S. 252-60; The Thousand and Twelve Questions, 1960, S. 5.
Bei der Betrachtung der älteren kanaanitisch/ugaritschen Tradition, wo Yaw der Sohn von El ist, „erzählt“ das Deuteronomium 32, 1-9 „wie Yahweh [Jehova] – als El Elyon (‘El, der Höchste’) die Nationen zwischen seinen Söhnen aufteilt – Israel als sein Teil erhielt (Norman Cohn, Cosmos, Chaos, and the World to Come, 2001, S. 132). Yaw, Yawar und Yahweh teilen darüber hinaus typische Parallelen mit dem babylonischen Ea („Ehyah“ ausgesprochen), dem weisen und mächtigen Sohn des hohen Gottes Anu, „gezeugt nach seinem Ebenbild“, der „unter den Göttern, seinen Brüdern, keinen Rivalen hatte“ (Enuma elish 1.16-20). [back]
2. Siehe auch Margaret Barker, The Great Angel: A Study of Israel’s Second God, 1992. [back]
3. Johannes 10, 34; 14, 12 und Psalm 82, 6: „Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter, ihr alle seid Söhne des Höchsten.“ [back]
4. Zohar 3:152a; Origenes, De Principiis, iv.i.16; Maimonides, Guide for the Perplexed, pt. ii, Kap. 29, S. 211; Markus 4, 10-12, 1 Korinther 2, 7; und Thomas-Evangelium 5. [back]
5. Zusammenfassung aus The Birirrk: Our Ancestors of the Dreaming, erzählt von Gulpilil, L&S Publishing, Cheltenham, Australia, 1983. [back]
6. Siehe den hinduistischen Purusha-Prajāpati-Nārāyana-Brahmā, den ägyptischen Atum, den jüdischen Adam Kadmon, den mandäisch-nasoräischen Adam Qadmaia, den Vater Rabe der Eskimos und so weiter. Sie deuten auf ein anthropomorphes Prinzip hin oder bringen es zum Ausdruck, das von den meisten anthropomorphen Göttern repräsentiert wird. Diese scheinbare entgegengesetzte Evolution, die den „Menschen“ als den gemeinsamen Ahnen der Reiche unter ihm plaziert, ist ein zu weitläufiges und schwer verständliches Thema in diesem kurzen Aufsatz. Für eine vollständigere Behandlung werden die Leser auf Die Geheimlehre, Band 2, und auf Man in Evolution von G. de Purucker verwiesen. [back]