Vorwort

[Evolution und Schöpfung wurde ursprünglich im Jahr 2003 als eine dreiteilige Artikelserie in der Zeitschrift SUNRISE publiziert und wird nun in einer etwas überarbeiteten Version neu herausgegeben. SUNRISE, das seit 1951 „für mehr Verständnis unter den Menschen“ veröffentlicht wird, bietet weiterhin theosophische Perspektiven über einen weiten Bereich religiöser, philosophischer und wissenschaftlicher Themen und ihre Anwendbarkeit im täglichen Leben. Für diejenigen, für die das theosophische Denken oder SUNRISE neu ist, sind vielleicht die folgenden Kommentare des Gründers und Herausgebers von Sunrise, James A. Long (1898-1971) hilfreich; sie treffen heute genauso zu wie damals, als sie vor beinahe 50 Jahren geschrieben wurden.

– W. T. S. T.]

Sunrise wurde nicht mit dem Ziel gegründet, eine Idee oder ein System von Ideen zu „verkaufen“, sondern in der ernsthaften Hoffnung, dass die Menschen, die suchen, ein gedankenreiches Medium für einen Austausch finden können, wobei wir gemeinsam jene dauerhaften Grundvorstellungen erforschen können, die das spirituelle Bollwerk der Zeitalter bilden. Schließlich wachsen Zivilisationen und werden stark und groß als Ergebnis eines sich erweiternden Bewusstseins; ebenso gehen Zivilisationen unter und verfallen als Ergebnis eines sich verengenden Bewusstseins. Es ist die Aufgeschlossenheit – was auch immer die Glaubensrichtung oder die Philosophie, der Glaube oder Nicht-Glaube –, welche die spirituelle Gesundheit der Menschheit sicherstellt.

Im Laufe der Jahre haben wir über verschiedene Themen diskutiert, die den meisten heiligen Schriften gemeinsam sind. Man kann fragen, was eigentlich der Wert eines Wissens um all diese Dinge ist? Helfen sie uns, besser zu leben; oder noch wichtiger – verschaffen sie uns Stärke und eine Vision, um dem Druck eines komplexen Zeitalters zu begegnen? Wir werden den Anschluss völlig verpassen, wenn wir es uns gestatten, nur von der intellektuellen Faszination gefangen genommen zu werden, die verschiedene Aspekte dieser alten Traditionen haben, denn darin liegt nicht ihr Ziel. Diese heiligen Schriften wurden für die Nachwelt nicht einfach deshalb bewahrt, um unseren intelektuellen Gaumen zu kitzeln. Sie wurden periodisch herausgegeben, von Zeitalter zu Zeitalter, weil es hinter jedem Aspekt universaler Arbeitsvorgänge ein ethisches Konzept gibt, das wir nicht nur erkennen, sondern in unserem täglichen Leben veranschaulichen müssen.

All das weist auf die Tragödie hin, dass wir während vieler Jahrhunderte die umfassende Sichtweise nicht gesucht haben – nicht nur die der Struktur des Universums, sondern deutlicher die des einmaligen, jedoch natürlichen Platzes der Menschheit in einem größeren Schicksalsmuster. Wir sind aufgrund falscher Erziehung gewohnt zu denken, wir seien Würmer im Staub und nicht potenzielle Götter. Wir wurden nicht über die natürliche Zusammenarbeit, die in allen Naturreichen über und unter dem menschlichen existiert, unterrichtet, und dass das Menschenreich die Wege und Mittel neu entdecken muss, um im Laufe der Zeit ein selbstbewusster Mitarbeiter der Natur zu werden. Mit anderen Worten wir wurden nicht erzogen, die Tatsache zu verstehen und mit ihr zu arbeiten, dass Bruderschaft Natur in Tätigkeit ist und dass Natur Bruderschaft ist. Sobald die Völker der Erde das Getrenntsein, das sie auseinander zu reißen droht, überwinden und wirklich mit der Tatsache der Bruderschaft arbeiten, werden wir erkennen, dass die Zeit nicht weit weg sein muss, in der wir einen durchführbaren Frieden und eine durchführbare Eintracht unter den verschiedenen, aber nicht getrennten Völkern des Globus voraussehen können.

Die Grundstruktur der alten Traditionen umfasst sowohl die tiefgründigste Philosophie als auch die reinste Ethik. Im Herzen von allem ist Göttlichkeit – innerhalb, außerhalb, oberhalb, unterhalb. Jene Göttlichkeit sucht nach Ausdruck, damit sie die Umgebung, in die ihr Einfluss geboren wird, bereichern kann. Im langen Muster der Evolution gibt es ein Gesetz oder eine Gewohnheit der Natur, die konstant ist – das Gesetz von Aktion und Reaktion, von Ursache und Wirkung. Wenn wir die Wirkungsweise dieses Gesetzes beachten, erfassen wir intuitiv „eine Göttlichkeit, die unsere Ziele gestaltet“ und erkennen dann, wie die Erfahrungen, denen wir von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr begegnen, Wegweiser dafür sind, was für die Seele zu ihrem Wachstum nötig ist. Wir müssen nur in die „umgekehrte Schale der Nacht“ blicken – wie es Omar Khayyam ausdrückte –, um dort die Harmonie zu sehen und zu erkennen, dass jeder einzelne von uns nicht nur das Potenzial, sondern die edle Pflicht hat, ein bewusster Mitarbeiter auf dem Gebiet der menschlichen Erleuchtung zu werden.

– JAMES A. LONG

Anmerkung des Übersetzers: Im Folgenden sind die angegebenen Zitatstellen aus der Geheimlehre von H. P. Blavatsky teilweise geringfügig verändert bzw. einer modernen Terminologie angepasst.