Wie Die Geheimlehre geschrieben wurde

Kirby Van Mater

Die Veröffentlichungen von H. P. Blavatsky und das wachsende Verständnis für die Arbeit der Theosophischen Gesellschaft bei ihren Anhängern sind untrennbar miteinander verbunden. Als die ersten alten Weisheitslehren – grob umrissen in HPBs erstem Hauptwerk, der Isis entschleiert – aufgenommen wurden, entstand ein natürliches Verlangen nach einer vollständigeren Darstellung dieser Philosophie. Entsprechend wurden die von Zeit zu Zeit von der Gesellschaft verkündeten Ziele und Prinzipien eingehender definiert und umfassten auch die Arbeit, welche jene vor Augen hatten, die für die Gründung der Gesellschaft verantwortlich waren. Die eigentlichen Gründer der TG waren HPBs Lehrer, und in hohem Maß wurde der Inhalt von Isis entschleiert und Die Geheimlehre eben durch sie hervorgerufen.

Isis entschleiert wurde im Sommer 1875 begonnen, wenige Monate vor der Gründung der TG, obwohl HPB zu dieser Zeit nicht wusste, was aus dem wachsenden Manuskriptberg werden sollte. Später, im September, wie H. S. Olcott aufzeichnete, „schrieb sie mir, es solle ein Buch über die Geschichte und die Philosophie der Östlichen Schulen und ihre Beziehungen zu den Schulen unserer eigenen Zeit werden.“1

Mitte Dezember 1878, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Isis, verließen H. P. Blavatsky und Oberst Olcott New York, um nach Indien zu reisen, wo sie ihr Werk sechs Jahre lang fortführte. Sie machten bald die Bekanntschaft von A. P. Sinnett, dem Heraus­geber der anglo-­indischen Zeitung The Pioneer. Die darauffolgende Korrespondenz mit HPBs Lehrern – zwei östlichen Adepten, bekannt als M und KH – übte einen tiefen Einfluss auf ihn aus. Als direktes Ergebnis der Inspiration und Belehrung, die er empfing, und auch aufgrund gewisser Phänomene, die er selbst bezeugte, veröffentlichte Sinnett im Jahre 1881 The Occult World und zwei Jahre später Esoteric Buddhism – zwei bedeutende Bücher, die in verschiedenen Teilen der Welt beachtliches Aufsehen erregen sollten. An einigen wenigen Stellen war Sinnetts Interpretation der Lehren jedoch unrichtig. Er hatte auch Schwierigkeiten zu verstehen, warum es offensichtliche Unterschiede zwischen der philosophischen Ausdrucksweise der Theosophie gab, wie sie seine Adept-Brieffreunde darstellten, und HPBs Ausdrucksweise in der Isis. Er erkannte nicht, dass HPB in der Isis Grenzen gesetzt waren, wieviel von der Alten Weisheit preiszugeben ihr erlaubt war. Das war im Jahr 1877, als die Mitglieder wenig Verständnis für die Größe der Theosophie hatten. Innerhalb der nächsten fünf oder sechs Jahre war die Zeit gekommen, mehr von der Esoterischen Philosophie zu enthüllen und eine Terminologie zu entwerfen, die für das westliche Verständnis geeignet war. Im Jahr 1882 schrieb KH an Sinnett:

Sie [die Isis] sollte wirklich um der Familienehre willen neu geschrieben werden … Verstehen Sie nicht, dass alles, was Sie in Isis finden, nur umrissen, nur skizzenhaft dargelegt ist – nichts wird vollständig oder komplett erklärt. Gut, die Zeit ist gekommen, aber wo sind die Arbeiter für solch eine ­ungeheure Aufgabe?

The Mahatma Letters to A. P. Sinnett, Brief XXc, S. 130-1

Trotzdem erschienen im Jahr 1884 ab der Januar-Ausgabe des Journal2 Anzeigen, in denen Die Geheimlehre eine neue Version von Isis entschleiert zu sein schien. In jenem Sommer begannen zwei Schüler3 der Theosophie das Werk Man: Fragments of Forgotten History zu schreiben. Noch vor der Veröffentlichung erwies sich diese Darstellung der theosophischen Philosophie als unbefriedigend. Am 9. Januar 1885 wurde HPB der „Plan“ für das große Werk, Die Geheimlehre, übermittelt. Oberst Olcott schrieb:

Am folgenden Abend – so steht es in meinem Tagebucheintrag – „erhielt H. P. B. von ihrem Lehrer den Plan für ihr Werk, Die Geheimlehre, und er ist ausgezeichnet. Oakley und ich versuchten gestern, uns damit (HPBs Notizen und Unterlagen für die Neufassung der Isis) zu befassen, aber das ist viel besser“. Inzwischen war die Materialsammlung für das Buch schon weit fort­geschritten. Einigen wird es neu sein, dass ursprünglich kein neues Buch vorgesehen war, sondern lediglich eine Umarbeitung und Erweiterung der Isis entschleiert, unter Mitwirkung des verstorbenen T. Subba Row, B. A., B. L., als Mitherausgeber von HPB. Wie zuerst im Theosophist angekündigt, sollte es in monatlichen Abschnitten von je 77 Seiten erscheinen und sich auf etwa zwanzig Teile belaufen. Dieser neue Plan, der ihr von ihrem Lehrer übermittelt worden war, änderte dieses Programm, und der allmähliche Aufbau des nun vorliegenden großen Werkes war das Ergebnis.4

Old Diary Leaves, Bd. III, S. 199-200

Ein Jahr zuvor, im Februar 1884, waren HPB, Olcott und vier Begleiter von Bombay nach Europa aufgebrochen. Während ihrer Abwesenheit wurde von Alexis und Emma Coulomb (die von der Hauptstelle in Adyar aufgenommen worden waren) und den Herausgebern des Christian College Magazine in Madras ein sorgfältig geplanter Angriff gegen HPB und indirekt gegen die Theosophische Gesellschaft vorbereitet. HPB wurde wegen der Vorlage von Briefen ihrer Lehrer des Betrugs und auch der Hinterlist bei der Erzeugung von Phänomenen beschuldigt. Die Wirkung dieses boshaften Angriffs war sofortiges weltweites Aufsehen und am Ende des Jahres Olcotts und Blavatskys Rückkehr nach Indien. Zu dieser Zeit schickte die Society for Psychical Research einen jungen Mann namens Richard Hodgson nach Indien, der die ganze Angelegenheit untersuchen und darüber Bericht erstatten sollte.

In ihrem Bestreben, nicht noch mehr Aufsehen zu erregen und die Namen der Mahatmas nicht in die Öffentlichkeit zu bringen, ließen Olcott und das Komitee der TG HPB ohne Verteidigung, und durch ihr Stillschweigen stimmten sie ihrer Schuld indirekt zu. HPB protestierte energisch; die Ehre der Gesellschaft und ihrer Lehrer standen auf dem Spiel. HPB wollte vor Gericht gehen, um ihre Lehrer und die Arbeit, um deretwillen sie ausgesendet worden war, zu rechtfertigen. Aber Olcott drohte HPB mit seinem Rücktritt, würde sie nicht dem vom Sonderausschuss für Justiz festgelegten Kurs folgen.5 Schließlich brach ihre bereits angeschlagene Gesundheit vollends zusammen. Am 21. März bot HPB ihren Rücktritt als Korrespondierende Sekretärin an, und am 31. März verließ sie auf Anraten des Arztes Indien in der Hoffnung, sich ausreichend zu erholen, um ihre Geheimlehre fertigstellen zu können. Als sie den Dampfer bestieg, bat Subba Row sie, weiter zu schreiben und ihm über Olcott jede Woche das Geschriebene zu senden, weil er dann „Anmerkungen und Kommentare machen“ wolle. (The Theosophist, März 1925, S. 784)

Selbst auf offener See erhielt sie „Manuskriptseiten, die sich auf Die Geheimlehre bezogen“.6 Sie blieb etwa drei Monate in Italien, in Torre del Greco und in Rom und später in der Schweiz und ließ sich schließlich Anfang August in Würzburg in Deutschland nieder. Am 28. Oktober 1885 schrieb HPB an Olcott, dass „ich jetzt nicht so viel Zeit habe … aber ich werde Dir in einem oder zwei Monaten die ersten sechs Abschnitte schicken“. (Old Diary Leaves, Bd. III, S. 317)

Bevor Gräfin Wachtmeister im Dezember anreiste, um ihr Gesellschaft zu leisten und sich um HPB zu kümmern, wurde jedoch nichts wirklich vollbracht. Erst nach ihrer Ankunft konnte sie ohne die ständigen Unterbrechungen, denen sie sich zuvor ausgesetzt sah, jeden Tag viele Stunden lang einen Zeitplan für das Schreiben einhalten. In den folgenden Monaten gelang es der Gräfin nur dreimal, sie zum Verlassen der Wohnung zu bewegen.

Der Dezember war kaum vorüber, als HPB die Untersuchungs­protokolle der Society for Psychical Research erhielt, die sich auf Hodgsons Untersuchungen in Indien stützten. Dieser Bericht war ihr gegenüber ebenso ungerecht wie der frühere Angriff durch die Coulombs und das Christian College Magazine.7 Man kann sich die Wirkung dieses Berichts auf HPB nur schwer vorstellen. Gräfin Wachtmeister berichtet:

„Das“, rief sie aus, „ist das Karma der Theosophischen Gesellschaft, und es fällt auf mich. Ich bin der Sündenbock. Ich soll alle Sünden der Gesellschaft tragen, und wer wird jetzt noch, wo ich als die größte Betrügerin des Jahrhunderts und dazu noch als russische Spionin bezeichnet werde, auf mich hören oder Die Geheimlehre lesen?“

– Wachtmeister, Reminiscences, S. 26

Am 6. Januar 1886 schrieb HPB an Olcott, Die Geheimlehre würde sie und ihre Lehrer rechtfertigen.

Denn Geheimlehre ist vollständig neu. Es sind weniger als 20 Seiten, die Zitate aus der Isis enthalten … In vier Teilen – archaische, alte, mittelalterliche und moderne Perioden. Jeder Teil 12 Kapitel mit Anhängen und einem Glossar mit Erklärungen am Schluss. Die Gräfin ist hier, und sie sieht, dass ich fast keine Bücher habe. Der Meister und Kashmiri8 diktieren abwechselnd. Sie schreibt alles ab.

Theosophist, Aug. 1931, S. 667

HPB hielt sich von August 1885 bis Mai 1886 in Würzburg auf. Gegen Ende April beschloss sie, die Sommermonate mit ihrer Schwester und ihrer Nichte im belgischen Ostende zu verbringen. Auf dem Weg dorthin wurde sie jedoch von Gustav und Mary Gebhard überredet, sie zuhause in Elberfeld in Deutschland zu besuchen. Dort verletzte sich HPB am Bein. Sie ließ sich erst im Juli in Ostende nieder, wohin auch die Gräfin bald kam, und die Arbeit an der GL konnte nun wieder ohne Unter­brechung fortgesetzt werden.

Am Abend, nach ihrer Tagesarbeit, war HPB nicht abgeneigt, Besuchern das Geschriebene vorzulesen, wenn sie den Eindruck hatte, dass diese daran interessiert waren. Verschiedenen Personen gab sie auch Teile des Manuskripts zu lesen. Acht Seiten wurden an Sinnett geschickt, damit er sie Sir William Crookes zeigen konnte, der zu jener Zeit der bedeutendste Chemiker in England und ebenfalls Theosoph war. Bei verschiedenen anderen Gelegenheiten wurden Teile des Manuskripts von Würzburg und auch von Ostende aus per Post nach Adyar geschickt. Ein andermal sandte HPB einen großen Teil an Olcott und ermahnte ihn und Subba Row, nichts davon zu verlieren.

Wie auch immer, machen Sie, was Sie wollen, … und wenn Sie etwas hinzufügen möchten, schreiben Sie den Zusatz auf ein Blatt und heften Sie es an die Seite, der Sie es hinzufügen wollen. Denken Sie daran, das ist mein letztes großes Werk. Ich könnte es, ginge es verloren, nicht noch einmal schreiben, um mein Leben oder das der Gesellschaft zu retten, welches mehr zählt.

Theosophist, März 1925, S. 790

In Old Diary Leaves (Bd. III, S. 385) schreibt Olcott, das GL-­Manu­skript von Band I sei im Dezember 1886 angekommen, jedoch würde Subba Row nicht daran arbeiten, wie ursprünglich vereinbart, da – wie er sagte – so viele Fehler darin waren, dass er es neu schreiben müsse. HPB, sehr verzweifelt, ging das gesamte Material noch einmal gründlich durch und machte viele Korrekturen.

Zuvor hatte sie am 21. Oktober an Olcott geschrieben, dass sie im Frühjahr nach London reisen würde, weil ihr dort im Museum Bücher zur Überprüfung zur Verfügung stünden und sich außerdem einige der dortigen Mitglieder zum Korrekturlesen bereit erklärt hätten. Später, als Subba Row sich weigerte, das Material durchzusehen, fragte HPB auch, was sie jetzt ohne seine Hilfe für den zweiten Band tun solle, „wo ich doch jede Menge Sanskritwörter und -sätze habe und die esoterische Bedeutung einer Reihe von exoterischen Hindu-Allegorien aus ihrer Kosmogonie und Theogonie.“

Antworten Sie bitte sofort. Der „alte Herr“ und Meister hat fast alles gegeben, und ich sage Ihnen, es sind wunderbare Dinge darin enthalten. Aber jemand muss das Sanskrit und die Korrekturen der exoterischen Interpretationen prüfen.

– Ebenda, S. 787

Zu dieser Zeit war in England eine Anzahl Mitglieder von Sinnetts Londoner Loge mit dem damaligen Stand der Dinge unzufrieden. Sie fanden, für ihre öffentliche Arbeit9 sei ein neuer Impuls notwendig und beschlossen, jeder von ihnen solle wegen dieses Problems persönlich an HPB schreiben. Jeder erhielt einen langen Brief als Antwort. Unter anderem erklärte sie, wie dringend es ihr sei, Die Geheimlehre fertigzustellen, bevor sie andere Dinge in Angriff nehmen würde. Trotzdem reiste Bertram Keightley Anfang 1887 nach Ostende und besuchte HPB, die ihn bat, „Teile des Manuskripts durchzusehen“. Sie willigte ein, Ende April nach London zu kommen, vorausgesetzt, dass eine Unterkunft und andere Dinge arrangiert werden könnten. Bald danach reiste Dr. Archibald Keightley10 nach Ostende, um HPB einen Besuch abzustatten; und auch ihm gab sie einiges aus der GL zum Lesen. Schon kurz nach seiner Rückkehr nach England traf die Nachricht ein, dass HPB schwer erkrankt sei. Ihr Arzt und ihre Freunde dachten damals, dieses Mal würde sie mit Sicherheit sterben, aber wie im Februar 1885 in Indien erholte sie sich wunderbarerweise wieder. Fast unmittelbar danach kündigte sie an, die nächste Phase ihrer Arbeit solle in England stattfinden – sowohl in Bezug auf Die Geheimlehre als auch auf die Theosophische Gesellschaft. Nachdem die Keightleys das erfahren hatten, kamen sie in den letzten Aprilwochen nach Ostende, um den Umzug vorzubereiten. HPB sollte in dem kleinen Haus von Mabel Cook (Mabel Collins), Maycot, im Londoner Stadtteil Upper Norwood wohnen.

HPB beschreibt ihren Umzug auf einer Postkarte an William Q. Judge:11

Maycot, Crownhill, Upper Norwood, London C. S., 7. Mai.

„Oh, Deine prophetische Seele!“ Wusstest nicht, dass die alte HPB 17 Tage lang zwischen Leben & Tod schwebte; unwiderstehlich angezogen von dem Charme dessen, was hinter Letzterem zu erwarten war & von der Gräfin & von einigen Londoner Logen an den Rockschößen zurück­gehalten? Guter, intuitiver Freund. Dennoch wurde ich noch einmal gerettet & noch einmal mit meiner klassischen Nase in den Schmutz des Lebens gesteckt. Die beiden Keightleys & Thornton (ein lieber, echter neuer Theosoph) kamen nach Ostende, packten mich, Bücher, Nieren & gichtkranke Beine & beförderten mich über das Wasser, teils im Dampfer, teils im Rollstuhl & zum Schluss im Zug nach Norwood in eines der Häuschen, in dem ich hier lebe (vielmehr vegetiere), bis die Gräfin zurückkehrt. Hier „1. 000 Worte für den Pfad“ schreiben? Ich will es versuchen, alter Mann. Sehr, sehr unpässlich & schwach; aber etwas besser nach der tödlichen Krankheit, die mich reinigte, da sie mich nicht davontrug. Herzlichst & aufrichtig wie üblich & für immer. Dein in Himmel & Hölle.

– „O.L.“ HPB

Sobald wie möglich kehrte sie an ihren Schreibtisch zurück, und die Arbeit ging weiter wie üblich. Die Aufgabe, die GL für die Veröffentlichung durchzusehen, fiel hauptsächlich den Keightleys zu. Bertram Keightley schrieb, dass HPB sie bei der Ankunft in England gefragt habe, was sie tun wollten, und nachdem sie ihre Antworten gehört hatte, bemerkte sie: „In Ordnung … hier sind Sie – machen Sie sich gleich an die Arbeit.“ (BK, Reminiscences, S. 7) Damit übergab sie ihnen das gesamte Manuskript zur Überprüfung, und gleichzeitig sollten sie ihr einen Vorschlag für eine entsprechende Struktur machen. Das ­Manuskript war ein über einen Meter hoher Stoß, und wie Archibald Keightley berichtet: „In gesonderte Abschnitte eingeteilt, … ohne bestimmte Struktur; vieles war von der Gräfin Wachtmeister geduldig und fleißig abgeschrieben worden.“ Nach längeren Beratungen wurde der HPB vorgeschlagene Plan zur Grundlage für die gegenwärtige Einteilung der Bände und den Inhalt gemacht. Anderes Material, das nicht zu dieser Anordnung und diesem Plan passte, wurde für die Zukunft aufbewahrt. Sie arbeiteten den ganzen Sommer über, „lesend, noch einmal lesend, abschreibend und korrigierend“.12 Viele Zitate mussten im Britischen Museum überprüft werden – oder wo auch immer sie ausfindig gemacht werden konnten.

Es sollte erwähnt werden, dass die Stanzen des Dzyan, auf denen Die Geheimlehre basiert, in den ersten Entwürfen des Buches lediglich kurz erläutert wurden. Für HPB waren sie vollkommen verständlich, aber für Schüler waren Erklärungen notwendig. Der Plan wurde beschlossen, je eine Stanze auf ein leeres Blatt Papier zu schreiben und Fragen daran anzuheften, zu welchen HPB dann Antworten schreiben würde. Oft verlangte sie Erklärungen zu den Fragen, bevor sie ihre Kommentare versuchte. Neben all dieser Arbeit an der GL gründete HPB eine neue Zeitschrift: Lucifer. Das erste Heft erschien im September 1887. Im gleichen Monat zog sie in eine größere Wohnung in der Lansdowne Road 17 um. Der Geist und die Begeisterung derer, die mit ihr zusammenarbeiteten, kommen in den folgenden Zeilen aus einem Brief vom 28. Mai 1887 von Bertram Keightley an W. Q. Judge13 zum Ausdruck:

HPB geht es ziemlich gut & arbeitet weiter intensiv an der Geheimlehre, die ungemein gut ist & ich bin sicher, dass Sie ihre helle Freude daran haben werden. Obwohl ich diesen Brief in Linden Gardens schreibe, wohne ich mit HPB in Maycot, Crown Hill, Upper Norwood S.E, wo sie hoffentlich für die nächsten zwei oder drei Monate bleiben wird. Wir haben einen guten Plan aufgestellt und wollen HPB in einem Winterquartier nahe London unterbringen, wo sie in Frieden leben & die wahren Mitarbeiter der Gesellschaft um sich versammeln kann. Ob er jedoch erfolgreich sein wird oder es je überhaupt dazu kommen wird, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass wir unser Möglichstes tun werden, um es zuwege zu bringen. Erwähnen Sie noch nichts darüber; denn „zwischen den Lippen und des Bechers Rand schwebt der dunklen Mächte Hand“ & über diese Dinge am besten nicht sprechen bis sie wirklich ausgeführt wurden. Auf jeden Fall meinen wir, dass man bemüht sein sollte, frisches Leben in diese schwerfällige L.L. (London Lodge) zu bringen & die neue Zeitschrift ist der erste Schritt. Der Name, der uns gegenwärtig am meisten zusagt, lautet „Lucifer: the Lightbearer“ [Lucifer: der Lichtträger], aber zu einer endgültigen Entscheidung ist es noch nicht gekommen. Auf jeden Fall beabsichtigen wir, zwei Dinge zu tun: es HPB so behaglich wie möglich zu machen & ihr zu beweisen, dass es zumindest einige gibt, die wirklich ihre unaufhörliche Selbstaufopferung & ihre unermüdlichen Bemühungen für die Sache würdigen.

Nach vielem Schneiden, Kleben und Tippen sauberer Kopien eines Großteils der Bände I und II, wurde das Manuskript schließlich in die Druckerei geschickt. Dann kam das Korrekturlesen, und auch das war mit Schwierigkeiten verbunden, wie sich Archibald Keightley erinnert:

Man begann, Die Geheimlehre zu drucken, und Mme. Blavatskys eigensinnige Abneigung dagegen, mit druckreifen Seiten anders umzugehen als mit einem Manuskript, verursachte viele Debatten und Kosten. Es ging nicht nur darum, dass sie eine Seite, nachdem sie bereits abgesetzt war, teilen und eine große Menge zusätzlichen Textes einfügen wollte, sondern sie wollte auch mit größter Sorgfalt und Genauigkeit mit der Schere einzelne Sätze ausschneiden und dann an einer ganz anderen Stelle wieder einkleben. Wehe dem mutigen Redakteur, der im Namen der Drucker und wegen der anfallenden Mehrkosten protestierte. „Köpfe ihn“ oder herunter mit seinem metaphysischen Skalp waren die Befehle der Königin unseres Wunderlands. Schließlich waren die Ausgaben für die Korrekturen der Geheimlehre höher als der Preis für den ursprünglichen Satz!

– „Reminiscences of H. B. Blavatsky“,
Theosophical Quarterly, (Bd. VIII, S. 30), S. 115

Schon länger war HPB enttäuscht von ihren finanziellen Abmachungen mit J. W. Bouton in New York über die Herausgabe der Isis entschleiert, und deshalb war sie entschlossen, die finanzielle Kontrolle über Die Geheimlehre sowohl in den USA als auch in England selbst zu übernehmen. Im Mai 1888 bat sie W. Q. Judge, das Urheberrecht für ihr Buch in den Vereinigten Staaten in ihrem Namen zu beantragen und es in den USA entweder von zugeschickten „Stereoplatten oder nur von den Druckseiten“ aus England zu publizieren.14 Nach Rücksprache mit J. W. Lovell (von John W. Lovell Co. in New York) schrieb Judge an Bert Keightley, die beste Vorgangsweise für die 1. 000 oder mehr Seiten wäre, die Druckseiten von London aus zu verschicken, um sie dann in den USA falzen, zusammentragen und binden zu lassen.15S Das Urheber­recht könne dann unter HPBs Namen eingetragen werden – da sie amerikanische Staatsbürgerin war –, wenn sämtliche geforderten Angaben zu dem Buch gemacht worden seien. Dennoch gab HPB zu verstehen, „dass die Herausgabe der amerikanischen und englischen Ausgabe gleichzeitig erfolgen sollte.“16 Nach Verzögerungen in England kamen die gefalzten und zusammengetragenen Drucke von 1.000 Exemplaren des ersten Bandes der GL mit dem Dampfer Britannia am Freitag, dem 19. Oktober, in New York City an. Judge schrieb, der Endtermin zum 27. Oktober für die „Veröffentlichung“ könne wahrscheinlich von ihm nicht eingehalten werden.17 Schließlich telegrafierte H. P. Blavatsky am 31. Oktober an Judge: „Hast Du veröffentlicht?“ Judge telegrafierte zurück: „Ja, Buch erschien 1. Nov.“18 Band II erschien am 28. Dezember.

Seit dem Erscheinen des Buches wurden wiederholt Fragen darüber gestellt, wer Die Geheimlehre geschrieben hätte und wie sie geschrieben worden sei. HPB erhob keinen Anspruch darauf, die ganze Arbeit allein gemacht zu haben. Wie sie Sinnett in ihrem Brief vom 3. März 1886 erklärte:

Jeden Morgen gibt es neue Entwicklungen und Szenerien. Ich lebe wieder zwei Leben. Der Meister findet, es sei zu schwierig für mich, für meine GL ständig bewusst in das Astrallicht zu sehen, und deshalb – es ist jetzt etwa vierzehn Tage her – wurde ich in die Lage versetzt, alles, was ich sehen muss, wie in einem Traum zu sehen. Ich sehe riesige und lange Papierrollen, auf denen Dinge geschrieben stehen, und ich erinnere mich daran.

The Letters of H. P. Blavatsky to A. P. Sinnett, S. 194

Meister KH gibt in seinem Brief vom August 1888 an Olcott einen weiteren Einblick, wie die GL geschrieben wurde:

Ich habe auch Ihre Gedanken über die „Secrect Doctrine“ bemerkt. Sie können sicher sein, dass alles, was sie nicht aus wissenschaftlichen und anderen Büchern übernommen hat, ihr von uns vermittelt oder vorgeschlagen wurde. Jeder Fehler und jeder falsche Begriff, der von ihr aus den Werken anderer Theosophen berichtigt oder erklärt wurde, wurde von mir oder auf meine Anweisung hin berichtigt. Es ist ein wertvolleres Werk als sein Vorgänger [Isis], ein Abriss okkulter Wahrheiten, der es für den ernsthaften Schüler zu einer Quelle der Information und Instruktion für viele kommende Jahre machen wird.

Letters from the Masters of the Wisdom,
5. Ausgabe, Nr. 19, Band I, S. 47

Die Co-Autorenschaft an der Geheimlehre wird auch in einem gemeinsamen Brief von den Mahatmas M und KH an Dr. Hübbe-Schleiden verdeutlicht, den er in Deutschland Anfang Januar 1886 erhielt. Kopien dieser Briefe – in der Handschrift der Meister – wurden von HPB nach Amerika an Judge geschickt, zu seiner zukünftigen Verwendung. Er druckte sie mit Erklärungen in der Ausgabe April 1893 in The Path. Die Briefe sind auf den folgenden Seiten wiedergegeben.

Jedes Werk muss natürlich nach seinem eigentlichen Wert beurteilt werden und nicht nach den Mitteln, mit denen es hergestellt wurde. Jeder Leser muss selbst beurteilen, wie gut HPB ihr Vorhaben ausführte. Sie selbst bemerkt das in ihrem Vorwort der Geheimlehre: „Im Dienste der Menschheit geschrieben, und von der Menschheit und den zukünftigen Generationen muss sie beurteilt werden.“

Wie die letzten Sätze von Band II andeuten, hatte HPB zwei weitere Bände vorbereitet, die herausgegeben werden sollten, wenn die Aufnahme der ersten Bände es rechtfertigen würde. Sie blieben unveröffentlicht, und man kann nur vermuten, dass mehr Zeit erforderlich war, um das bereits herausgegebene Material zu verstehen. Sie verfasste jedoch Die Stimme der Stille, ein kleines Buch mit Vorschriften, die aus „derselben Reihe von ‘Stanzen’ wie die des Buch des Dzyan entnommen wurden. Auf Letzteren basiert Die Geheimlehre.“ [S. 8] Diese Seiten vermitteln jenen eine edle Lebensauffassung, die bessere Diener der Menschheit werden wollen, wobei man hoffte, dass vielleicht einige wenige Zugang zu jenem inneren Wissen finden würden, zu dem HPB den Weg aufgezeichnet hatte. Was nun die Bände III und IV betrifft, wer kann wohl sagen, ob sie je veröffentlicht werden?

Heute, ein Jahrhundert nach der Veröffentlichung der Geheimlehre, formen andere Egos eine neue Welt. Die Lehren, die sie für das nächste Jahrhundert hervorrufen, werden eine Antwort auf ihr Karma und das Karma ihrer Zeit sein. Wenn HPBs Schriften irgendeine Wirkung erzeugt haben sollten, kann man sie in dem tieferen spirituellen Verlangen einer immer größeren Anzahl von Menschen finden, welche die Universale Bruderschaft zuwege bringen wollen, für die sie arbeitete und derartige Opfer erbrachte.

Die folgenden Briefe, die „dreifache“ Autorenschaft der Geheimlehre betreffend, wurden von den Mahatmas M und KH geschrieben. Diese Faksimile-Wiedergaben wurden von im Archiv der Theosophischen Gesellschaft Pasadena aufbewahrten Originalen angefertigt.

Brief Eins ist eine von den Mahatmas angefertigte Kopie ihrer Nachrichten an Dr. Hübbe-Schleiden aus Deutschland. Upasika steht für HPB.

Seite eins, von KH in blauer Kreide geschrieben, lautet:

An Hubbe Schleiden – Kopie.

Ich frage mich, ob diese Notiz von mir würdig ist, unter den reproduzierten Dokumenten einen besonderen Platz einzunehmen und mit welchen der Besonderheiten des „blavatskyschen“ Schreibstils sie am ähnlichsten zu sein befunden werden wird. Der Vorliegende dient nur dazu, den Dr. zufrieden zu stellen, „je mehr Beweise gegeben werden, um so weniger wird geglaubt“. Er sollte meinen Rat befolgen und diese beiden Dokumente nicht ver­öffent­lichen. Der Unterzeichner ist zu seiner eigenen Zufriedenheit glücklich ihm zu versichern, dass die Secret Doctrine, wenn fertiggestellt, eine dreifache Produktion von M ... , Upasika und des Doktors unter­tänigstem Diener ist.

S.E.C. K. H.

Seite zwei, von M in roter Kreide diagonal beschrieben, und jetzt sehr verblasst, lautet:

Wenn das von irgendeinem Nutzen oder irgendeiner Hilfe für Dr. Hubbe Schleiden sein kann – obwohl ich es bezweifle –, bescheinige ich, der untertänige unterzeichnende Fakir, dass die Secret Doctrine teilweise von mir und teilweise von meinem Bruder K.H. Upasika diktiert wurde.

K.H. M ...

Brief Zwei, von M und KH im darauffolgenden Jahr geschickt, wiederholt die ursprüngliche die Autorenschaft der Geheimlehre betreffende Aussage. Der von KH geschriebene Teil ist mit blauer Kreide verfasst, die zweite Hälfte – auf der Rückseite diagonal in roter Kreide – von M. Die Texte lauten:

Die voriges Jahr ausgestellte Bescheinigung, die besagt, dass die Secret Doctrine nach Fertigstellung eine dreifache Produktion von Upasika, M ... und von mir sein würde, war und ist korrekt, obwohl einige nicht nur die darin gegebenen Tatsachen anzweifeln, sondern auch die Echtheit der Botschaft, in der sie enthalten waren. Kopiere sie und bewahre die Kopie der eben genannten Bescheinigung auf. Du wirst beide nützlich finden, und zwar wenn Du sie, wie es zweifellos geschehen wird, aus den Händen gerade jener Person erhalten wirst, der die Bescheinigung ausgestellt wurde – das Original, damit Du es kopieren kannst;19 und dann kannst Du die Echtheit der jetzt erhaltenen Kopie beweisen. Und es kann dann sehr wohl angebracht sein, sie denjenigen zu zeigen, die wissen möchten, welche Teile in der Secret Doctrine von Upasikas Feder in deren Seiten kopiert wurden, wenn auch ohne Anführungs­zeichen, von meiner eigenen Feder und vielleicht von M ... , obwohl Letzteres schwieriger ist, weil weniger Geschriebenes von ihm bekannt ist und wegen der größeren Unkenntnis seinen Stil betreffend. All dies und noch mehr wird im Laufe der Zeit für notwendig erachtet werden; Du bist jedoch hervorragend dafür qualifiziert, darauf zu warten.

K. H.

Der Doktor wird noch jahrelang im selben Trott verbleiben. Mache weiter und fürchte nichts. Ich bin bei Dir, wenn Du es am wenigsten erwartest. Nein, das ist nicht mein persönlicher Stil – Letzteren in eine Sprache verfasst könntest Du nicht lesen – Ja richtig, das ganze Zeitalter ist ein Übergangszeitalter – Keine Details gegeben.

M ...

HPB im „Maycot“, Upper Norwood, London, 1887.

Fußnoten

1. Old Diary Leaves, Bd. I, S. 203. [back]

2. Journal von The Theosophical Society [Beilage zu The Theosophist]. [back]

3. Mohini M. Chatterji und Laura C. Holloway. [back]

4. Eines der Ziele der Geheimlehre war es, philosophische Fehler in Esoteric Buddhism und Man: Fragments of Forgotten History zu berichtigen. [back]

5. Jahreskonvent der TG, Dezember 1884; siehe Lucifer, 15. Aug. 1891 (VIII, S. 447). [back]

6. Siehe Constance Wachtmeister, Reminiscences of H. P. Blavatsky and „The Secret Doctrine“, Brief von F. Hartmann an Vera Johnston, 2. Juni 1893, S. 109. [back]

7. In der April-Ausgabe 1986 druckte das Journal of the Society for Psychical Research einen Artikel von Vernon Harrison – einem leitenden Mitglied der SPR, anerkannter Experte für Handschriften und Betrug – mit dem Titel: „J’ACCUSE: Eine Unter­suchung des Hodgson-Berichts von 1885“. Dr. Harrisons Kritik fasst zusammen (S. 309):

„[Richard Hodgsons] Bericht ist durchsiebt mit gefärbten Behauptungen; Vermutungen werden als Tatsachen oder als mögliche Tatsachen vor­­gebracht; unbestätigte Aussagen von unbekannten Zeugen; eine willkürliche Auswahl von Beweisen und glatte Fälschungen … Seine gegen H. P. Blavatsky erhobene Anklage wurde nicht bewiesen.“ [back]

8. M und KH. [back]

9. Bertram Keightley, Reminiscences of HPB, 1931, und Archibald Keightley, „From Ostende To London“; The Path, November 1892, S. 245. [back]

10. Ein Onkel Bertrams, obwohl ein Jahr jünger als er. [back]

11. Archiv der Theosophischen Gesellschaft Pasadena. [back]

12. Wachtmeister, Reminiscences, S. 97, 91, 98. [back]

13. Archiv der Theosophischen Gesellschaft Pasadena. [back]

14. Brief von Bertram Keightley an W. Q. Judge, 29. Mai 1888, gegengezeichnet von HPB (Archiv der TG Pasadena). [back]

15. Brief von J. W. Lovell an W. Q. Judge, 12. Juni 1888, und Brief von WQJ an BK, 22. Juni 1888 (Archiv der TG Pasadena). [back]

16. Brief von WQJ an BK, 22. Juni 1888 (Archiv der TG Pasadena). [back]

17. Brief von WQJ an BK, 19. Oktober 1888 (Archiv der TG Pasadena). [back]

18. Archiv der TG Pasadena [back]

19. [In seinem Tagebuch, datiert 21. Juli (1892), London, schreibt William Q. Judge: „… Hübbe-Schleiden angekommen hatten Treffen. … Er borgt mir die Briefe der Meister an ihn. Es sind dieselben wie die Kopien, die mir HPB geschickt hat.“ – KVM] [back]