Yoga in Indien

Manchmal wird die Frage gestellt, ob H. P. Blavatsky 1878 nach Indien reiste, um dort Yoga zu studieren. Das war aber nicht der Fall. Nach der Gründung der Theosophischen Gesellschaft in Amerika reiste sie nach Indien, um das allgemeine Verständnis für Menschlichkeit und Bruderschaft zu fördern, das sich trotz den tausenden verschiedenen Yogis in einem jämmerlichen Zustand befand. Ein weiterer Grund war die Anweisung ihrer Meister, dass sie die großen Möglichkeiten Indiens fördern sollte, der Welt eine großartige Religions-Philosophie anzubieten, einer Welt, die logischere und befreiendere Lösungen auf die Fragen des Lebens suchte, als die von der dogmatischen Theologie oder der materialistischen Wissenschaft der damaligen Zeit angebotenen.

Sie schenkte dem Drängen vieler Hindus Gehör, die erkannten, dass die alten Lehren durch abergläubische Interpretationen und formelhafte gottesdienstliche Handlungen degeneriert waren. Viele prominente Gesellschaften einheimischer Sanskrit-Gelehrter luden sie ein, Mitglied zu werden und mehrmals ereigneten sich bemerkenswerte Phänomene.

Stolze, selbstzufriedene Brahmanen, die sich niemals um andere kümmerten, erkannten sie als ihre Lehrerin an, sie, die eine Ausländerin war, eine ‘Paria’ und … eine Frau! Bei vielen Anlässen wurde ihr in der Öffentlichkeit von ihnen und anderen indischen Organisationen gedankt, und sie empfing Ehrerweisungen für ihre aufopfernde Arbeit, dem vorwärtsstrebenden Teil Indiens zu höheren Idealen des Denkens und Handelns zu verhelfen. Eine solche Ehrung, angeboten von über dreihundert Hindustudenten einer höheren Schule in Madras, beginnt folgendermaßen:

„Nun, da wir Sie nach Ihrer Rückkehr von den intellektuellen Feldzügen, die Sie im Westen so erfolgreich vollbrachten, aufs Herzlichste willkommen heißen, erkennen wir, dass wir nur einen schwachen Ausdruck unserer großen Dankbarkeit zeigen können, die Indien Ihnen schuldet.

Sie haben Ihr Leben dem selbstlosen Dienst gewidmet, die Wahrheiten der okkulten Philosophie zu verbreiten. Auf die heiligen Mysterien unserer ergrauten Religion und Philosophie haben Sie viel Licht geworfen, indem Sie der Welt Ihr wunderbares Werk Isis entschleiert brachten.

Incidents in the Life of Madame H. P. Blavatsky, A. P. SINNETT

Zu einer bestimmten Zeit, als viele Menschen meinten, es sei für ihre spirituelle Entwicklung notwendig, für eine okkulte Ausbildung eiligst nach Indien zu reisen, protestierte W. Q. Judge dagegen und sagte, dass dies nicht der Wunsch der Meister sei. Es entspräche auch nicht den von H. P. Blavatsky gebrachten Lehren, dass Theosophen den östlichen Methoden sklavisch folgen sollten, noch sollte der heutige Orient als Beispiel oder als Ziel gesehen werden. Der Westen muss einer Methode der spirituellen Entwicklung folgen, die seinem Charakter und dem Milieu seiner Völker entspricht. Selbstverständlich kann und muss der Westen in großem Ausmaß aus den östlichen Schriften schöpfen, deren Bedeutung für die Studierenden, seit H. P. Blavatsky den Schleier der ‘Isis’ teilweise gelüftet und viele verborgene Bedeutungen erläutert hat, sehr gewachsen ist. Aber trotz allem, was sie unternahm, um das alte spirituelle Leben in Indien wiederzuerwecken, können wir zum modernen Indien doch nicht wie zu einem Lehrer aufsehen. Die indischen Meister selbst sagen deutlich, „dass alle überzeugt sind, dass der Verfall Indiens hauptsächlich auf die Erstickung des spirituellen Lebens in früheren Tagen“ zurückzuführen sei, und Mahatma KH sagt, dass „selbst seine eigenen Landsleute den erstickenden Magnetismus nur sehr kurz ertragen können (aus The Occult World, A. P. SINNETT). Ebenfalls lesen wir in den Mahatma Letters to A. P. Sinnett:

„Wenn es zulässig wäre, subjektive Dinge durch objektive Phänomene zu symbolisieren, würde ich sagen, dass Indien für das psychische Auge mit einem erstickenden grauen Nebel bedeckt zu sein scheint – einem moralischen Meteor – der odischen1 Emanation ihres verdorbenen gesellschaftlichen Zustandes. Hier und da funkelt ein Lichtpunkt auf, der auf eine Natur hinweist, die ein wenig spirituell ist, auf einen Menschen, der nach höherem Wissen strebt und darum ringt. Wenn das Leuchtfeuer des arischen Okkultismus je wieder entzündet werden soll, müssen diese verstreuten Funken zusammengebracht werden, um die Flamme zu bilden. Und das ist die Aufgabe der TG, … .“

– S. 384 (engl. Ausgabe)

Schon immer und auch heute noch gab und gibt es einen ‘esoterischen Kreis’ von Wissenden. Unerkannt und der äußeren Welt unbekannt arbeitet er auf vielerlei Arten am spirituellen Wachstum der Menschheit. Dieser Kreis wurde vor Urzeiten von Menschen mit dem Ziel gegründet, die Menschheit vor bruchstückhaften oder irreführenden Halbwahrheiten okkulten Charakters zu bewahren, die weit gefährlicher sind als völlig falsche Erkenntnisse, weil man sie nicht so leicht als Unwahrheiten erkennen kann. Die geschichtlich bekannten Mysterienschulen in Eleusis und an anderen Orten Griechenlands, in Philae in Ägypten und in noch manchen anderen Gegenden der Welt, waren die verhältnismäßig modernen Nachfolger der alten Schulen. Sie genossen hohes Ansehen, wurden von jedermann geehrt und man brachte ihnen Vertrauen entgegen. Die Handlungen und andere mehr oder weniger exoterische Zeremonien waren den Bedürfnissen der durchschnittlichen Menschen der Zeit angepasst, aber sogar darin wurde Tieferes symbolisiert. Weiter fortgeschrittene Kandidaten verbrachten lange Perioden in der Stille, wie wir den Berichten der Schule von Pythagoras zu Krotona entnehmen. Wenn ihre Körper gereinigt und sie ihr Denken unter Kontrolle hatten, waren sie bereit, in sich selbst hohe Bewusstseinszustände zu erwecken, die für den ungeübten Intellekt ganz und gar unzugänglich sind. Paulus, ein Eingeweihter, sagt, dass ein Mensch ‘bis in den dritten Himmel entrückt wurde’ (2 Kor 12,2). Dies ist ein deutlicher Hinweis auf eines der Stadien oder einen der Schritte auf dem Weg nach dem, was im Osten Samādhi genannt wird. Der Prozess, das nach außen zu bringen, was im Inneren eingeschlossen liegt, ist die wahre Bedeutung von Erziehung, und dies ist die Vorgehensweise jeder echten Yoga- oder Mysterienschule.

Mit dem Aufkommen der Theosophischen Bewegung im 19. Jahrhundert begann H. P. Blavatsky mit Erfolg die Mysterienschulen im Westen zum Leben zu erwecken. Sie schreibt:

Aber wenn auch die Stimme der MYSTERIEN im Westen schon seit vielen Zeitaltern verstummt ist, wenn Eleusis, Memphis, Antium, Delphi und Krisa schon vor langer Zeit zu Grabstätten einer Wissenschaft wurden, die einst im Westen genau so gewaltig war, wie sie jetzt noch im Orient ist, so werden doch jetzt Nachfolger für sie vorbereitet.

– H. P. Blavatsky: Collected Writings, 8:205

Als das „Ursprüngliche Feuer des Arischen Okkultismus“, wie Meister KH es bezeichnet, hell brannte, wurde Yoga in richtiger Weise verstanden. In ihrem Theosophical Glossary (S. 381-2) spricht H. P. Blavatsky von den sechs Darśanas oder philosophischen Schulen Indiens, eine von diesen ist Yoga; und weiter beschreibt sie Yoga als „die Praxis der Meditation als ein Mittel, das zu spiritueller Befreiung führt“. Sie fügt hinzu, dass dadurch psycho-spirituelle Kräfte erlangt werden können; „und die hervorgerufenen ekstatischen Zustände führen zur klaren und richtigen Wahrnehmung der ewigen Wahrheiten, sowohl im sichtbaren als auch im unsichtbaren Universum“. Bedenken Sie hierbei, dass dies weder psycho-physische noch psycho-intellektuelle Kräfte sind, sondern Fähigkeiten, die zu einer weitaus höheren Ordnung gehören.

Den Yoga Darśana oder die Schule teilt man in fünf Hauptklassen ein, die mit den fünf wichtigsten Typen der Psychologie des Menschen übereinstimmen. G. de Purucker umschreibt sie folgendermaßen:

„Welche sind nun diese fünf Yoga-Schulen Indiens? Wir fangen mit der einfachsten und niedrigsten an; Hatha-Yoga, der Yoga der physiologisch-psychischen Übung, hauptsächlich den Körper und den Verstand betreffend. Dann Karma-Yoga, von dem Wort ‘Karma’, Handlung. Drittens Bhakti-Yoga, der Yoga der Liebe und der Hingabe. Viertens Jñāna-Yoga, der Yoga der Weisheit oder des Wissens, des Studiums. Fünftens Rāja-Yoga, der Yoga des selbständigen Bemühens, um zur Vereinigung mit dem Inneren Gott zu gelangen, der Yoga der Disziplin; so wie man die Könige der Kshatriyas oder der Kriegerkaste als Führer ihres Staates betrachtete. Und der sechste, den wir Theosophen noch hinzufügen, ist der Brahma-Yoga, der Yoga des Geistes, der die fünf anderen sozusagen enthält.“

The Theosophical Forum, März 1940

Ein umfassendes Studium und die Ausübung der fünf hinduistischen Yoga-Systeme erfordert alle Energie, Aufmerksamkeit und die gesamte Zeit des Ausübenden. Es ist klar, dass das in der modernen westlichen Umgebung nicht durchführbar ist, wenn dieses Studium auch wünschenswert erscheint. Dazu kommt noch, dass die Anwesenheit eines Lehrers, der wenigstens den Stand eines niedrigeren Adepten erreicht hat, ganz und gar unentbehrlich ist; er muss seinen Schüler ständig beobachten und beschützen, wenn dieser durch bestimmte Entwicklungsstadien hindurchgeht. Man sagt, dass die Hatha-Yoga-Methoden (die in den höheren Schulen sehr selten angewendet werden und wenn, dann nur unter besonderen Umständen) für auserwählte Schüler ohne Gefahr sind, wenn sie unter der Leitung eines entsprechenden Gurus oder Führers angewendet werden. Aber im Falle eines voreiligen, unvorbereiteten und ungeschützten Laien sind die Umstände ganz anders und es besteht das Risiko sehr tragischer Folgen.

Betrachten wir zum Beispiel die Āsanas oder Yoga-Körperhaltungen, die im Westen durch Fotos und Beschreibungen mehr oder weniger bekannt sind. Es sind rein körperliche Übungen, die manche Yogis anwenden. Sie bereiten damit ihren Körper auf die gewaltigen Spannungen vor, die bei der Erweckung der starken und gefährlichen innerlichen Kräfte entstehen, die der westlichen Wissenschaft noch unbekannt sind.

Es sind mehr als siebzig Āsanas bekannt, von denen die meisten eine lange Vorbereitung erfordern, bevor man sie praktizieren kann. Manche sind für den einen Yogi geeignet, andere für einen anderen, und nur der verständnisvolle und erfahrene Guru ist imstande, sie vernünftig zu dosieren. Der Schüler kann unmöglich ihre Unterschiede kennen, und es ist eine sehr ernste Sache, an einem falschen Āsana zu arbeiten, was, wie man sagt, den Tod zur Folge haben kann!

Vor einiger Zeit veröffentlichte ein Student des Okkultismus die Ergebnisse einer langen Untersuchung der höheren Weisheit im ‘geheimen Indien’. Er stieß auf viele sogenannte Yogis,

die zum größten Teil Fanatiker oder Egoisten waren, die, so sagt er, selbst bei der jüngeren Hindugeneration in den fortschrittlichen Klassen die Bezeichnung Yogi in ein schlechtes Licht gerückt hätten. Es waren auch einige wahre Medien und Magier darunter, offensichtlich einem niederen Orden angehörend. Aber er fand auch ein paar ernsthafte, rechtschaffene Männer, die in keinerlei Weise ihre Fähigkeiten zur Schau trugen und die für die psychischen, sogenannten Yoga-Übungen keine Werbung machten, die vielmehr Lehren von lebenswichtiger Bedeutung für den spirituellen Fortschritt übermittelten. Ein Lehrer aus Südindien, über den der Schriftsteller mit Recht mit großer Ehrfurcht und Bewunderung spricht, antwortete auf die Frage, was getan werden müsse, um den Pfad zu betreten: „Es gibt nur eines, was man tun muss. Schaue in dich selbst hinein. Tue dies in der richtigen Weise und du wirst die Antwort auf all deine Fragen finden. Du musst dich fragen: Wer bin ich? Kenne dein wahres Selbst, dann wird das Licht der Wahrheit in deinem Herzen wie das Licht der Sonne hervorbrechen.“

– PAUL BRUNTON: Verborgene Weisheit

Der Suchende muss nicht nach Indien reisen, um das zu lernen. Er kann es als einen wesentlichen Bestandteil in theosophischen Werken über das Thema der spirituellen Schulung finden, z. B. in Die Stimme der Stille von H. P. Blavatsky. Der Pfad der Schülerschaft wird darin deutlich in einer Weise beschrieben, die sich für alle Völker eignet, östliche wie westliche. Aber welcher Pfad ist der richtige? Kann es richtig sein, sich von der aktiven Teilnahme am weltlichen Leben zurückzuziehen, indem man sich auf seinen eigenen persönlichen Fortschritt konzentriert, ohne sich um das Wohl der anderen zu kümmern? Ohne nähere Erläuterung könnte der eben gegebene Rat leicht falsch verstanden werden. Den richtigen Weg, Selbsterkenntnis zu erlangen, findet man in der Bhagavad-Gītā, dem maßgebenden Werk der Hindus über Yoga-Philosophie und Selbstbemeisterung. Sie betont die Notwendigkeit, in der Welt seine ganze Pflicht zu erfüllen, d. h. die Pflicht anderen und sich selbst gegenüber – das Dharma. Dieser Yoga, Karma-Yoga, ist äußerst wichtig für uns westliche Menschen, die wir lernen müssen, wie wir unsere sprudelnde Energie mit mehr Weisheit lenken können. Es ist „das Ausüben rechter Handlungen“. G. de Purucker behandelte das Thema des unpersönlichen Dienens ausführlich in Die Goldenen Regeln der Esoterik. Aus diesem Buch zitieren wir:

Das Hauptgesetz des Universums ist Selbstvergessen, nicht Konzentration der Aufmerksamkeit auf persönliche Freiheit, nicht einmal auf die Individualität. Das Grundgesetz des Universums will, dass wir für alle Dinge leben und nicht, dass jeder für sich lebe, um für sich die inneren spirituellen Kräfte zu entfalten. Die Weisung, die inneren spirituellen Kräfte zu entwickeln, ist zwar als allgemeine Forderung richtig, doch ist sie als solche auch irreführend, gefährlich, unweise und deshalb ungeeignet als Regel esoterischer Schulung, wenn sie nicht qualifiziert, richtiggestellt und ergänzt wird durch folgende Zusatzlehre: Gib dein Leben auf, so du es finden willst. Lebe für das Wohl der Menschheit, denn das ist der erste Schritt. …

– S. 104

Der Mensch, der zuerst an andere denkt, ist bereits groß. Der Mensch, der um anderer willen sein Leben hingibt, ist schon groß. Der Mensch, der sich in unpersönlichem Dienst für die Menschheit selbst vergisst, ist jedoch am größten. Ein solcher Mensch erntet ein gottgleiches Schicksal, da er sich einen entsprechenden Charakter geschaffen hat.

– S. 115

In der Theosophie finden wir eine hohe Art des Yoga, der uns von den Täuschungen befreien kann, die wir fälschlicherweise mit dem wirklichen Leben verwechseln. Ein Beginn einer solch hohen Art von Yoga hängt davon ab, ob wir die Chancen, die das tägliche Leben im Getöse der Welt uns bietet, richtig nutzen. Es ist nicht nötig, sich aus der Welt zurückzuziehen, sondern sich aus der Sklaverei der egoistischen Anforderungen, welche die Welt stellt, zu befreien. Wollen wir nicht alle ohne zu zweifeln zwischen einer weisen und einer dummen Handlungsweise unterscheiden können und ein so großes und vorurteilsfreies Verständnis der menschlichen Natur haben, dass wir in unserem Wunsch, unseren Mitmenschen zu helfen, keine Fehler machen können? Diese höhere Form des Hellsehens wird sich entwickeln, je weiter die Rasse voranschreitet, aber wir können deren Kommen beschleunigen, indem wir den Yoga der Pflicht und der Selbstlosigkeit ausüben. Manche würden das eine Stärkung der Moral nennen, aber der höhere Yoga enthält mehr als das, was wir im Allgemeinen mit diesen Worten meinen.

Wenn wir ihn besser verstehen, bemerken ernsthafte Aspiranten, dass intuitive Eigenschaften in uns zu erwachen beginnen. Wenn keine Gefahr besteht, dass wir diese missbrauchen, können sich daraus glänzende Fähigkeiten entwickeln und das Bewusstsein wird sich in überraschender Weise erweitern.

Wir müssen unseren eigenen Kampf führen. Ein bekannter okkulter Spruch lautet: „Der Adept wird, er wird nicht gemacht“. Wir können Leiter finden, die uns vor den Fallgruben auf dem Pfad warnen, Lehrer, die unsere verborgenen Schwächen ans Licht bringen und die uns zeigen, wie wir sie besiegen können; aber wir müssen unsere eigenen Erlöser sein. Auf dem Yoga-Pfad gibt es kein ‘stellvertretendes Leiden’, aber es gibt Hilfe und, wie bereits vorher gesagt, „wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer“. Zwar ist es ein großer Segen, dass es diese Möglichkeit gibt, trotzdem bringt der Läuterungsprozess notwendigerweise unerwartete und unangenehme Enthüllungen mit sich, denen man aufrichtig entgegentreten soll und die überwunden werden müssen. Aber der ernsthafte Schüler erwartet dies, und er bittet seinen Lehrer nicht, seinen Egoismus zu dulden. Andererseits bringt Selbstdisziplin eine wachsende Freude, die allmählich deutlich macht, dass der auf sich selbst gerichtete tierische Mensch, wie intellektuell auch immer, nicht der wahre, unsterbliche Mensch ist, „für den die Stunde nie schlagen wird“, und dass wir nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen haben, wenn das wahre Selbst unser Meister wird.

Die edelsten Yoga-Lehren des alten Indien wie Der königliche Juwel der Weisheit von Śaṅkarācārya oder die Bhagavad-Gītā zeigen die grundlegenden Bedingungen für eine erhabene spirituelle Entwicklung auf, ohne eine Spur von Psychismus oder niedrigere Formen der Magie, die manche Teile der Hinduliteratur verunstalten, die Tantren genannt, aus denen ein Großteil des westlichen Yoga und okkulter Bücher ihre zweifelhafte und oft gefährliche Kenntnis holen. Śaṅkarācārya und der Autor der Bhagavad-Gītā lehren die Methoden der Selbstbemeisterung, die den Pfad zu spiritueller Weisheit öffnet. Einige Auszüge aus der Wiedergabe der Bhagavad-Gītā von W. Q. Judge geben einen Eindruck von dieser Art der Lehren:

Wenn der so lebende Mensch sein Herz auf das wahre SELBST konzentriert und frei ist vom Hängen an jeglichem Verlangen, dann wird von ihm gesagt, dass er Yoga erreicht hat.

– VI, 18

In diesem Yoga-System wird weder eine Anstrengung vergeudet, noch gibt es irgendwelche üblen Folgen; selbst ein klein wenig von dieser Übung schützt einen Menschen vor großer Gefahr.

– II, 40

Es gibt keinen Reiniger auf dieser Welt, der mit spiritueller Erkenntnis vergleichbar ist, und wer in Hingabe an das Göttliche vollkommen ist, findet, wie im Laufe der Zeit spirituelle Erkenntnis spontan in ihm selbst entspringt.

– IV, 38

Solche erleuchteten Weisen, deren Sünden erschöpft sind, die frei von Täuschung sind, die ihre Sinne und Organe unter Kontrolle haben und sich dem Wohle aller Geschöpfe hingeben, gehen in den Höchsten Geist ein.

– V, 25

Suche diese Weisheit durch Dienen, durch eindringliches Forschen, durch Fragen und durch Demut; die Weisen, die die Wahrheit sehen, werden sie dir bekannt geben, und sie erkennend, wirst du niemals wieder in Irrtum verfallen, o Sohn Bharatas.

– IV, 34/35

Śaṅkarācārya schreibt:

Die Vision der Seele ist jenem zu eigen, der frei von Leidenschaft ist; die ständige Inspiration gehört jenem, der mit der Seele sieht. … Die erste Freiheit bringende Ursache wird so erklärt, dass man sich vollständig von der Begierde nach nicht dauerhaften Dingen abwenden muss. Dann folgen Frieden, Selbstbeherrschung, Ausdauer, eine vollkommene Entsagung von allen Handlungen, die Anhaften bewirken oder eine Verunreinigung darstellen. … Selbst gut beherrscht, erwirbt er die Frucht und die Belohnung, und seine Belohnung ist das Wirkliche. … Für das Selbst ist alles, was es sieht, nur Sinnestäuschung; es dauert nur einen Augenblick; wir sehen und wissen, es ist nicht „ich“; wie könnte das persönliche Selbst, das sich jeden Augenblick ändert, sagen: „Ich weiß alles ?“

Oriental Department Papers, 1895-6.

Es ist in der Tat bedeutungsvoll, dass Krishna, die Innere Gottheit, Arjuna nicht in der Einsamkeit einer Einsiedlerhütte unterrichtet, sondern inmitten des Waffenlärms auf dem Schlachtfeld, was den Eindruck vermittelt, dass es sich dabei um die Handlungen und Erprobungen des täglichen Lebens in der Welt handelt.

Fußnoten

1. Od – ein von Reichenbach zur Benennung der Lebensflüssigkeit gebrauchter Ausdruck – ist auch ein tibetisches Wort mit der Bedeutung Licht, Helligkeit, Strahlen (HPB, The Secret Doctrine, I:76, Fußnote). [back]