Band 10: Yoga und die Yoga-Lehre
Charles J. Ryan
Yoga und Theosophie
YOGA bedeutet wörtlich ‘Vereinigung’, ‘Verbindung’ und so weiter. In Indien ist es der technische Ausdruck für eine der sechs Darśanas oder philosophischen Schulen. Ihre Gründung wird dem Weisen Patañjali zugeschrieben. Der Name ‘Yoga’ selbst erklärt das Ziel dieser Schule, nämlich Vereinigung oder Einswerden mit der göttlich-spirituellen Essenz im Menschen.
– G. DE PURUCKER, Okkultes Wörterbuch
Echter Yoga leitet und erhebt das Bewusstsein. Er bewirkt dadurch die Verbindung des menschlichen mit dem spirituellen Bewusstsein, das in Beziehung zum universalen Bewusstsein steht. Das Zustandekommen dieser Verschmelzung oder das Einssein mit der eigenen göttlich-spirituellen Essenz bewirkt Erleuchtung.
– G. DE PURUCKER, Quelle des Okkultismus, I:50
In den letzten Jahrzehnten ist Yoga in unserer westlichen Gesellschaft ein recht vertrautes Wort geworden. Es ist ein dankbares Gesprächsthema und fast jeder kennt in seiner näheren Umgebung jemanden, der Yoga ‘betreibt’. In vielen Fällen wissen wir nicht viel mehr darüber, als dass es eine aus dem Osten importierte Übungsform ist, die durch bestimmte Körperhaltungen und Atemübungen einen positiven Einfluss auf die menschliche Konstitution ausüben kann. Abgesehen vom Einfluss auf die körperliche und psychische Verfassung des Menschen, kann man sich fragen, inwiefern die im Westen üblichen Yoga-Methoden für diejenigen von Nutzen sein können, die sich nach einem besseren Verständnis des Wesens des Menschen und seiner Bestimmung sehnen und die nach geistiger Weisheit suchen. Diese Frage wird Theosophen öfters gestellt, denn es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass die Theosophische Bewegung von östlichen Lehrern gegründet wurde. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem Menschen Einsicht in sein Leben zu verschaffen und ihm den Weg zur spirituellen Weisheit zu zeigen.
Wenn wir unter ‘Yoga’ die korrekte Bedeutung von ‘Vereinigung’ oder ‘Verbindung’ mit dem Höheren Selbst verstehen, können wir das Prinzip spiritueller Entwicklung oder Übung so bezeichnen. Dieses wird von der Theosophie befürwortet und ist für alle Menschen gleichermaßen gedacht, welcher Rasse oder welchem Glauben auch immer sie angehören mögen.
Wir müssen aber auch hinzufügen, dass dies kaum mit den niedrigeren psycho-physiologischen Yoga-Methoden übereinstimmt, die im Westen so sehr im Mittelpunkt des Interesses stehen. Die niedrigere Form von Yoga besteht prinzipiell hauptsächlich aus psycho-physischen Übungen, die im Osten entwickelt wurden. Aber der wahre Yoga, wie er von allen großen spirituellen Weisen und Sehern gelehrt wird, und den die Theosophie hervorhebt, ist eine wohl-geordnete spirituelle Ausbildung. Ihn auszuüben führt zur Entdeckung des Inneren Gottes. Das Wissen um diese Art von Yoga ist im materialistischen Westen nahezu verloren gegangen. Andeutungsweise fand es sich lediglich bei einzelnen erleuchteten christlichen Mystikern, und die äußeren Umstände verhinderten, dass es so öffentlich und ‘wissenschaftlich’ gelehrt werden konnte, wie es die Lehrer im Osten taten. Aber auch in den westlichen Ländern wurden Methoden entwickelt, die den intellektuellen und emotionalen Bedürfnissen entgegenkamen. Der Zustand der Glückseligkeit sollte durch Liebe, Zuwendung und gute Taten erreicht werden. Die Selbstdisziplin und die körperlichen Geißelungen der Mönche hingegen glichen den Methoden mancher sogenannter Hindu-Yogis, die versuchen, den Willen zu stärken und vielleicht ein paar übersinnliche Kräfte niedrigerer Ordnung zu erlangen, indem sie ihren Körper mit Feuer und Messern usw. in mancherlei Weise quälen. Ihre anstößigen Praktiken werden manchmal – ganz zu Unrecht – mit dem verwechselt, was man ‘Hatha-Yoga’ nennt.
Vor etwa hundert Jahren betrachtete man selbst den echten östlichen Yoga hier im Westen als ein Produkt der Fantasie, auf Aberglauben beruhend, als etwas, mit dem man sich nur lächerlich machen konnte. 1893 predigte ein aufrichtiger hinduistischer Sannyāsin1 in überzeugenden Worten eine hohe Form des Yoga im Westen; aber es war unvermeidlich, dass er von den meisten seiner Zuhörer falsch verstanden wurde. Die meisten waren oberflächlich oder lediglich neugierig und wurden hauptsächlich vom östlichen Glanz angezogen, welcher für sie die neueste Mode war, der aber gleichzeitig Einsichten in geheimnisvolle Enthüllungen bieten konnte. Als die Menschen entdeckten, dass der wahre Yoga nichts mit dem Praktizieren von ‘magischen Künsten’ zu tun hat, sondern dass er ein anstrengendes Bemühen um Selbstkontrolle und Selbstläuterung ist, blieb sein Publikum aus.
Wenn die gröberen Formen der Begierde überwunden sind, kommen andere, heimtückischere Formen der Selbstsucht zum Vorschein, auch wenn sie hinter wohlklingenden Namen verborgen sind. Dazu gehört beispielsweise das eigennützige Verlangen nach okkulten Fähigkeiten. Unsere Beweggründe sind nicht immer so rein, wie wir es uns selbst vormachen; und die selbstsüchtige Persönlichkeit ist besonders darauf aus, ihren Willen schlau durchzusetzen, indem sie den niedrigeren Verstand gebraucht. Der Yoga, den die Welt braucht, gründet auf der Liebe zur Wahrheit, Güte und Weisheit, ohne Nebenabsichten: Er macht das selbstlose Arbeiten für andere zu einer Gewohnheit und einer Freude. Dem Anfänger des theosophischen Yoga wird gesagt, dass „der erste Schritt darin besteht zu leben, um der Menschheit zum Segen zu sein“ und ihm wird die Frage gestellt: „Kann Seligkeit bestehen, wenn alles, was da lebt, leiden muss? Sollst du errettet sein und den Schmerzensschrei der ganzen Welt hören?“ (Die Stimme der Stille, S. 94).
Wir müssen verstehen, dass die theosophische Sichtweise der spirituellen Selbstkontrolle – des Yoga – oder welchen Namen man ihr auch immer geben mag, auf diesem Prinzip beruht, und dass sie der einzige Weg ist, der uns aus dem Gefängnis des Niederen Selbstes in das Licht des ewigen Tages führt. Es ist erschütternd zu beobachten, wie intelligente Menschen, die von den konventionellen Antworten auf tiefere Lebensfragen und Fragen über den Menschen selbst enttäuscht werden, aufgrund ihrer Unwissenheit in verschiedenen Richtungen nach Antworten suchen und dabei auf irreführende, fruchtlose und mitunter sogar gefährliche Abwege geraten, während der wahre Weg offen vor ihnen liegt, die Wegweiser da sind und die Führer bereitstehen, um die richtige Richtung anzudeuten.
Die niedrigeren Yoga-Praktiken, welchen der Westen in letzter Zeit viel Interesse entgegenbringt, haben durch unfachmännische Experimente im Bereich der Atemkontrolle oder Prāṇāyāma (wörtlich „Beherrschung des Atems“), mit besonderen Körperhaltungen und anderen psycho-physiologischen Methoden vielen Menschen ernsthaften Schaden zugefügt. Nicht nur der Körper kann dabei geschädigt werden. Vielmehr kann es auch passieren, dass uns unbekannte, elementale Kräfte erweckt werden, die dem Menschen gefährlich werden können und die eine Bedrohung für den Verstand, die moralische Integrität und sogar für das Leben selbst darstellen.
Wer der Versuchung erliegt, das Tor zu psychischen Erfahrungen zu öffnen, tut gut daran, das Sprichwort von den schlafenden Hunden, die man nicht wecken sollte, im Sinn zu behalten. Ebenso wie Bulwer-Lytton in Zanoni, zeigt H. P. Blavatsky in ihrem Buch A Bewitched Life [Ein verhextes Leben] in Erzählungen das Leiden und das Elend auf, das durch das Betreten von ‘verbotener Erde’ verursacht wird. Die Menschen in den Erzählungen hatten gute Absichten, klopften aber nicht in der richtigen Art und Weise an. Die beiden okkulten Schriftsteller hatten genaue und persönliche Kenntnisse über diese Thematik. Keine intellektuelle Schulung, auch nicht westliche wissenschaftliche Untersuchungsmethoden, können die Sicherheit eines solchen Unterfangens garantieren, und das gilt gleichermaßen sowohl für östliche als auch für westliche Menschen.
Bedauerlicherweise ist bereits vielen Menschen durch die Anwendung der Atemkontrolle erheblicher Schaden entstanden, bei der das empfindliche Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Prāṇas gestört wurde, von denen Leben und Gesundheit abhängig sind, oft von der leider zu späten und bitteren Einsicht gefolgt, dass man besser den gutgemeinten Warnungen Gehör geschenkt hätte. Solche Tragödien sind üblicherweise eine Folge der Unwissenheit über diese Gefahren. Einige Menschen mit einem übersteigerten Selbstvertrauen sind bereit, jedes Risiko einzugehen, um sich der verbotenen Kräfte zu bemächtigen. ‘Verboten’ sind diese Kräfte in dem Sinne, dass wir in dieser Evolutionsperiode – ausgenommen einige wenige weiter Fortgeschrittene unter uns – das Recht noch nicht erworben haben, sie zu besitzen und die Qualität noch nicht entwickelt haben, diese Kräfte beherrschen zu können. Diese Kräfte sind durch die weise Vorsehung der Natur nicht ohne weiteres zugänglich, und jene, die ungeschickt sind, werden zu Opfern und nicht zu Meistern. H. P. Blavatsky sagt über diese Menschen, dass sie leicht „der Zauberei und der schwarzen Magie verfallen und dadurch ein furchtbares Karma für sich selbst anhäufen können, das sich über viele Inkarnationen hin auswirken wird“. Es „bestehe sogar die Gefahr, dass die gegenwärtige Persönlichkeit vernichtet werde“.
Jenen, die die Alte Weisheit studierten, wurde von Versuchen abgeraten, aus dem materiellen Körper auszutreten und im Astralen zu reisen. Leider werden im Namen der Theosophie manchmal Methoden propagiert, die das Ziel haben, den etherischen Körper von seiner materiellen Hülle zu lösen und im Astralen umherzustreifen, mit seinen fremden und bestürzenden Täuschungen, mit seinen uns unbekannten Gefahren und uns teilweise feindlich gesinnten Bewohnern. Derartige Methoden widersprechen aber ganz und gar den Lehren H. P. Blavatskys und den gesunden Idealen vom Dienst an der Menschheit. Zahlreiche Fälle zeugen von den unheilvollen Folgen für Verstand und Körper von solchen Menschen, die es zwar gut meinten, aber dennoch zu wenig wussten und sich widernatürlich vom Schutz des physischen Körpers lösten.
Die Warnungen vor unverantwortlichen Versuchen, durch Atemkontrolle und andere Hatha-Yoga-Übungen gewisse Bewusstseinszustände zu erlangen, beziehen sich selbstverständlich nicht auf vollkommen gesunde Atem- und Körperübungen, die im Sporttraining üblich sind. Es ist bedauerlich, dass es noch immer irreführende Auffassungen über Yoga gibt und dass so viele arglistige Sirenen ihre verführerischen Melodien singen, um unvorsichtige Menschen anzulocken. Auch gibt es mancherlei Hellseher, echte oder weniger echte, die ihre Praktiken unter der Bezeichnung ‘Yogi’ ausüben; man sollte sie aber eher als Wahrsager bezeichnen. Anstelle eines seriösen und wertvollen Buches über die Philosophie des höheren Yoga aus dem Osten, werden dem Publikum Dutzende von Titeln angeboten, die eine ungesunde Neugierde nach Phänomenen schüren und die Schriftsteller kümmern sich nicht darum, ob die von ihnen empfohlenen Übungen gefährlich sind oder nicht. Vielleicht sind sie in manchen Fällen selbst unwissend, aber ihre Intention ist es, ein kommerzielles Produkt zu verkaufen. Andere, die es noch weniger genau nehmen, bieten für Geld Fernunterricht an und behaupten, dass auf diese Weise die psychischen Zentren und damit auch die pranischen Kräfte im Körper erweckt werden können. Es ist aber sehr gefährlich für die Gesundheit des Körpers und der Seele, wenn das natürliche Gleichgewicht gestört wird. Wieder andere versprechen Entspannung und ‘Einweihung’ gegen Bezahlung. Müssen wir uns da noch wundern, dass die echten Mysterienschulen vor Entweihungen solcher Art sicher abgeschirmt wurden (und werden) ?
Es gibt auch andere Formen des psychischen Yoga, die in keiner Weise von geistiger Natur sind, wenn sie auch nicht so allgemein zum Handelsobjekt gemacht werden. Sie gründen sozusagen auf einer Art wissenschaftlicher Technik, um teilweise hinter den Schleier der materiellen Natur vorzudringen. Aber diese Technik ist nicht geistiger oder ethischer als z. B. die Chemie und kann ebenso wie die Chemie für verwerfliche Zwecke verwendet werden. In den Händen von Menschen, deren Herz und Seele nicht vollkommen rein und selbstlos sind – und wie wenige sind das –, kann diese Technik genauso zerstörerisch wirken wie eine Mischung von Chemikalien in den Händen eines unwissenden und neugierigen Kindes. Alexandra David-Neel, eine buddhistische Gelehrte und maßgebliche Kapazität auf dem Gebiet des tibetischen Okkultismus, sowie Lama Yongden und andere kompetente Personen beschrieben viele Fälle, in denen Gefühle der Rache, des Ehrgeizes oder der Eitelkeit boshafte Menschen in Tibet dazu brachten, sich dieser Technik zu bemächtigen, ohne sich um die Folgen für andere und meist auch für sich selbst zu kümmern.
Aber abgesehen von jenen, die solche minderwertigen Ambitionen haben, gibt es viele intelligente Menschen, die nicht nur die ‘Eitelkeiten’ dieser Welt aufgeben, sondern gleichzeitig auch noch die gesunden Aktivitäten und Pflichten vernachlässigen, um durch niedrigere Yoga-Techniken persönlichen Fortschritt zu erlangen. Sie denken zu Unrecht, dass dies der einzige Weg zur Erkenntnis sei und konzentrieren sich auf ihre eigene Errettung und Seligkeit, ohne dabei das Wohlergehen der gesamten Menschheit vor Augen zu haben, die sich dann selbst darum kümmern muss, wie sie ihr Ziel erreichen kann. Dasselbe Prinzip der Erlösung für sich selbst ist in einer etwas anderen Form auch in den christlichen Ländern nicht unbekannt. Man muss allerdings hinzufügen, dass hier mittlerweile das Verantwortungsbewusstsein den ärmeren Ländern gegenüber zunimmt.
Eine Haltung des ganz und gar auf sich selbst gerichteten Seins ist das letzte, was ein wahrer Yogi gutheißen würde, denn hierdurch werden die Grundregeln der Bruderschaft verleugnet. Echter Yoga kann ohne Einsicht in die menschliche Natur nicht existieren, verbunden mit Mitleid und dem Verlangen zu helfen sowie dem wahrhaftigen Streben, den am wenigsten Fortgeschrittenen die schwere Last spiritueller und intellektueller Unwissenheit zu erleichtern, „selbst den Geringsten von ihnen“. Wahrer Yoga kennt keine ‘Unberührbaren’. H. P. Blavatsky schreibt in ihrem Buch Studies in Occultism:
…Wahrer Okkultismus oder Theosophie ist die ‘Große Entsagung des SELBST“, bedingungslos und absolut, in Gedanken wie in Taten’.
– S. 28 (engl.)
… Es ist nicht möglich, spirituelle Kräfte anzuwenden, solange auch nur der geringste Rest von Selbstsucht in dem Ausübenden vorhanden ist. Denn wenn das Motiv nicht absolut rein ist, wird das Spirituelle sich in das Psychische umwandeln, auf der Astralebene wirken und schreckliche Folgen können dadurch hervorgebracht werden. Die Mächte und Kräfte der tierischen Natur können gleichermaßen von selbst- oder rachsüchtigen wie auch von unselbstsüchtigen und alles verzeihenden Menschen benutzt werden; die Mächte und Kräfte des Geistes eignen sich nur für diejenigen, die ganz und gar reinen Herzens sind – und das ist GÖTTLICHE MAGIE.
– S. 3 (engl.)
Diese Erde ist unser Zuhause und wird es noch lange sein. Die Welt hat alle Hilfe nötig, die starke Seelen ihr geben können. In dem Maße, in dem wir auf diesem Weg vorwärts kommen, werden alle unsere Fähigkeiten – spirituelle, intellektuelle und sogar psychische – uns in einem natürlichen Prozess der Evolution unterstützen, weil sie durch die richtige Bestrebung hervorgerufen wurden. Die spirituelle Intuition in dieser entmutigten und materialistischen Welt für selbstloses Streben zu erwecken, ist der einzige Yoga, der der Mühe wert ist. Es ist der Yoga der Theosophie. Er stellt uns vor eine drängende Frage: „Werde ich mein Leben so gestalten, dass es nützlicher wird, dass ich mehr Bereitschaft zeige und imstande sein werde, der Menschheit so zu dienen, wie mein Gewissen es mir vorschreibt?“
Die Meister, welche die Theosophische Bewegung gründeten, sind mit dem psycho-physischen System des Yoga vollkommen vertraut, das bestimmte Körperübungen und Atemprozesse (das niedrigere Hatha-Yoga) zur Einführung oder als Grundlage für höhere Übungen zum Gegenstand hat. Aber aus der eigenen Erfahrung kennen sie die ernsthaften Schwierigkeiten und sie haben nie zugelassen, dass Yoga in der Theosophischen Bewegung praktiziert wurde, wie interessant es auch für die Wissenschaftler dieser Art von Psychologie sein mag. Von jeder Neigung, ‘Yoga zu praktizieren’, wird dringend abgeraten und zwar aus sehr guten Gründen. In diesem Zusammenhang ist es gut, wenn wir uns an die Erzählung von Buddha erinnern, der seine Suche nach der Wahrheit mit dem Ausüben des niedrigeren Yoga, der strengen Askese, begann. Schon bald merkte er, dass sie seinem Fortschritt im Wege stand, sogar in seinem besonderen Fall.
Für die ernsthaft nach Seelenweisheit Strebenden kommt die Zeit, dass ungewöhnliche psycho-spirituelle Kräfte und Fähigkeiten sich auf ganz natürliche Weise zu entwickeln beginnen. Und unter diesen günstigen Umständen wird es für sie nicht schwierig sein, einem wahren Lehrer zu begegnen, der ihre weitere Entwicklung führen kann. Eine okkulte Redensart lautet: „Wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer“. Die Weisen suchen fortwährend nach Anwärtern für die Armee des Lichtes und der Befreiung. Zu allen Zeiten gab es Menschen, die als würdig erachtet wurden, in dieser Weise begleitet zu werden, ungeachtet ihrer Religion oder ihrer philosophischen Überzeugung.
Auch die Geschichte der Theosophischen Bewegung kennt solche Fälle. Ein markantes Beispiel ist das eines intellektuellen und spirituell entwickelten jungen Hindus, der H. P. Blavatsky nach ihrer Ankunft in Indien unterstützte, wo sie unter großen Schwierigkeiten ihre erste theosophische Zeitschrift veröffentlichte. Dieser junge Mann, Dāmodar K. Māvalankar, gab seinen stolzen brahmanischen Kastenstand und eine glänzende, vor ihm liegende weltliche Karriere auf, um sich mittels der Theosophie der selbstlosen Arbeit für die Menschheit zu widmen. Sein Ernst und seine Zuwendung erregten die Aufmerksamkeit der Meister der Weisheit und des Mitleids, die hinter der Arbeit der Theosophischen Bewegung stehen. Er entdeckte, dass in ihm allmählich und ohne besondere Anstrengung neue Kräfte, körperliche wie auch mentale und sogar psycho-spirituelle Kräfte erwachten und für die große Aufgabe des Dienens, die ihm bevorstand, zur Verfügung standen.
Dāmodar ist das leuchtende Vorbild eines wahren Schülers. Die von ihm entwickelten Fähigkeiten waren für die Bedingungen, die er ins Leben gerufen hatte, vollkommen normal. Er strebte sie nicht um persönlicher Befriedigung willen an, noch stellte er sie jemals zur Schau, um jene nicht anzuspornen, die egoistisch nach psychischen Kräften strebten. Ein weiteres, für sich selbst sprechendes Beispiel für das gleiche Verhalten verkörperte innerhalb der Theosophischen Bewegung William Quan Judge. Und die Geschichte kennt noch andere.
Diese ergebenen Menschen hatten das erhabene Ziel der menschlichen Evolution vor Augen: das Einswerden mit dem Inneren Gott, dem ‘Vater im Himmel’. Das Beschreiten dieses Pfades sowie das Entwickeln des geistigen Hellsehens, erfordern keine physischen Übungen oder körperlichen Quälereien – und sicher nicht das Aufgeben jeglichen Kontaktes zu den Mitpilgern auf dem emporführenden Lebensweg. Die für uns notwendigen Erfahrungen liegen im Straucheln und Wiederaufstehen in unserem Leben verborgen, darin, dass wir das Unvermeidliche frohen Mutes annehmen und dass wir die karmischen Schwierigkeiten anderer verständnisvoll miterleben, die oftmals der Hilfe bedürfen, um sich selbst helfen zu können. Der theosophische ‘Brahma Yogi’ ist der Mann oder die Frau, an den oder an die sich die anderen, die sich gerade in Schwierigkeiten befinden, instinktiv wenden, um Rat zu erhalten. Der Brahma Yogi ist der Friedenstifter, zu Hause und überall.
William Quan Judge fasst den theosophischen Yoga in überzeugenden Worten wie folgt zusammen:
Was also ist das wahre Heilmittel, der königliche Talisman? Es ist PFLICHT, Selbstlosigkeit. Beständige Pflichterfüllung ist der höchste Yoga. … Auch wenn Sie nichts anderes tun können als Ihre Pflicht, sie wird Sie zum Ziel führen.
– Letters That Have Helped Me, Teil II, S. 3
Es ist die grenzenlose barmherzige Liebe, die Buddha veranlasste zu sagen: „Lasst die Sünden dieses dunklen Zeitalters auf mich fallen, auf dass die Welt errettet werde“, und nicht der Wunsch zu entfliehen oder das Verlangen nach Wissen. Dies kommt in den Worten zum Ausdruck: „DER ERSTE SCHRITT IN WAHRER MAGIE IST HINGABE FÜR DAS WOHL ANDERER.“
– Ebenda, S. 19
Fußnoten
1. Sannyāsin (Sanskrit): Jemand, der die Bande und die Anziehung der Welt aufgibt, um der spirituellen Natur zu dienen. [back]