Die Stimme der Stille
Helena Petrovna Blavatsky
FRAGMENT II.
DIE ZWEI PFADE
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Und nun, Lehrer des Mitleids, zeige anderen Menschen den Weg. Sieh’, alle, die um Einlaß anklopfen, warten in Unwissenheit und Dunkelheit darauf, daß sich das Tor des Gütigen Gesetzes weit öffnet!
Die Stimme der Kandidaten:
Wirst du, Meister eigener Barmherzigkeit, uns die Herzenslehre enthüllen? Wirst du es ablehnen, deine Diener auf den Pfad der Befreiung zu führen?
Der Lehrer:
Es gibt zwei Pfade und drei große Vollkommenheiten, sowie sechs Tugenden, die den Körper in den Baum der Erkenntnis verwandeln.
Wer wird sich ihnen nähern?
Wer wird sie als erster praktizieren?
Wer wird zuerst die Lehre von den zwei Pfaden, die eigentlich nur einen erlaubt, vernehmen, die unverschleierte Wahrheit über das Geheime Herz? Das Gesetz, das Schulgelehrsamkeit scheut, lehrt Weisheit und offenbart eine Geschichte des Leides.
O, wenn doch alle Menschen von Alaya Besitz ergreifen würden und mit der großen Seele eins wären. Wie schade, daß sie sich Alaya so wenig zu Nutze machen!
Sieh’, genau wie der Mond von den ruhigen Wellen widerspiegelt, so wird Alaya vom Kleinen wie vom Großen reflektiert, er spiegelt sich im winzigsten Atom und dennoch gelingt es ihm nicht, das Herz von allem zu erreichen. Schade, daß so wenig Menschen aus der Gabe Nutzen ziehen und die unschätzbare Wohltat, die Wahrheit, die richtige Wahrnehmung der existierenden Dinge und die Erkenntnis dessen, was hinter ihnen liegt, erlangen können!
Der Schüler fragt:
Was, o Lehrer, soll ich tun, um Weisheit zu erlangen?
Was, o Weiser, um vollkommen zu werden?
Such’ nach den Pfaden. Aber, o Lanu, sei reinen Herzens, ehe du deine Reise beginnst. Lerne noch vor deinem ersten Schritt, das Wirkliche vom Falschen, das immer Flüchtige vom ewig Dauernden zu unterscheiden. Lerne vor allem, Kopfwissen von der Seelenweisheit, die »Augen-« von der »Herzenslehre« zu trennen.
Ja, Unwissenheit ist wie ein verschlossenes, luftleeres Gefäß und die Seele wie ein in ihm eingeschlossener Vogel. Er zwitschert nicht und ist unfähig, eine Feder zu rühren. Stumm und betäubt sitzt der Sänger und stirbt schließlich vor Erschöpfung.
Unwissenheit ist immer noch besser als ein von keiner Seelenweisheit erleuchtetes, gelenktes Kopfwissen.
Die Samen der Weisheit können im luftleeren Raum nicht sprießen und wachsen. Um zu leben und Erfahrung zu sammeln, benötigt der Verstand Weite, Tiefe und Anhaltspunkte, die ihn zur Diamant-Seele führen. Suche diese Anhaltspunkte nicht in Māyās Reich, erhebe Dich vielmehr über die Illusionen, suche das ewige und wechsellose SAT und mißtraue den falschen Vorspiegelungen der Einbildungskraft.
Der Verstand gleicht einem Spiegel. Während er reflektiert, sammelt er Staub. Er benötigt die sanften Brisen der Seelenweisheit, um den Staub der Illusionen wegzuwischen. Suche, Anfänger, deinen Verstand und deine Seele harmonisch zu verbinden.
Vermeide Unwissenheit und halte dich von Illusion fern. Wende dein Gesicht ab von den Täuschungen der Welt. Mißtraue deinen Sinnen, denn sie sind fehlerhaft. Suche jedoch im Inneren deines Körpers – im Schrein deiner Empfindungen – im Unpersönlichen nach dem »ewigen Menschen«, und wenn du ihn gefunden hast, dann schaue nach innen: Du bist Buddha.
Scheu’ Lob, Ergebener. Lob führt zur Selbsttäuschung. Der Körper ist nicht das Selbst, dein wahres SELBST ist körperlos, unberührbar von Lob und Tadel.
Selbstgefälligkeit, o Schüler, gleicht einem hochragenden Turm, den ein anmaßender Tor erstiegen hat. Dort sitzt er in stolzer Einsamkeit. Keiner nimmt ihn wahr, nur er sich selbst.
Falsche Gelehrsamkeit wird von den Weisen abgelehnt und vom guten Gesetz in alle Winde zerstreut. Sein Rad dreht sich für alle, für Bescheidene und Stolze. Die »Augenlehre« ist für die Vielen, die »Herzenslehre« für die Auserwählten. Erstere brüsten sich voll Stolz: »Sieh’ her, ich weiß«; letztere, die ihren Wissensschatz in Demut sammelten, bekennen leise: »So habe ich gehört«.
Die »Herzenslehre«, Schüler, wird »Großes Sieb« genannt.
Das Rad des guten Gesetzes bewegt sich rasch weiter. Es mahlt bei Nacht und Tag. Wertlose Spreu fegt es weg vom goldenen Korn, vom Mehl den Abfall. Die Hand Karmas lenkt das Rad, seine Umdrehungen markieren die karmischen Herzschläge.
Wahres Wissen ist das Mehl, falsche Gelehrsamkeit die Spreu. Wenn du das Brot der Weisheit kosten möchtest, mußt du dein Mehl mit Amritas1 klaren Wassern durchkneten. Falls du jedoch die Spreu mit Māyās Tau durchknetest, kannst du nur Nahrung für die schwarzen Tauben des Todes bereiten, für die Vögel, die Geburt, Verfall und Leid verheißen.
Wenn man dir sagt, um ein Arhan zu werden, müßtest du aufhören, alle Wesen zu lieben – sage ihnen, sie lügen.
Wenn man dir sagt, um Befreiung zu erlangen, müßtest du deine Mutter hassen und deinen Sohn vernachlässigen, müßtest du deinen Vater verleugnen, ihn »Haushalter« nennen und dürftest gegen Mensch und Tier keinerlei Mitleid zeigen – sage ihnen, ihre Zunge spricht die Unwahrheit.
Solches lehren die Tīrthikas, die Ungläubigen2.
Wenn man dich lehrt, aus Tätigkeit entstünde Sünde und aus absoluter Untätigkeit Seligkeit, dann sage ihnen, sie irrten sich. Die Nichtausführung menschlicher Handlung, die Befreiung des Verstandes aus der Knechtschaft durch Einstellung von Sünden und Fehlern ist nichts für »Deva Egos«3. So sagt die »Herzenslehre«.
Der Dharma des »Auges« verkörpert das Äußerliche und das Nichtewige.
Der Dharma des »Herzens« verkörpert Bodhi4, das Beständige und Ewige.
Die Lampe brennt hell, wenn der Docht und das Öl rein sind. Um sie aber rein zu machen, ist ein Reiniger vonnöten. Die Flamme fühlt den Prozeß der Reinigung nicht. »Die Zweige eines Baumes werden vom Wind geschüttelt, doch der Stamm bleibt unbewegt.«
Tätigkeit und Untätigkeit können in dir Raum finden. Während dein Körper tätig ist, kann dein Geist ruhig, deine Seele klar wie ein Bergsee sein.
Willst du ein Yogi der »Zeitperiode« werden? Dann, o Lanu: –
Glaube nicht, du müßtest dich in stolzer Abgeschlossenheit und fern von Menschen in dunklen Wäldern aufhalten. Glaube nicht, es sei nötig, von Wurzeln und Pflanzen zu leben und du müßtest deinen Durst mit Schnee des großen Gebirges stillen – glaube nicht, Ergebener, ein solches Verhalten würde dich zum Ziel der endgültigen Befreiung führen.
Denke nicht, du müßtest deine Knochen zerbrechen, dein Fleisch und deine Muskeln zerreißen, um dich mit deinem »Stillen Selbst« zu vereinigen. Denke nicht, wenn die Sünden deiner groben Form besiegt sind, o Opfer deiner Schatten, deine Pflicht gegenüber der Natur und dem Menschen wäre erfüllt.
Die Erhabenen haben solche Handlungsweisen verschmäht. Der Löwe des Gesetzes, der Herr des Erbarmens5, entsagte der süßen, aber selbstsüchtigen Ruhe in stiller Wildnis, sobald er die wahre Ursache des menschlichen Leides erkannt hatte. Aus einem Āranyaka wurde Er der Menschheit Lehrer. Nachdem Julai in Nirvāna eingegangen war, predigte Er auf den Bergen und in den Tälern und hielt Zwiesprache in den Städten mit Devas, Menschen und Göttern.
Säe liebevolle Taten und du wirst ihre Früchte ernten. Wenn Barmherzigkeit not tut, wird Untätigkeit zu einer Tat der Todsünde.
So sagt der Weise.
Sollst du dich der Tätigkeit enthalten? Auf diese Weise wird deine Seele keine Freiheit gewinnen. Um Nirvāna zu erreichen, muß man erst Selbsterkenntnis erlangen, und Selbsterkenntnis ist das Kind liebevoller Taten.
Habe Geduld, Kandidat, gleiche jenem, der keinen Fehlschlag fürchtet und keinen Erfolg erstrebt. Richte den Blick deiner Seele fest auf den Stern, dessen Strahl du bist, auf den flammenden Stern, der in den dunklen Tiefen des Immerseienden, den grenzenlosen Gefilden des Unerkennbaren leuchtet.
Habe Ausdauer wie einer, der für immer ausharrt. Deine Schatten leben und vergehen. Das, was in dir für immer leben wird, das, was in dir weiß, weil es Wissen ist, ist nicht von flüchtigem Leben: es ist der Mensch, der war, der ist und sein wird, für den die Stunde niemals schlägt.
Wenn du süßen Frieden und Ruhe ernten willst, Schüler, säe verdienstvolle Samen auf die Felder zukünftiger Ernten. Nimm die Leiden der Geburt auf dich.
Tritt aus dem Sonnenlicht in den Schatten, um mehr Platz für andere zu schaffen. Tränen, die den ausgetrockneten Boden des Leids und der Sorge bewässern, bringen die Blüten und Früchte karmischer Wiedervergeltung hervor. Aus dem Schmelzofen des menschlichen Lebens und seinem schwarzen Rauch erheben sich beschwingte, gereinigte Flammen, die unter dem Auge Karmas emporzüngeln und schließlich den herrlichen Stoff der drei Gewänder des Pfades weben.
Diese Gewänder sind: Nirmānakāya, Sambhogakāya und Dharmakāya, das erhabenste Gewand.
Wahr ist’s das Shangna-Gewand kann ewiges Licht verleihen. Nur das Shangna-Gewand bewirkt das Nirvāna des Verlöschens. Es verhindert das Wiedergeborenwerden, aber es tötet auch, Lanu – das Mitleid. Die vollkommenen Buddhas, die sich mit der Herrlichkeit des Dharmakāya bekleiden, können nicht länger an der Erlösung der Menschheit mitwirken. Wehe! Sollen die SELBSTE dem Selbst geopfert werden, die Menschheit dem Wohle einzelner?
Wisse, Anfänger, dies ist der Offene PFAD, der Weg zu selbstsüchtiger Glückseligkeit, gemieden von den Bodhisattvas des »Geheimen Herzens«, den Buddhas des Mitleids.
Für das Wohl der Menschheit zu leben ist der erste Schritt. Die sechs glorreichen Tugenden auszuüben ist der zweite.
Das bescheidene Kleid des Nirmānakāya anzuziehen bedeutet, ewige Glückseligkeit dem Selbst zu opfern und bei der Erlösung der Menschen mitzuhelfen. Nirvānas Glückseligkeit zu erreichen aber auf sie zu verzichten, ist der beste, letzte Schritt – der höchste auf dem Pfad der Entsagung.
Wisse, Schüler, dies ist der Geheime PFAD, erwählt von den Buddhas der Vollkommenheit, die Das SELBST opferten, um schwächerer Selbste willen.
Falls jedoch die »Herzenslehre« für dich zu hochfliegend ist, wenn du selbst noch der Hilfe bedarfst und dich fürchtest, anderen Hilfe anzubieten – dann, du furchtsames Herz, sei beizeiten gewarnt: Begnüge dich mit der »Augenlehre« des Gesetzes. Hoffe dennoch! Selbst wenn der »Geheime Pfad« an diesem »Tag« für dich noch unerreichbar ist, so ist er doch »morgen« in deiner Reichweite. Lerne, daß keine einzige Anstrengung, und wäre sie noch so klein, ob in der richtigen oder falschen Richtung, aus der Welt der Ursachen verschwinden kann. Nicht einmal unnützer Rauch verschwindet spurlos. »Ein hartes Wort, in früheren Leben einst geäußert, wird nie zunichte. Immer wieder kehrt’s zurück.«6
Nie wird die Pfefferstaude Rosen tragen, niemals des süßen Jasmins Silberstern in Dornen oder Disteln sich verwandeln.
Du kannst »heute« bereits deine Chancen für dein »morgen« schaffen. Die Ursachen, die du in jeder Stunde säst, bringen auf der »Großen Reise« ihre entsprechende Ernte von Wirkungen, denn strenge Gerechtigkeit regiert die Welt. Mit mächtigem Schwung und niemals irrender Wirkung bringt sie den Sterblichen ein Leben zum Wohl oder Wehe, die karmischen Früchte all unserer früheren Gedanken oder Taten.
So heimse denn ein, du mit geduld’gem Herz, was an Verdienst für dich bereitliegt. Sei guter Dinge und zufrieden mit dem Schicksal. Es ist dein Karma, das Karma aus dem Zyklus deiner Geburten, das Schicksal jener, die mit dir zusammen geboren wurden, in ihrem Schmerz und Leid, die Leben um Leben lachen und weinen, gekettet an deine früheren Taten.
Handle darum »heute« für sie und sie werden »morgen« für dich handeln.
Es ist die Knospe der Selbstverleugnung, aus der die süße Frucht der endgültigen Befreiung entspringt.
Verdammt zum Untergang ist der, der aus Furcht vor Māra seinen Mitmenschen nicht hilft, aus Angst, er könnte für das Ich handeln. Der Pilger, der seine müden Glieder im dahinfließenden Wasser kühlen möchte, jedoch aus Angst vor dem Strom nicht hineintaucht, riskiert, der Hitze zu erliegen. Untätigkeit, auf selbstsüchtige Furcht begründet, kann nur üble Frucht hervorbringen.
Der selbstsüchtige Frömmler verbringt sein Leben ohne Zweck. Der Mensch, der sein festgelegtes Lebenswerk nicht ausführt, hat vergebens gelebt.
Folge dem Rad des Lebens, folge dem Rad der Pflicht gegenüber der Rasse, der Verwandtschaft, dem Freund und Feind und verschließe dein Gemüt gegen Freude und Schmerz. Erschöpfe das Gesetz karmischer Vergeltung. Verdiene Siddhis für deine zukünftige Geburt.
Kannst du nicht Sonne sein, sei ein bescheidener Planet. Ja, falls es dir versagt ist, gleich der Mittagssonne auf die schneebedeckten Berggipfel ewiger Reinheit herabzubrennen, dann wähle, o Neophyt, eine bescheidenere Bahn.
Weise den »Weg« – so undeutlich und verloren er der großen Menge auch erscheinen mag – gleichwie der Abendstern jenen leuchtet, die ihren Pfad im Dunkeln gehen.
Betrachte Migmar7, wie in seinen karmesinroten Schleiern sein »Auge« über die schlummernde Erde schweift. Betrachte die feurige Aura von Lhagpas8 »Hand«, ausgestreckt in schützender Liebe über den Häuptern seiner Asketen. Beide sind sie nun Nyimas9 Diener, während ihrer Abwesenheit zurückgelassen als stille Wächter in der Nacht. Und doch waren beide in vergangenen Kalpas selber glänzende Nyimas und mögen wohl in künftigen »Tagen« zwei Sonnen wiederum sein. So ist das Ab und Auf des karmischen Gesetzes in der Natur.
Sei ihnen gleich, o Lanu. Gib Licht und Trost dem schwer sich mühenden Pilger und suche den, der noch weniger weiß als du, der in seiner unglücklichen Einsamkeit sitzt, hungernd nach dem Brot der Weisheit und dem Brot, das den Schatten nährt, ohne Lehrer, Trost und Hoffnung – ihn lasse das Gesetz hören.
Sage ihm, o Kandidat, wer Stolz und Eigennutz zu Sklaven der Hingabe macht, wer, obwohl noch an der Existenz klebend, seine Geduld und sich selbst vor dem Gesetz niederlegt, wie eine süße Blume zu Füßen von Shakya-Thub-pa10, wird noch in dieser Geburt ein Srotāpatti. Die Siddhis der Vollkommenheit mögen in weiter, weiter Ferne liegen, doch der erste Schritt ist getan, der Strom betreten. Er kann des Bergadlers Augenschärfe und das feine Ohr des scheuen Rehs erwerben.
Sage ihm, Aspirant, daß wahre Ergebenheit ihm das Wissen zurückbringen kann, jenes Wissen, das er bereits in früheren Geburten besaß. Freilich, das Deva-Auge und das Deva-Ohr können nicht in einer kurzen Lebenszeit erlangt werden.
Sei bescheiden, wenn du Weisheit erlangen willst.
Sei noch bescheidener, wenn du Weisheit gewonnen hast.
Sei wie der Ozean, der alle Ströme und Flüsse in sich aufnimmt. Des Ozeans gewaltige Ruhe bleibt unbewegt, er fühlt sie nicht.
Dein niederes Selbst beherrsche durch dein göttliches Selbst.
Das Göttliche zügle durch das Ewige.
Ja, der ist groß, der die Begierde besiegt.
Noch größer ist der, in dem das Göttliche Selbst auch noch das Wissen um die Begierde verloren hat.
Bewache das Niedere, damit es das Höhere nicht befleckt.
Der Weg zur endgültigen Befreiung liegt allein in deinem SELBST.
Jener Weg beginnt und endet außerhalb des Selbst.
Von den Menschen ungepriesen und gering ist die Mutter aller Flüsse in den stolzen Augen eines Tīrthikas, leer die menschliche Erscheinungsform in der Narren Auge, obwohl sie angefüllt ist mit den süßen Wassern Amritas. Dabei liegt der Geburtsort der heiligen Flüsse im heiligen Land, und der, der Weisheit hat, ist von allen Menschen hoch geehrt.
Arhans und Weise mit unbegrenzter Vision sind so selten wie die Blüten des Udumbara-Baumes. Zur mitternächtlichen Stunde sind die Arhans geboren, zusammen mit der heiligen Pflanze mit neun und sieben Stengeln, der heiligen Blume, die sich im Dunkeln öffnet und blüht, dem reinen Tau entsprossen und dem eisigen Bett der schneebedeckten Höhen, die noch kein sündiger Fuß betreten hat.
Man wird in der Geburt kein Arhan, Lanu, in der die Seele zum erstenmal beginnt, nach endgültiger Befreiung zu verlangen. Jedoch, o Strebender, keinem Krieger, der freiwillig im heftigen Kampf zwischen dem Lebenden und dem Toten kämpft, selbst dem Rekruten nicht, kann das Recht verweigert werden, den Pfad zu betreten, der ihn zum Schlachtfeld führt.
Er muß gewinnen oder fallen.
Wahrlich, wenn er siegt, gehört Nirvāna ihm. Ehe er noch den Schatten seiner sterblichen Hüllen abgelegt hat, die schreckliche Ursache von Qual und unermeßlichem Leid – werden die Menschen in ihm einen großen, heiligen Buddha ehren.
Selbst wenn er fällt, fällt er nicht vergebens. Die Feinde, die er in der letzten Schlacht erschlug, werden in seiner nächsten Geburt nicht zu neuem Leben erwachen.
Aber ob du nun Nirvāna erreichst oder den Preis ausschlägst, lasse die Frucht deines Handelns oder Nichthandelns nicht dein Motiv sein, du unerschrockenes Herz.
Wisse, daß man den Bodhisattva, der Befreiung mit Entsagung tauscht, um die Leiden des »Geheimen Lebens« auf sich zu nehmen, den »dreimal Gepriesenen« nennt, o Kandidat des Wehs, dem ein Leidensweg für viele Zyklen bevorsteht.
Es gibt nur einen PFAD, Schüler, doch er gabelt sich am Ende. Seine Teilstrecken sind durch vier und sieben Tore gekennzeichnet. Am einen Ende steht unmittelbare Seligkeit, am anderen ist sie noch hinausgeschoben. Beide sind des Lohnes wert. Die Wahl jedoch mußt du selbst treffen.
Der eine wird zu zweien, zum Offenen und zum Geheimen Pfad. Der erste führt zum Ziel, der zweite zur Selbstaufopferung.
Wenn das Unbeständige dem Ewigen geopfert wird, ist der Preis dein. Der Tropfen kehrt dahin zurück, woher er kam. Der Offene PFAD führt hin zur unveränderlichen Wandlung – zum Nirvāna, dem glorreichen Stadium der Absolutheit, zur Wonne jenseits aller menschlichen Begriffe.
Daher bedeutet der erste Pfad: BEFREIUNG.
Der zweite Pfad jedoch bedeutet: ENTSAGUNG. Man nennt ihn darum auch den »Leidenspfad«.
Dieser Geheime Pfad führt den Arhan zu unaussprechlichem Seelenleid, zu Schmerz um die lebendig Toten und zu hilflosem Mitleid für die karmisch leidenden Menschen, denn die Wirkung Karmas dürfen die Weisen nicht aufhalten.
Denn es steht geschrieben: »Lehre, alle Ursachen zu vermeiden. Den Wirkungen der kleinen Welle wie auch der großen Gezeitenwoge jedoch mußt du ihren Lauf nehmen lassen.«
Der »Offene Weg« wird dich, erst wenn du sein Ziel erreicht hast, dazu verleiten, den Bodhisattva-Körper zu verschmähen und in den dreifach glorreichen Dharmakāya-Zustand einzutreten. In ihm geraten Welt und Menschen für immer in Vergessenheit.
Der »Geheime Weg« führt auch zu paranirvānischer Wonne – aber erst am Ende zahlloser Kalpas, Nirvānas, verdient und dahingegeben aus grenzenlosem Mitleid und Erbarmen mit der Welt irrender Sterblicher.
Aber wie es heißt: »Der Letzte wird der Größte sein«. Samyak Sambuddha, der Lehrer der Vollkommenheit, gab sein SELBST für die Erlösung der Welt hin, indem er an der Schwelle Nirvānas, des reinen Zustands, stehen blieb.
Du weißt nun Bescheid über die zwei Wege. Dein Zeitpunkt der Entscheidung, du strebsame Seele wird kommen, wenn du das Ziel erreicht und die sieben Pforten durchschritten hast. Dein Denken ist klar. Du bist nicht in trügerischen Gedanken befangen, denn du hast alles gelernt. Die vor dir entschleierte Wahrheit blickt dir unverwandt ins Antlitz und sagt:
»Süß sind die Früchte der Ruhe und Befreiung zum Wohle des Selbst. Noch süßer aber sind die Früchte langer und bitterer Pflichterfüllung, die Entsagung zum Wohle anderer, leidender Mitmenschen«.
Wer ein Pratyeka-Buddha wird, huldigt nur seinem Selbst. Der Bodhisattva aber, der die Schlacht gewann, der den Preis bereits in Händen hält, sagt in seinem göttlichen Mitleid:
»Um anderer willen gebe ich den großen Lohn dahin« – und vollendet so die größere Entsagung.
Er ist ein ERLÖSER DER WELT.
Bedenke! Das Ziel der Wonne sowie der lange Pfad des Leides sind am fernsten Ende. Einen von beiden, o Aspirant des Leides, kannst du in den zukünftigen Zyklen in jedem Augenblick wählen! …
OM VAJRAPĀNI HUM.