Band 3: Karma
Gertrude W. van Pelt
Ist Karma eine blinde Kraft?
Es wurde bereits gesagt, daß wir das Universum als eine organische Einheit betrachten müssen, wenn wir Karma verstehen wollen. Wenn dies nicht der Fall wäre, dann könnten seine unterschiedlichen Bestandteile sich nicht gegenseitig beeinflussen. Nehmen wir als Beispiel wieder den menschlichen Körper. Darin zirkulieren durch ein System von Nerven, Blutgefäßen und anderen Wegen elektro-vitale Kräfte, welche jedes Organ, jede Zelle und jedes Atom miteinander verbinden. Ein Fuß rutscht aus, und sofort arbeiten die Muskeln, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Wenn etwas ins Auge gerät, schließt es sich sofort. Die Reaktion ist perfekt, weil der Körper ein gesamter Organismus ist. Es ist wichtig, sich dessen bewußt zu sein, daß jede Zelle in diesem Organismus ein individuelles Leben ist, das von einem höheren Zentrum beherrscht wird. Im Fall eines Muskels arbeiten beispielsweise seine sämtlichen Zellen zusammen, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzeugen, nämlich die Kontraktion oder die Muskelkraft, und das trifft auch für die Organe zu. So stehen die Zellen stufenweise unter der Kontrolle eines stets höher entwickelten Zentrums bis hinauf zum Gehirn und durch dieses Organ bis hin zu einem unsichtbaren Intelligenzzentrum, das alle Funktionen dieses wunderbaren Organismus vereint und koordiniert und zu einem Organismus macht. Der Körper selbst ist wieder Teil eines größeren Organismus, des Organismus, den alle Menschen gemeinsam bilden. Sie formen zusammen die Menschheit. Darüber befinden sich zahllose Scharen von Wesen in steigendem Entwicklungsgrad, die alle miteinander verbunden sind, die Verantwortung tragen für die unter ihnen stehenden Scharen und wiederum selbst von den höheren Graden unterstützt werden. Über dem Menschen befinden sich Wesen, die zu den Göttern hinaufreichen und noch höher, Super-Götter, Planetengeister, Herrscher über Sonnensysteme und darüber wieder andere, die Gruppen von Sonnensystemen zusammenhalten; immer höher bis zu einem Herrscher über das Universum und noch weiter aufwärts bis zu TAT, dem UNBEKANNTEN, das hinter allen Manifestationen steht. All diese unendlichen Abstufungen von Wesen sind durch Lebensströme verbunden, wie ein Nervensystem, wohindurch sich unentwegt die Lebenskräfte bewegen. Und dieses mächtige Wesen erfüllt den gesamten Raum, ist praktisch der Raum selbst. Wir können auch sagen, daß der Raum aus bewußten Wesen unendlicher Vielfalt besteht, die alle miteinander verwoben und voneinander abhängig sind.
Diese Gedanken werden vielleicht von vielen Menschen, die nicht damit vertraut sind, als fremd empfunden, aber wenn wir intensiv darüber nachdenken, wird uns allmählich klar, daß das Universum nie zusammenhalten könnte, wenn es keine organische Einheit wäre. Chaos würde unter den Himmelskörpern herrschen – die in einem Ozean von Ether zu treiben scheinen, gäbe es nicht die erhabene Ordnung und Harmonie, auf die wir uns verlassen und der wir vertrauen, Körper, welche tatsächlich göttliche Wesen sind. In der Tat ist das Universum das, was auch der Name besagt, eine Einheit – und genau das meinen wir, wenn wir sagen, daß Bruderschaft eine Tatsache in der Natur ist. Diese Identität von Ursprung und Charakter, dieses ‘Eine im Vielen’ und ‘das Viele im Einen’ macht die Wechselwirkung zwischen all den Teilen des großen Ganzen nicht nur möglich, sondern unvermeidlich.
G. de Purucker drückt dies in seinen Fundamentals of Esoteric Philosophy, S. 35 (engl.) folgendermaßen aus:
‘Wenn der Mensch erkennt, daß er mit allem eins ist, was ist, innerlich und äußerlich, hoch und niedrig; daß er eins mit ihnen ist, nicht nur wie die Mitglieder einer Gemeinschaft eins sind, nicht nur wie die Einzelwesen einer Armee eins sind, sondern wie die Moleküle unseres eigenen Fleisches, wie die Atome der Moleküle, wie die Elektronen der Atome eine Einheit bilden – nicht nur eine Verbindung, sondern eine spirituelle Einheit – dann sieht er die Wahrheit.’
Wir sehen, daß gegenseitige Abhängigkeit ein fundamentales Prinzip im Universum ist, und wir werden entdecken, daß dieses Grundprinzip in allen Einzelteilen des universalen Organismus wirksam ist. Wir haben dies am menschlichen Körper gezeigt. Das Atom, das Sonnensystem, die Milchstraße, alle zeigen in ihrer Struktur und ihren Wirkungen die fundamentale Wirklichkeit von Harmonie und gegenseitiger Abhängigkeit als dem zugrundeliegenden und regulierenden Prinzip in allem Leben auf. Jede Handlung, jede Anstrengung, sei diese physisch, mental oder moralisch, hat ihren gebührenden Einfluß auf diese fundamentale Harmonie, auf dieses Gleichgewicht und diese gegenseitige Abhängigkeit. Selbstsüchtige Gedanken oder Taten stören die Harmonie und verursachen Leiden in der nahen oder fernen Zukunft. Die Enttäuschungen, die wir im Leben erleiden und der Kampf, den wir führen müssen, und zwar oft unter ungünstigen Verhältnissen, sind die direkte Folge unseres Handelns in diesem oder einem vorigen Leben.
Über die Frage, warum es Leiden gibt, haben wir alle unterschiedliche Vorstellungen; die Natur kennt jedoch keine wohltätigere Methode, uns auf unsere Begrenzungen aufmerksam zu machen oder auf das Unrecht, das wir begehen, als daß sie uns ermöglicht, die genauen Wirkungen unserer törichten und selbstsüchtigen Handlungen zu erleiden – wie wir auch bis zum letzten Jota und i-Tüpfelchen aus den Resultaten jedes wirklich uneigennützigen Gedankens und jeder wirklich selbstlosen Tat Nutzen ziehen. Dieser ganze Regulierungsvorgang charakterisiert die selbstlose Seite der Natur, die ebenso unpersönlich handelt und reagiert wie Sonne und Regen.
Das unsterbliche Element in uns ist die Quelle unserer höchsten Inspiration und Stärke, denn es birgt die Weisheit und Erkenntnis unserer gesamten Vergangenheit in sich, die unzerstörbare Aufzeichnung unserer Leiden und Inspirationen, unserer Hoffnungen und Träume. Es registriert all unsere Gedanken und Handlungen – und diesen Ursachen, die heute, gestern und in vergangenen Leben erzeugt wurden, entspringen die Wirkungen.
Für das kosmische Buch des Schicksals existiert daher kein schriftführender Engel, der göttlichen Lohn oder höllische Bestrafung zuteilte. Der Mensch selbst ist es, der seine Vergangenheit eingeschrieben hat, der seine Gegenwart lesen und deuten muß und dabei seine Zukunft gestaltet.
– JAMES A. LONG, Bewußtsein ohne Grenzen, S. 18-19
Zwar wird über Karma gesprochen wie über ein Gesetz, es gibt aber keinen Gesetzgeber, kein beherrschendes Wesen, das dieses oder jenes Dekret erläßt. Vielmehr ist Karma eine Eigenschaft, welche der Natur der Dinge innewohnt. Die alte Lehre besagt, daß jede Handlung das Ergebnis einer früheren Ursache ist und selbst wieder die Ursache für eine zukünftige Handlung wird, und so weiter. Diese dauernde Bewegung ist nicht das Resultat von blinden Kräften, sondern ein lebendiger Strom von Veränderungen, die ihren Ursprung in Gedanken, Taten, Emotionen und Gefühlen haben, in Bestrebungen und Begierden aus all den Leben, die zusammen das Universum bilden und es sind.
Wir wiederholen, es gibt keinen Gesetzgeber und dennoch könnten wir sagen, daß es karmische Vermittler gibt. Wer sind sie? Es sind die großen und weisen Wesen, die bewußt ihren Platz im Universum gefunden haben; die so weit evolviert sind, daß man sie in Bezug auf eine bestimmte Stufe oder Ebene als vollkommen bezeichnen kann, und die darum auf dieser Ebene in Harmonie mit dem Universalgesetz arbeiten. Über ihnen gibt es wieder andere und so geht es weiter, ad infinitum.
Es ist selbstverständlich, daß es in diesem geordneten, komplizierten Universum einen Plan gibt, einen Sinn, und daß jede Einheit, die ihr Dasein im Universum hat, ein Teil des Planes ist. Wenn also die Harmonie irgendwo von unentwickelten, lernenden Wesen gestört wird, wirkt eine alles überragende Kraft, die sich der Wiederherstellung der Harmonie widmet. Die Wirkung Karmas ist immer darauf ausgerichtet, die Harmonie wiederherzustellen, aber weil jede Veränderung aus dem Bewußtsein hervorgeht und das Universum nichts anderes ist als verkörpertes Bewußtsein, werden die karmischen Begleichungen letzten Endes von bewußten Wesen hervorgebracht, die auf ihrer Tätigkeitsebene die Gerechtigkeit verkörpern. Der Herrscher über einen Planeten zum Beispiel erfüllt diese Rolle, weil er die Stufe in der Evolution erreicht hat, wo er absolute Kenntnis von allem besitzt, was zu diesem Planeten gehört. Verglichen mit einer höheren Ebene ist er ein Lehrling, aber für die Ebene unter ihm ist er vollkommen. Sein Wissen von dieser Ebene ist eine Art Intuition oder sofortige Einsicht und seine Führung muß mit der Gerechtigkeit und dem göttlichen Plan übereinstimmen. Man sagt, daß die Götter niemals in Karma eingreifen. Sie könnten es auch nicht. Lernende Wesen müssen die Freiheit haben, ihr eigenes Schicksal zu gestalten, was bedeutet, daß ihre Fehler auf sie selbst zurückfallen, denn nur auf diese Weise können sie lernen. Die Menschen bestimmen ihr Schicksal selbst, indem sie aus den verschiedenen Alternativen, die das Leben bietet, wählen, während karmische Vermittler das ausführen, wozu der Mensch sich entschieden hat.
Diejenigen aber, die zu einer höheren Ebene gehören, führen, beschützen und helfen ihren jüngeren Brüdern bei ihrer Evolution. Auf der langen Lebensleiter steht der Höhere zum Niedrigeren wie Eltern zu ihrem Kind. Sie leben, um zu inspirieren, um ihren Nachkömmlingen zu dienen, und in späteren höheren Stadien der Evolution der Menschheit wird diese Verwandtschaft erkannt werden. Selbst die Mahatmas, obgleich sie unterhalb der Ebene der Götter stehen und daher noch Menschen sind, sind im Vergleich zu uns vollkommen. Sie wenden sich nach uns um, um uns zu helfen, wir sind uns dessen ebensowenig bewußt, wie das Kleinkind der wachsamen Fürsorge der Mutter. So wird das Universum durch ein Netz des Mitleids zusammengehalten.
Könntest du göttliches MITLEID austilgen? Mitleid ist kein Attribut. ES ist das GESETZ der Gesetze – ist ewige Harmonie, ALAYAS SELBST; eine uferlose, universale Essenz, das Licht immerwährenden Rechts, die Folgerichtigkeit aller Dinge, das GESETZ ewiger Liebe. Je mehr du eins mit ihm wirst, je mehr du in seinem Sein aufgehst, je mehr sich deine Seele mit dem was ist vereinigt, desto mehr wirst du selbst ABSOLUTES MITLEID werden.
– H. P. BLAVATSKY, Die Stimme der Stille, S. 93